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Katzenelson rückt jedenfalls eine Harfe in den Blick, die gänzlich anders gestimmt ist. Entstanden ist die Lyrik des weißrussischen Dichters und Dramatikers vom 3.–5. Dezember 1943 im KZ Vittel. Ein Jahr vor seinem Tod im KZ Auschwitz formuliert er: „Sing, Nimm / die hohle, ausgehöhlte Harfe. Qual / Durchpulst / die dünnen Saiten. Wirf die Finger, bang / Wie Herzen schwer, / auf sie. Dann: sing ein letztes Mal. / Sing. Sing / des letzten Juden letzten Grabgesang.“14 Eine heutige Rede vom Gebet der Edith Stein wird vor dem Hintergrund des Dargelegten dann in einem unvermeidlichen Sinne falsch und insgesamt abwegig, wenn sie obigen, von Leid geprägten, schrillen Ton ausblendet und von ihm absieht. Denn er mischt sich für jeden heutigen Interpreten unabweisbar in das, was bei Edith Stein in den geistlichen Texten Ausdruck sucht und vor ihrem Tod in Auschwitz zu Papier gebracht wurde. In jedem Fall scheint dem Verfasser der vorliegenden Studie unmöglich, dass ein interpretierendes Interesse auf die geistliche Lyrik der Karmelitin hinblickt, ohne stets den geschichtlichen Kontext zu beachten, in dessen Licht sie dem heutigem Auge „nach Auschwitz“ unumgänglich erscheinen und zu Gesicht kommen muss. Daher wird den Bedingungen einer Gebetstheologie nach Auschwitz im Verlauf der Studie Augenmerk geschenkt. Vorblickend kann für die Studie insgesamt festgehalten werden: Das Beten Edith Steins in Worten darzustellen und auszulegen, das wird wesentlich und zuinnerst zurückhaltend geschehen müssen, in einer Sprachgeste diskreten Interesses. Gerade darin jedoch kann die sprachliche Darstellung sich als geschichtlich situiert und sensibilisiert erweisen. Überschwängliches Pathos ist dieser Sprachgeste fremd. Ein sprachlicher Duktus, der den geschichtlichen Standort vergisst, wird unmöglich. Was Paul Celan für die lyrische Rede formuliert, das bleibt auch für die in dieser Studie gesuchte theologische Rede beachtenswert: „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren; ja, trotz allem. Aber sie musste hindurch gehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Antwort für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‚angereichert‘ von all dem.“15

      Eine Gebetstheologie, die auf Edith Stein hinblickt, ist somit zu einer „verhaltenen“ Weise des Sprechens gerufen, die gerade darin geschichtlich „angereichert“ in Erscheinung tritt. In dieser Frage kann Bernhard Welte bezüglich der theologischen Diktion als Modell gelten. An seinem Werk fällt auf, dass in seiner philosophischtheologischen Rede das Moment der „Verhaltenheit“ das Arrangement seiner Worte und Gedanken wesentlich prägt. Dieses Moment scheint mir eine sprachliche Geste der Diskretion zu sein, die aus der Berührung mit der menschlichen Verfasstheit und deren Charakter eines Geheimnisses ebenso herrührt wie aus der Nähe zum Mehr- als-Menschlichen. Insofern ist es eine ursprünglich „fromme“, von Ehrfurcht orientierte Sprachform, die im Werk und Vortrag Bernhard Weltes erkennbar wird. Bernhard Casper bemerkt zu seinem Sprachstil: „Es ist sicher einer der wichtigsten Leistungen Bernhard Weltes, daß er einen neuen Stil des theologischen Denkens und Sprechens geschaffen hat. Wir können diesen Stil den Stil der Verhaltenheit nennen. Oder auch den Stil der Scheu. Sprechen geschieht hier so, daß es in dem, was es vorbringt, zugleich Zeugnis ablegt von dem Verhältnis des Sprechenden zu dem unendlichen und die Geschichte einfordernden Geheimnis, von dem der Sprechende zu sprechen hat.“16 Darin darf eine Entsprechung zu Edith Stein gesehen werden. In ihrem Kommentar zur geistlichen Lyrik ihres Ordensvaters Johannes vom Kreuz schreibt sie: „Die Seele ist der Nacht entronnen. Was nun in ihr vorgeht, das ist viel mächtiger, als alle Worte es sagen können.“17 Daraus ergibt sich für die Karmelitin: „So können auch wir nur mit heiliger Scheu diesen göttlichen Geheimnissen im Innersten einer Seele nahen.“18 Meine Studie versucht in allen Worten und Überlegungen dieser Scheu nicht im Wege zu stehen, sondern sie vielmehr zu artikulieren und einen Sinn für ihre wertfühlende Bedeutung und Angemessenheit zu wecken.

