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und wurde sehr unruhig. Bei einer neuerlichen Visite reagierte unsere Ärztin sofort und verabreichte die nötigen Medikamente. Herr P. wurde wieder ruhiger und schlief ein wenig. Am frühen Nachmittag spitzte sich die Situation zu. Der Patient wurde immer unruhiger, ständig fuchtelte er mit seinen Armen durch die Luft und begann damit, sich jedes Mal an mich zu klammern, wenn ich bei ihm war. Seine Worte waren inzwischen nicht mehr zu verstehen. Wieder kam unsere Frau Doktor und wir besprachen, was zu tun sei. Es war unser Ziel, dass Herr P. möglichst schmerz- und angstfrei sterben konnte. Es war nun abzusehen, dass sein Tod innerhalb kurzer Zeit, vielleicht sogar innerhalb der nächsten Stunden eintreten würde. Am späteren Nachmittag war ich fast ständig im Zimmer von Herrn P. Manchmal hielt ich ihn wie ein Baby in meinen Armen, während sich sein Oberkörper aufbäumte und er mit weit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen seine Fingernägel mit aller Kraft in meine Arme bohrte. Es waren auch für mich schlimme Stunden, denn ich konnte nichts anderes mehr für diesen Mann tun, als da zu sein und diese Stunden mit ihm gemeinsam überstehen. Das Gesicht des Sterbenden war nun meist zu einer Fratze verzerrt und ich konnte nichts gegen seine Unruhe tun. Häufig musste ich seinen Körper lagern, damit er es halbwegs bequem hatte. Kurz vor 18.00 Uhr begann sich Herr P. endlich zu entspannen und ruhiger zu werden. Ich verließ müde und abgekämpft sein Zimmer, um noch rasch zu meinen anderen Patienten zu gehen und danach die notwendigen schriftlichen Arbeiten zu erledigen. Kurz darauf hatte ich das Gefühl, ich müsste nun doch noch einmal zu Herrn P. gehen. Leise betrat ich sein Zimmer und setzte mich neben sein Bett. Er lag nun völlig entspannt und ruhig da. Ich wusste plötzlich, dass er sehr bald, vermutlich innerhalb der nächsten Minuten, versterben würde, also nahm ich wieder seine Hände in meine und blieb bei ihm sitzen. Ich sagte ihm, dass ich ihn nicht alleine lassen würde und er keine Angst haben müsse. Bald darauf hörte das Herz von Herrn P. für immer auf zu schlagen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte er nun endlich seinen Frieden gefunden. Der Kampf, sein Kampf, war nun endlich ausgefochten.

      Heute, einen Tag nach dem Versterben des Herrn P. sitze ich hier und schreibe diese Zeilen. Ich habe Nachtdienst und nutzte die Zeit zwischen meinen Rundgängen auf der Station und den üblichen Routinearbeiten dafür. Ich bin froh und auch dankbar, dass ich den gestrigen Tag überstanden habe und dass ich heute niemandem bei seinem Sterben beistehen muss. Dafür würde mir im Moment die nötige Kraft fehlen.

      Sterben ist, das wissen wir, untrennbarer Bestandteil jeden Lebens. So wie jeder Mensch sein einzigartiges Leben lebt, so stirbt auch jeder Mensch seinen einzigartigen Tod. Die Situationen Sterbender sind stets individuell, je nach Alter, Lebensgeschichte, Erfahrungen, erlernten Strategien, sozialem, kulturellen und religiösen Umfeld, Art der Erkrankung, Symptomen und Krankheitsstadium. Bei der Begleitung, Betreuung und Pflege von Menschen in der letzten Lebensphase ist es notwendig, Sterben als Lebensprozess anzuerkennen. Die Selbstbestimmung der Betroffenen muss so lange wie möglich aufrechterhalten werden, Sterbende dürfen nicht entmündigt werden. Damit sie sich nicht als hilflos in ihrer Abhängigkeit fühlen, ist es wichtig, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und zu erhalten. Professionell Pflegende ermöglichen es ihren Patienten, ihre Eigenarten zu bewahren und respektieren Sonderwünsche. Sie nehmen Gefühlsausbrüche, Wut oder Aggression nicht persönlich, sondern betrachten diese Gefühle als Ausdruck der Auseinandersetzung des Sterbenden mit dem nahenden Tod. Besonders in den letzten Stunden berücksichtigen die Pflegenden die Wünsche der Sterbenden, beispielsweise die Benachrichtigung von Angehörigen oder die Erfüllung religiöser Bedürfnisse.

      Die Betreuung und Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden in einer Institution des Gesundheitswesens erfordert vom Personal nicht nur die nötige fachliche Kompetenz, Engagement und reibungslos funktionierende Teams, sondern vor allem menschliche Qualitäten. Wir brauchen nicht nur eine fundierte Ausbildung, sondern auch Lebens- und Berufserfahrung, Mut, genügend Zeit, die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit, Mitgefühl und echtes Interesse an unseren Mitmenschen, wenn wir Sterbenden hilfreich beistehen wollen. Welchem Patienten nützt schon der fachlich erstklassig qualifizierte Mitarbeiter, egal ob Arzt, Pflegender, Seelsorger oder Therapeut, wenn dieser menschlich gesehen wenig zu geben hat? Wenn jemand schwerkrank ist, Schmerzen und Angst hat, vielleicht sogar um sein Leben fürchtet, sind vor allem menschliche Qualitäten von der Gruppe der medizinischen Helfer gefordert. Medizinisches und pflegerisches Wissen alleine reichen hier nach meiner Ansicht nicht aus.

