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      Die Tatsache, dass Lewin seine Forschungsanliegen in den USA erfolgreich vorantreiben konnte, hing eng mit den damaligen sozioökonomischen und politischen Entwicklungen zusammen. Die Wirtschaft suchte nach Möglichkeiten, die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu steigern. Auch bei militärischen und bürokratischen Institutionen wuchs das Interesse an psychodynamischen Prozessen, um Arbeitsabläufe zu optimieren und die Effektivität zu steigern.1 Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs galt es allerdings auch, demokratische Grundwerte zu propagieren und zu stabilisieren.

      Jacob Levi Moreno studierte Medizin in Wien und spezialisierte sich dort als Psychiater. 1922 gründet er Stegreiftheatergruppen in Wien und emigrierte bereits 1925 in die USA. Er arbeitete dort zunächst als Gefängnispsychiater. Moreno gilt als der Begründer der Aktionsforschung und der Soziometrie sowie des Psychodramas (vgl. Rechtien, 1997, 45). Es ist sein Verdienst, die Gruppe auch als strategische Ausgangslage für individuelle und gesellschaftliche Emanzipations- und Veränderungsprozesse zu nutzen. In seinem Buch „Who shall survive“ aus dem Jahr 1934 legte er die theoretischen Grundlagen [18] der Soziometrie (dt.: Die Grundlagen der Soziometrie, 1954). Die Soziometrie dient der Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen und personaler Strukturen in Gruppen.

      Ein Beispiel für eine soziometrische Frage, die die Beziehungen in Gruppen untersucht, könnte die Beliebtheitsrangordnung in einer Schulklasse sein. Die Lehrkraft könnte die SchülerInnen fragen, neben wem sie am liebsten sitzen würden. Oder sie könnte die Frage stellen: „Wen würdest du am liebsten bzw. auf gar kein Fall zum Geburtstag einladen?“ Die Ergebnisse lassen sich als Soziogramm grafisch darstellen. Der Einsatz soziometrischer Analysen ist heute ein wichtiges strategisches Element für die Analyse von Organisationen und Institutionen (vgl. Grimm, Krainz, 2011, 48f). Sie bieten gleichsam empirische Daten für Organisationsentwicklungsprozesse.

      1.4.1 Siegmund Heinrich Foulkes (1898-1976)

      Foulkes studierte u.a. in Frankfurt a.M. und arbeitete dort bis zu seiner Emigration 1933 als Psychoanalytiker. Er war Mitglied des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts und passte seinen deutschen Nachnamen Fuchs nach der Immigration nach England der englischen Sprache an. „Dort entwickelte er mit dem ebenfalls immigrierten Soziologen Norbert Elias eine an der psychoanalytischen Methode angelehnten, aber in wesentlichen Aspekten hiervon abgegrenzten, eigenständigen Gruppenansatz, der inzwischen weltweit zu den Standartmethoden psychodynamischer Gruppenarbeit zählt“ (Brandes, 2008, 37).

      Foulkes kannte die Arbeiten Lewins und Morenos und griff deren Erkenntnisse für seine eigene Theorie- und Praxisentwicklung der Gruppenanalyse auf. Er gilt zusammen mit Wilfred R. Bion als Begründer der psychoanalytischen Gruppentherapie. Pines schreibt „Zum ersten Mal fasste ein traditionell ausgebildeter Psychoanalytiker seine Patienten zu einer Gruppe zusammen, um die Kommunikation der Gruppenmitglieder zu beobachten und um ihnen zu helfen, sich besser zu verständigen“ (Pines, 1977, 719).

      Auf der Grundlage seiner Forschungsarbeiten unterscheidet er drei Typen von Gruppen:

      ■ die funktionale Gruppe oder Arbeitsgruppe,

      ■ die natürliche oder Primärgruppe der Familie und Verwandtschaft,

      ■ die psychotherapeutische Gruppe.

      [19] Das Verhalten, das einzelne Mitglieder in Gruppen zeigen, ist geprägt durch die frühen Erfahrungen in seiner Primärgruppe: Auf der Bühne der Gruppe inszeniert sich jeder selbst im biografischen Gewordensein. Nach Foulkes Untersuchungen umfasst der Gruppenprozess fünf Kategorien:

      ■ die aktuelle Ebene,

      ■ die Übertragungsebene,

      ■ die Projektionsebene,

      ■ die Körperebene,

      ■ die primordiale Ebene.

      Bis auf die aktuelle Ebene, die sich auf Ereignisse der manifesten Verhaltensebene bezieht, also das Sichtbare, beziehen sich Übertragungsebene, Projektionsebene, Körperebene und primordiale Ebene auf das Verborgene, Unsichtbare und Unbewusste in Gruppen (vgl. Foulkes, 1978).

