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Erfahrung der Zeit als die lebendige Antwort des sterblichen Menschen auf das sich in der gewährten Weile neu eröffnende Geheimnis Gottes, und indem es auf den Rhythmus der sich gewährenden Zeit eingeht und aus ihm seine eigene Ordnung gewinnt, geht es ein auf die Weise des in der Zeit sich gewährenden Zuspruch Gottes.“86 Gebet und Zeiterfahrung sind somit bei Bernhard Welte zuinnerst verbunden. Ein Nexus, der auch bei Edith Stein begegnen wird, wo ihre geistlichen Texte in den Blick rücken.

      Der 1999 emeritierte Freiburger Professor für Christliche Religionsphilosophie legt in „Das Ereignis des Betens – Grundlinien einer Hermeneutik des religiösen Geschehens“87 eine Zusammenfassung seiner Überlegungen zum Gebet vor.88 Der Schüler und wissenschaftliche Assistent Bernhard Weltes (1956–1959) hat die Rezeption Husserls und Heideggers besonders in der französischen Religionsphilosophie untersucht89 und sich fortgesetzt um die Begegnung mit der jüdischen Religionsphilosophie Franz Rosenzweigs, Martin Bubers und Emmanuel Levinas verdient gemacht.90

      Im Beten ist für Bernhard Casper „der Ernstfall dessen gegeben, worauf das mit Religion Gemeinte zurück geführt werden muß.“91 Die in seiner Monographie vorgetragenen Überlegungen suchen „das Geschehen des Gebetes als das zugänglich zu machen, worin sich das Verhältnis der Transzendenz ereignet“.92 Dazu analysiert und beschreibt er zunächst phänomenologisch das Geschehen der „Aufmerksamkeit“ in seiner zeitlichen Verfasstheit. Dabei ist bedeutsam, dass eine Bewegung des „Sich-selbst-überschreitens“ auf das ursprünglich andere meiner selbst geschieht, das mir als Neues, Wunderbares und Staunenswertes aufgeht. Dieses zeigt sich jedoch nur von sich selbst her und lässt sich nicht als von mir intentional herstellbares Geschehen bewerkstelligen: „Die Aktivität des Sichselbst-überschreitens findet sich also im ursprünglichen Geschehen der Aufmerksamkeit begründet von der Passivität des Angegangenwerdens vom dem, was von sich her ist. […] es geschieht als eine Leistung und Anstrengung von uns selbst, aber als eine negative Anstrengung“, insofern es nur im Modus des Wartens auf „das Andere als das Unverfügbare“ erlangt werden kann.93 Das „andere, worauf ich aufmerksam bin, ist als solches immer das Überraschende, das bislang Unerhörte, das in keiner Weise Vorwegzunehmende, und insofern die Gleichzeitigkeit meiner zunächst scheinbar grenzenlosen Welt Zerbrechende. […] Es bringt Zeit jenseits der mir zunächst möglichen Zeit mit sich: diachron.“94 Durch diesen Einbruch von Diachronie als der Begegnung von zwei Zeitabläufen eröffnen sich dem betenden Menschen neue Lebensräume: „Ich gerate in eine von mir zuvor nicht vermochte Zukunft, die sich mir schenkt: Möglichkeit jenseits meiner Möglichkeiten“.95 Aufmerksamkeit führt so zur Erkenntnis der Wirklichkeit als Gabe, die sich mir unvordenklich schenkt. Die Frage kommt auf: „Was oder wer gibt, daß es die Gabe gibt, und daß es mich gibt, dem sich die Gabe gibt?“. Mit Bezug auf Emmanuel Levinas wird das Gebet von Casper im Zuge dieser Überlegungen als reine Aufmerksamkeit verstanden. Gebet ist ihm daher Ausrichtung auf die geschenkhafte Dimension von begegnender Wirklichkeit: „Denn es zeigt sich als der reine Akt der Aufmerksamkeit auf das, was sich nur geben kann.“96

      In den „Grund- und Grenzsituationen“97 des menschlichen Daseins, in denen die eigene Endlichkeit und die Sorge besonders um den geliebten anderen Menschen virulent werden, vertieft sich diese Aufmerksamkeit. Zugleich damit rückt die Prekarität der menschlichen Verfasstheit als „Versuchtsein und Verfallenheit“98 in den Blick. Es kommen Tendenzen zur „Flucht“99 auf als Ausweichmanöver vor der Frage nach der eigenen Identität und des in eine schon vorfindliche Geschichte gestellte „etwas-mit-sich-anfangen-müssens“. Zu Letzterem schreibt Casper: „Indem ich nun aber auf das Wunder meines eigenen Daseins aufmerksam werde und zugleich auf meine Sterblichkeit, werde ich auch darauf aufmerksam, daß ich mit mir selbst in meiner endlichen Zeit, in der ich da bin, etwas anfangen muss. […] Ich bin mir aufgegeben. Und niemand kann mich mir abnehmen. In diese Not finde ich mich. Es ist dies die Not des sterblichen Sichzeitigen-müssens selbst. Und wenn es eine Grund-Not gibt, die beten lehrt, dann ist es diese. […] Diese Grund- und Grenzeinsicht, daß ich als Sterblicher mir selbst aufgeben bin und mich hier niemand vertreten kann.“100