      Sie und ihre Angehörigen wollen von kompetenten Fachleuten betreut werden. Sie wünschen sich aber auch, dass ihnen diese Fachleute als Menschen begegnen und sie als Personen wahrnehmen. Sie wünschen sich Einfühlungsvermögen, Zuwendung und Anteilnahme – eine Haltung der Betreuenden. Eine freundliche Stimme, ein Lächeln, ein fröhliches Gesicht; dies sind Lichtblicke für Patienten und Angehörige. Sie schätzen Betreuende, die sich vorstellen, sie begrüßen, sich verabschieden und auch einmal über alltägliche Dinge reden. Für Patienten und auch ihre Angehörigen ist es hilfreich, von lieben und netten Menschen mit guten Umgangsformen betreut zu werden. Unfreundlichkeit erleben sie als verletzend. Betreuung umfasst natürlich mehr als lieb und nett sein. Fehlen diese Eigenschaften, wird eine gute, partnerschaftliche Beziehung zwischen den Patienten, Angehörigen und Betreuenden gefährdet. Gute Umgangsformen, Freundlichkeit und Fröhlichkeit sind unbedingt notwendige Voraussetzungen für eine gute Betreuung. Betreuende, die auch im oft hektischen Spitalalltag diese Voraussetzungen erfüllen, erfüllen hohe Anforderungen. Es reicht allerdings nicht, wenn Betreuende ein freundliches Gesicht aufsetzen. Die guten Umgangsformen, Freundlichkeit und Fröhlichkeit müssen fest in Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen und Respekt verwurzelt sein. Rücksichtsvolle, einfühlsame Betreuende zeigen Verständnis für Patienten und Angehörige, weil sie sich gedanklich in ihre Situation versetzen können. Solche Betreuende werden als engagiert, verfügbar und als gute Zuhörer erlebt. Sie sind fähig, Ungesagtes zu spüren und adäquat zu reagieren. Zudem respektieren diese Betreuenden alle Patienten und Angehörigen gleichermaßen als Mitmenschen, unabhängig von ihrer sozialen Stellung, ihrer Herkunft oder Krankheit.19

      In Hospizen ist es unumgänglich, den ganzen Menschen mit all seinen physischen und psychischen Bedürfnissen wahrzunehmen und nicht nur seine Erkrankung zu sehen. In einem Hospiz geht es nicht um Lebensverlängerung um jeden Preis, sondern um die Lebensqualität der verbleibenden Zeit. Sterben bedeutet in einem Hospiz, Leben bis zum letzten Atemzug.

      Ich habe Herrn E. damals auf unserer Station aufgenommen. Er war 82 Jahre alt, litt an Lungenkrebs und kam aus einem Krankenhaus zu uns. Von den vorher geführten Telefonaten wussten wir, dass unser neuer Patient im Sterben lag. Es sollte ihm laut Auskunft des Krankenhauses so schlecht gehen, dass er nicht mehr ansprechbar sei, wahrscheinlich nicht einmal die nächsten Tage überleben würde. Herr E. befand sich, wie angekündigt, in sehr schlechter körperlicher Verfassung. Ich brachte ihn gemeinsam mit den Rettungsleuten in sein Zimmer, und wir legten ihn in sein Bett. Der arme Mann war tatsächlich nicht ansprechbar, reagierte kaum, weder durch Worte, Mimik oder Gestik. Er öffnete nur manchmal ganz kurz seine müden Augen.

      Immer wenn wir einen neuen Patienten auf unserer Station aufnehmen, kümmert sich die zuständige Schwester so lange um ihn, bis er alles hat, was er braucht, egal ob dies ein paar Minuten oder auch ein paar Stunden dauert. Ich lagerte Herrn E. also zuallererst einmal bequem, erzählte ihm dabei, wo er nun war und räumte seine persönlichen Dinge in den Schrank. Er war so erschöpft, dass er fast den ganzen Tag verschlief. Meine Kollegin und ich sahen oft nach ihm, aber er rührte sich kaum. In den kommenden Tagen änderte sich nichts an dem Zustand von Herrn E. Er schlief meistens und reagierte kaum, wenn wir ihn ansprachen. Einige Tage später allerdings war er wieder ansprechbar. Wir nahmen uns sehr viel Zeit für seine Pflege, und überraschenderweise erholte er sich soweit, dass er bald wieder sitzen und essen konnte. Aber es sollte noch besser kommen. Herrn E.’s Gesundheitszustand verbesserte sich im Laufe der nächsten Wochen soweit, dass er sogar sein Zimmer verlassen konnte – und zwar bald auf seinen eigenen Beinen. Es war einfach großartig zu sehen, wie gut es ihm plötzlich wieder

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