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Ulrich Streek, „ist unbewusstes Wissen“ (Streek, 2014, 22). Dieses unbewusste Wissen bildet gleichsam die Tiefendimension gruppeninterner Prozesse.

      [11] Die Relevanz einer professionellen Auseinandersetzung mit solchen unbewussten Interaktionsdynamiken zeigt sich vor allem bei der Leitung von Kinder- und Jugendlichengruppen. Anhand eines Praxisbeispiels aus einer Schulklasse wird in diesem Buch exemplarisch die Bedeutung und Wirkmächtigkeit solcher unbewussten Gruppenprozesse und -phantasien mit ihren Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomen zwischen der Klassenleitung und einer SchülerInnengruppe erläutert.

      Diesen unbewussten Vorgängen und Prozessen widmet sich vor allem die psychoanalytische Gruppentherapieforschung. Sie analysierte die komplexen Wechselbeziehungen zwischen dem Verhalten der Leitung und der Entwicklung der Gruppe, so dass hier empirisch überprüfbare Zusammenhänge vorliegen. Dieser Erkenntnisgewinn führt zu ausgesprochen bedeutsamen und hilfreichen Anregungen für die professionelle Leitung von Gruppen und Teams in pädagogischen Praxisfeldern.

      Auf die Anfänge der sozialpsychologischen Forschung über Gruppendynamik wird hier ebenfalls Bezug genommen, weil deren grundlegende Fragestellungen und Ergebnisse auch heute noch aktuell sind, vor allem bspw. mit Blick auf die verschiedenen – idealtypischen – Phasen in Gruppenprozessen oder auf mögliche psychodynamische Rollen von Gruppenmitgliedern.

      Als Gruppenmodelle in der Tradition der Humanistischen Psychologie werden der gestalttherapeutische Ansatz und die Themenzentrierte Interaktion vorgestellt. Sie werden in der pädagogischen Praxis häufig eingesetzt und bieten vielfältige Anregungen für die Wahrnehmung, Gestaltung und Reflexion der Leitungsrolle sowie deren unterschiedliche Ebenen des Involviertsein in die Gruppenprozessdynamik.

      Der vorliegende Band informiert über einige zentrale Wegbereiter der Theorieentwicklung über Gruppen. Während v.a. Kurt Lewin und Jakob Moreno die Gruppendynamik im Hinblick auf deren Einsatz in Organisationen, Institutionen oder Selbsterfahrungsgruppen erforschten, widmeten sich Siegmund Heinrich Foulkes, Wilfred Bion oder Dieter Sandner primär gruppentherapeutischen Fragestellungen. Bei Ruth Cohn stand die Entfaltung eines autonomen Subjektes mit seiner Interdependenz im sozialen Umfeld im Vordergrund, während Fritz Perls die Selbstaktualisierung bisher unbekannter Potentiale und das Auflösen von Blockaden und Hindernissen ihrer Nutzung anstrebte.

      Das idealtypische Phasenmodell der Entwicklung von Gruppenprozessen nach Bruce W. Tuckmann – als Analyseergebnis der bis 1965 vorliegenden Studien über Gruppen – war grundlegend für weitere Untersuchungen. Psychodynamische Rollen in Gruppen erlauben exemplarisch, das sichtbare Verhalten von Gruppenmitgliedern zu kategorisieren.

      Die professionelle Leitung von Gruppen und Teams beinhaltet immer wieder auch, Konflikte in und mit der Gruppe zu moderieren. „Jede Gruppe steht am Anfang immer wieder vor der Aufgabe, Klarheit über Ziele, [12] Zielhierarchien und Wege zum Ziel zu schaffen“ (Stahl, 2007, 11). Die Kenntnis unterschiedlicher, teilweise aus psychotherapeutischen Gruppenmodellen stammender Systematiken, bietet vielfache Anregungen und erlaubt einen praxistauglichen Transfer auf die pädagogische Gruppenleitung.

      Das Interesse an Gruppen und Teams, vor allem im Kontext ihrer wirtschaftlich nutzbaren Potentiale, führte zu einer Vielzahl organisationspsychologischer Modelle. Deren strategische Ausrichtung unterscheidet sich deutlich von gruppenbezogenen Fragestellungen im Erziehungs-, Bildungs- und Sozialwesen. Da auch dort mittlerweile betriebswirtschaftliche Aspekte zunehmend an Bedeutung gewonnen haben, gibt dieser Band exemplarisch einen kurzen Einblick in die Implementation ökonomisch orientierter Gruppen- und Leitungsmodelle.