      Wilfried Bion war ein britischer Psychoanalytiker, der 1932 in London an der Tavistock Clinic, einer karitativen Einrichtung zur Behandlung von kriegstraumatisierten Soldaten, arbeitete. Nach ihm existieren in jeder Gruppe zwei Gruppen, die Arbeitsgruppe und die Gruppe der Grundannahmen (basic assumption group). Grundannahmen sind unausgesprochene Annahmen, die außerhalb des Bewusstseins liegen. „Bion (1961) hat in seiner auf Freud bezogenen Gruppentheorie … zwei Bereiche des Gruppenprozesses unterschieden: Die Ebene der Arbeitsgruppe bezeichnet die bewusste, sachorientierte Dimension des Gruppenlebens. Die Ebene der irrationalen Grundannahmen besteht aus Inhalten, die im Bewusstseinsfeld nicht gegenwärtig sind, die den Gruppenprozess aber entscheidend beeinflussen“ (Schattenhofer, 1997, 135).

      Bion differenziert zwischen drei emotionalen Zuständen in Gruppen, die maßgeblich die Beziehung zur Gruppenleitung und der Teilnehmenden untereinander bestimmen. „Mit der ,basic assumption‘ hat Bion gruppenspezifische Abwehrmechanismen beschrieben – Kampf und Flucht, Paarbildung, Abhängigkeit vom Leiter, die er als gemeinsame regressive Haltung der Gruppenmitglieder zur Bewältigung (psychotischer) Angst und Unsicherheit auffasst“ (Gephart, 2009, 294). Zu diesen emotionalen Zuständen zählen:

      1. Dependency/counter-dependency: In dieser Phase dominieren eine geringe Initiative der Mitglieder sowie Abhängigkeit versus Ablehnung äußerer Realität, Idealisierung der Leitung und Erwartungshaltung nach Schutz.

      2. Fight/flight: In dieser Phase dominieren Kampf oder Flucht bei starker Inanspruchnahme der Leitung und der Versuch, sich aus [20] vermeintlicher Abhängigkeit zu befreien, sowie die Bekämpfung eines internen oder externen Feindes.

      3. Paring/counter-paring: In dieser Phase dominieren der Wunsch nach Intimität und nach Alleinsein sowie Konzentration auf die Zukunft; die Leitung unterstützt, ermöglicht Arbeitsfähigkeit, Stabilität und Produktivität (vgl. Bion, 1982; 1992).

      Jede der bisher vorgestellten Pionierarbeiten trägt dazu bei, Entwicklungsdynamiken, Konflikte und Krisen, Potentiale und Perspektiven für das Leiten von Gruppen in pädagogischen Praxisfeldern zu analysieren, zu reflektieren und zu gestalten. Der bisherige kurze Überblick lässt sich mit dem Bild eines Eisbergs verdeutlichen: Jede Gruppe enthält Elemente, die sichtbar sind, und Elemente, die verborgen sind (vgl. Schattenhofer, 1997, 136 ff).

      „Von Sigmund Freud stammt der Vergleich des Verhältnisses zwischen Bewusstsein und Unbewusstem mit einem Eisberg“ (Brocher, 2015, 70). Das Eisbergmodell veranschaulicht die Tiefendimensionen einer Gruppe (vgl. Schattenhofer, 2009, 24). Das Sichtbare einer Gruppe bezieht sich bspw. auf Arbeitsabläufe, Arbeitsergebnisse, offen gezeigte Emotionen. Das nur teilweise sichtbare betrifft v.a. die Ebenen der sozialen Interaktionen, Kooperationen sowie Positionierungen und schließt die Dimensionen von Zugehörigkeit, Macht und Einfluss ein (vgl. Schattenhofer, 2009, 26). Das Verborgene einer Gruppe enthält die unbewussten Phantasien der Gruppenmitglieder, ihre Projektionen und Übertragungen auf andere Gruppenmitglieder und die Leitung. Das Eisbergmodell stellt ein Beobachtungsschema zur Verfügung, das sich zum Verständnis von Gruppen als hilfreich erwiesen hat“ (König, Schattenhofer, 2006, 28).

      Da vor allem die unbewussten Prozesse in Gruppen in ihren Wechselbeziehungen von zentraler Bedeutung sowohl für die GruppenteilnehmerInnen als auch die Gruppenleitung sind, werden sie in Kapitel 3 und Kapitel 4 wieder aufgegriffen und erläutert.

      Bruce W. Tuckmann ist der meistzitierte Autor, wenn es um Phasen der

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