      Der andere Mensch, der in der sozialen Begegnung unweigerlich nahe kommt, wird dem Subjekt in seiner Situation, etwas mit sich anfangen zu müssen, zum Ort, an dem ein unbedingter Anspruch begegnet. Beten heißt, dieses Anspruchs eingedenk und inne zu sein: „Unser Aufmerksamsein, das ein Zeit-haben inmitten unseres Unszeitigens bedeutet, hat nun aber eine merkwürdige Gestalt. Es findet sich herausgefordert durch den Anspruch, der unvordenklich und unausdenklich ist. Beten bedeutet so, Zeithaben für das, was in keine Zeit eintritt und doch all unser Zeithaben richtet. Beten bedeutet Zeithaben für jenen unvordenklichen Anspruch, der mich im Daß der Dinge und mehr noch im Dasein des anderen Menschen angeht oder vielmehr mich immer schon anging. Beten bedeutet, dieses Anspruchs eingedenk zu sein, der mich in jeder mitmenschlichen Begegnung und in jeder Verwunderung über das Daß der Dinge schon getroffen hat.“101 Dieser fundamentale Anspruch weist nochmals über den je anderen Mitmenschen unendlich und unabschließbar hinaus, was diesen aber gerade nicht relativiert, sondern einsetzt in eine besondere Bedeutung. Der Mitmensch der sozialen Begegnung wird zum Erfahrungsort und zur Stelle, in der das Berührt- und Betroffenwerden von Tranzendenz geschichtlich einmalig und je neu geschieht. Der betende Mensch gerät nach Casper, wo er dieser Bedeutung ansichtig wird, in Aufnahme der Diktion von Emmanuel Levinas in die „Spur der ‚Herrlichkeit des Unendlichen‘ “. Es ist eine Spur, die je neu anlockt, dabei aber immer uneinholbar voraus bleibt: „Was dieses Sprechen von der ‚Herrlichkeit des Unendlichen‘ anzeigt, wird zugänglich allerdings nur, wenn wir uns von einem gegenständlich vorstellenden Denken lösen und ganz aus dem Geschehen der Zeitigung des Daseins selbst heraus denken. In dieser Zeitigung, in der ich mir ständig vorweg bin, bezeugt sich der unvordenkliche und unausdenkliche kategorische Anspruch als der, der mein Mich-zeitigen richtend in Gang hält. Und Richten geschieht hier aber zugleich als ein Orientieren und Aufrichten. Der Anspruch erweist sich derart als Ermöglichung des Gehens meines Weges, insofern dieser ein sterblicher menschlicher Weg ist. Im Gehen des Weges selbst bezeugt sich der unendliche Anspruch als solcher, der in dem Augenblick, in welchem wir ihn zu fassen suchen, sich uns schon entzogen hat. Aber er hat in seinem für uns unfaßbaren Vorübergang seine Spuren in uns hinterlassen. Deren Wirkmächtigkeit erweist sich darin, daß wir auf unserem Weg des nach Menschlichkeit suchenden Etwas-mit-uns-selbst-beginnens weitergelockt werden; und darin, daß zugleich richtendes Licht auf unser Uns-gezeigtigt-haben fällt. Derart finden wir in unserem Uns-zeitigen selbst die Spuren der Herrlichkeit des Unendlichen.“102

      Im Rahmen dieses Verständnisses sucht Bernhard Casper zunächst danach, das betende Geschehen hinsichtlich seiner Sprache103 zu erhellen. Er weist in diesem Zusammenhang auf die Begründung der gesamten Sprache im Gebetsgeschehen hin. Dazu führt er aus, dass sich „die Sprache selbst in ihrer Wurzel als Beten erwies. Insofern die Sprache ursprünglich nämlich zwischen dem Anderen und mir geschieht und wir uns derart hoffend zeitigen, geschieht sie ursprünglich als vertrauend-bittendes Sichselbstüberschreiten meiner selbst.“104. Sprache des Gebets ist für Bernhard Casper je persönliche, individuelle Sprache und Ausdruck der Transzendenzfähigkeit des Menschen: „Man darf sagen, daß Menschen nirgendwo so als sie selbst sprechen wie dort, wo sie beten. […] Dieses Selbst-sprechen geschieht […] als ein Sich-zur-Sprache-bringen jener Zeitigungssituation selbst […].“105 Das Verstummen als gefülltes Schweigen ist für Casper die Weise, dem unergründlichen Grund zu entsprechen: „Da unsere Sprachhandlungen, in denen wir uns etwas zu verstehen geben, zunächst aber immer welteinräumende, benennende Sprachhandlungen sind, kann das Sprechen, welches hier ent-spricht, zunächst nur in einem Verstummen bestehen, in einem beredten Schweigen. Wozu ich hier in das Verhältnis gerate, das entzieht sich jeder repräsentierenden Vergegenwärtigung. Es sprengt jede transzendentale Apperzeption.“106 Casper weist auf die Grenze hin, an die die Sprache des Gebets unweigerlich stößt: „In der Sprachhandlung des Betens gebe ich mich selbst frei an den unvordenklichen und deshalb auch von keiner Sprache einzuholenden Abgrund, für den alle Sprache nur eine Metapher sein kann, – den Abgrund,

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