      Auch der Missbrauch von Gruppen und deren Instrumentalisierung zur Durchsetzung von disziplinarischen Verhaltensmanipulationen durch Gruppendruck und Gruppenzwang soll trotz ihrer latenten und manifesten Tabuisierung erläutert werden. Ausgehend von den Ideologien der Erziehungs- und Bootcamps wird ein in der pädagogischen Praxis aktuell weit verbreitetes Modell vor allem mit Blick auf seine antidemokratischen Inhalte kritisch analysiert.

      Auch wenn, wie Cornelia Edding bereits 2005 feststellte, heute Gruppen- und Teamarbeit zunehmend auch über das Internet organisiert wird (vgl. Edding, 2005, 17), so bleibt das Leiten von Gruppen und Teams in Bildung und Erziehung keine virtuelle, sondern eine ganz konkrete und anspruchsvolle Aufgabe für Lehrkräfte, PädagogInnen und ErzieherInnen. Unter den Bedingungen von Diversität sowie einer Zunahme an Komplexität und Aufgabenvielfalt in allen pädagogischen Praxisfeldern gewinnt Leitungskompetenz in heterogenen Kooperations- und Netzwerkstrukturen verstärkt an Bedeutung.

      Der Band vermittelt einige grundlegende Wissensbestände, Zusammenhänge, Anregungen und Reflexionsimpulse, um dieser Aufgabe mit Freude, Fachkompetenz und Flexibilität gerecht zu werden. Die kurze Einführung ist mit Blick auf Studierende ebenso wie auf BerufsanfängerInnen in pädagogischen Praxisfeldern verfasst und zielt auf eine Stärkung der handlungsorientierten Befähigung für das Leiten von Gruppen. Jedes Kapitel schließt mit einer Literaturempfehlung, mit der der nur kurz dargestellte theoretische Überblick und die praktischen Beispiele vertieft werden können.

      Gerade weil wir als Gruppenmenschen sozialisiert sind, kann der rational geschulte Blick auf Gruppenprozesse in pädagogischen Praxisfeldern und auf das Leitungsverhalten dazu beitragen, zielführende Fachlichkeit und Arbeitszufriedenheit zu unterstützen.

      Hannover, Dezember 2016

      Birgit Herz

      [13] 1. Kleine Einführung in die Anfänge der Gruppenforschung

      1.1 Einleitung

      Das wissenschaftliche Interesse an Gruppen ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Während die Soziologie das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft untersuchte, die Psychologie und insbesondere die Psychoanalyse das Individuum selbst zum Forschungsgegenstand machte, entwickelten sich als neue, eigenständige Wissenschaftsdisziplinen die Sozialpsychologie und die psychoanalytische Gruppentherapieforschung. Die Forschungsarbeiten ihrer Pioniere werden in diesem Kapitel kurz vorgestellt. Das idealtypische Phasenmodell der prozessorientierten Entwicklung einer Gruppe sowie die neurotische Rollenbesetzung von Gruppenmitgliedern bilden den Abschluss dieses Kapitels. Obwohl die Anfänge der Gruppenforschung mittlerweile über 70 Jahre zurückliegen, bleiben sie immer noch aktuell.

      Im Kontext der Etablierung der Soziologie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin am Ende des 19. Jahrhunderts ist die Forschung über Gruppen ein wesentlicher Teil soziologischer Theoriebildung (vgl. Mills, 1974; Neidhardt, 1983). Die entscheidenden Untersuchungen über psychodynamische Prozesse in Kleingruppen wurden von experimentell arbeitenden Psychologen durchgeführt, die mit ihren Forschungsarbeiten die Sozialpsychologie begründeten. Bevor einige ihrer wichtigsten Pionierarbeiten skizziert werden, wird eine begriffliche Differenzierung aus der Sicht der Soziologie voranstellt.

      Bernhard Schäfers hat in seiner Veröffentlichung über die „Entwicklung der Gruppensoziologie und Eigenständigkeit der Gruppe als Sozialgebilde“ unterschieden zwischen

      ■ Gruppe,

      ■ Team,

      ■ Menge,

      ■ Masse,

      ■ Institution,

      ■ Organisation und

      ■ Assoziation (vgl. Schäfers, 1994).

      [14] Zur Definition von Gruppen

      „Eine soziale Gruppe umfasst eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern (Gruppenmitgliedern), die zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels (Gruppenziel) über längere Zeit in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozeß stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln. Zur Erreichung des Gruppenziels und zur Stabilisierung der Gruppenidentität ist ein System gemeinsamer Normen und eine Verteilung der Aufgaben über ein gruppenspezifisches Rollendifferential erforderlich“ (Schäfers, 1994, 20f). Als Beispiele für Gruppen können Schulklassen, ein autonomes

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