      Dass eine noch näher zu qualifizierende Rede vom Gebet überhaupt möglich ist, und zwar auch eingedenk dessen, was in den Lagern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geschehen ist, das legitimiert vor allem unserer Autorin selbst. Sie selbst ist es, die noch in Gefangenschaft – täglich bedrängt von unsäglichem Leid bei sich und anderen – vom Gebet schreibt, und zwar ihrem eigenen. Hastig geschrieben sind entsprechende Sätze aus der Baracke 36 im Lager Westerbork das letzte schriftliche Zeugnis von ihr, das heute noch erhalten ist. Auf einem kleinen Zettel, flüchtig an die Priorin in Echt adressiert und erkennbar in Eile geschrieben, bittet sie am 6. August 1942, also drei Tage vor ihrem mutmaßlichen Tod in einer Gaskammer: „Ich hätte gern den nächsten Brevierband (konnte bisher herrlich beten)“.19

      Das Adjektiv „herrlich“ liest man mit nachdenklicher Beachtung. Umso mehr, wenn man im Blick behält, dass die Ordensfrau zur Zeit der Abfassung dieser Zeilen ein tief trauernder Mensch war, dem die Aporie der Gefangenschaft hellsichtig einleuchtete. Einer Mitinhaftierten im Lager Amersfoort erscheint die Karmelitin in jenen Tagen gar wie eine „Pieta ohne Christus“. Johannes Hirschmann SJ, der Edith Stein im Karmel Echt in den Jahren vor ihrer Verhaftung wiederholt getroffen hatte, gibt diese Zeugenaussagen wieder: „Es gibt einige Berichte von letzten Begegnungen mit ihr im holländischen Konzentrationslager. Zwei Worte sind mir dabei vor allem unvergesslich geblieben. Das erste Wort von dem Eindruck, den sie im Lager machte: Viele der jüdischen Mütter, die mit ihr verhaftet worden waren, lebten ganz in der Not und Verzweiflung jener Tage – so sehr, daß sie fühllos wurden angesichts des Leids ihrer eigenen, mit ihnen im Lager gequälten Kinder. In dieser Situation, da übernahm diese beschauliche Schwester jene kleinen alltäglichen Dienste an Menschen in Not und Verzweiflung, die selbst in solchen Stunden das Zeichen und die Bewährung großer Liebe sind. Ein zweites Wort sagte eine Frau von dem Eindruck, den sie damals auf sie machte: Sie kam ihr vor wie die Pieta unter dem Kreuz, aber ohne den toten Sohn auf dem Schoß.“20

      Beim Wort „Pieta“ schwenkt der Blick des posthumen Betrachters von ihrem Todesjahr 1942 etliche Jahre zurück und an einen anderen Ort. In den Jahren 1928 bis zum Eintritt in den Karmel betete die jungen Edith Stein wiederholt stundenlang vor einer Pieta, und zwar dem Gnadenbild in der Benediktinerabtei Beuron.21 Könnte es sein, dass etwas von diesem Beuroner Bildnis, von dieser Imago einer trauernden Mutter mit ihrem Kind im Schoß, im Leben der Edith Stein geistgewirkte Gestalt angenommen hatte? Dann träfe für diesen Menschen zu, was Heinrich Spaemann formuliert: „Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt. Und wir kommen, wohin wir schauen.“22

      Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch, auf die betende Erscheinung der Edith Stein zu schauen. Sie ist geleitet vom Anliegen, die dabei erblickte Kontur im Lichte der sie auslegenden, sinndeutenden Horizonte zu verstehen, und von dort aus die Entfaltung ihrer Gebetsexistenz aufzuweisen. Im Zuge dieser Betrachtung mag sukzessive die geistliche Gestalt ihres betenden Menschseins zu Gesicht kommen. Wo das gelingt, geleitet die Lektüre dieser Untersuchung in innere Nähe zu den eingangs angeführten Konzertbesuchern. Analog zu diesen tritt im Durchgang durch die Sichtung wesentlicher Facetten ihres Betens etwas nahe, das nicht in den einzelnen Gebetsmomenten aufgeht, wenn es sich auch in allen je neu zu Wort meldet. Es begegnet schließlich noch im Verschwinden aller Artikulationen ihres Betens, das im Tode vollends geschieht, etwas, das in allen Einzelaspekten den Charakter einer bedeutungserfüllten Spur aufweist. In diese Spur zu geraten, das sei der Lektüre der nachfolgend versuchten Darstellung des Betens im Leben der Edith Stein gewünscht.

      1 Im Folgenden wird aus Gründen der Leserfreundlichkeit nur noch die männliche Form verwendet.

      2 Stein, E.: „Ich bleibe bei Euch …“, in: Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 19. Edith Stein. Geistliche Texte II. Bearbeitet von S. Binggeli, unter Mitwirkung von U. Dobhan und M. A. Neyer, Freiburg im Breisgau 2007, S. 179–182, hier S. 182. Die Formulierung „stammeln“ erinnert an den „Geistlichen Gesang“ des Johannes vom Kreuz. Er formuliert: „ein ‚ich-weiß-nicht-was‘, das sie ständig stammeln“ (CA 7). Johannes vom Kreuz. Der Geistliche Gesang (Cántico A).Vollständige Neuübertragung. Gesammelte Werk Bd. 3. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD, Barbara Henze, Elisabeth Peeters OCD, Freiburg 1997, S. 70. Das Wortspiel, in dem kunstvoll Stammeln und Sprechen verbunden werden, weckt im Spanischen Anklänge an Stottern. Edith Stein gelang eine meisterhafte

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