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Je mehr ein Mensch an die Materie gebunden ist, umso dichter ist der Verbindungsstrang der Seele mit dem Körper. Die Einstellung zum Tod kann also mit entscheidend sein, wie leicht oder schwer jemand stirbt.14

      Schwerkranke, sterbende Menschen müssen sich mit all ihren Ängsten, Verlusten, Hoffnungen, vielleicht Schmerzen, dem drohenden Verfall ihres Körpers, entsprechenden Beeinträchtigungen und der Gewissheit, dass die verbleibende Lebensspanne begrenzt ist, auseinandersetzen.

      Sterbeforscher (Thanatologen) untersuchen, ob und wie sich sterbende Menschen mit dem Tod auseinandersetzen. Sie glauben, bestimmte Muster im Sterbeprozess von Menschen erkannt zu haben und beschreiben diese in Form von Phasenmodellen.

      Der Psychiater A. Weisman beispielsweise beschreibt drei Phasen, die ein unheilbar Kranker vor dem nahenden Lebensende durchschreitet, der Psychiater, Verhaltens- und Sozialwissenschaftler E. Pattison beschreibt drei „große Abschnitte“ im Sterbeprozess, der Krankenhausseelsorger H. Zielinski bestätigt die Phasen von Kübler-Ross, bezeichnet allerdings nach seinen Erkenntnissen die letzte Phase als religiöse oder metaphysische Phase. Der Arzt A. Kruse vertritt die Ansicht, dass es ganz unterschiedliche Verlaufsformen in der Auseinandersetzung mit dem Sterben gibt, die von der Biografie des Sterbenden mit beeinflusst werden.15

      Die internationale Hospizarbeit wurde nachhaltig durch die Arbeit der in der Schweiz geborenen und später in den USA lebenden Psychiaterin Dr. Elisabeth Kübler-Ross beeinflusst. Sie gilt als Begründerin der Sterbeforschung, da ihre Beobachtungen den Grundstein der heutigen Erkenntnisse über die Situation Sterbender darstellen. Ihr Ziel war es, von Sterbenden zu lernen, welche Hilfe sich Sterbende erhoffen und wie man mit ihnen umgehen soll. Zu diesem Zweck führte sie Interviews mit unheilbar kranken Menschen. In diesen Gesprächen wurden die Betroffenen direkt auf ihre Gefühle und Gedanken zu Sterben und Tod angesprochen. Von 200 Patienten nahmen 198 diese Möglichkeit zur Aussprache an. Aus dieser Arbeit entstand 1969 ihr erstes Buch – „Interviews mit Sterbenden“. Sie formulierte darin die „Stadien des Sterbens“ (Verleugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Zustimmung). Die Kernbotschaft von Kübler-Ross an „Begleiter“ in ihren unzähligen Vorträgen und Workshops rund um den Globus war, dass die Helfenden zuerst ihre eigenen Ängste und Lebensprobleme so weit wie möglich klären müssen, ehe sie sich Menschen am Lebensende hilfreich zuwenden können. Für ihre Leistungen zwischen 1974 und 1996 wurden Kübler-Ross 23 Ehrendoktorate an verschiedenen Universitäten und Colleges verliehen, sie erhielt über 70 nationale und internationale Auszeichnungen und wurde 1999 vom Nachrichtenmagazin TIME zu den „100 größten Wissenschaftlern und Denkern“ des 20. Jahrhunderts gezählt. Dr. Kübler – Ross verstarb 78-jährig im August 2004 in Scottsale im US-Staat Arizona.

      Kübler-Ross vertrat die Ansicht, dass der sterbende Mensch verschiedene Phasen durchleben muss, um seine Krankheit und endlich seinen Tod zu begreifen. Sie entwickelte aufgrund ihrer Beobachtungen bestimmter Verhaltensmuster Sterbender ihr berühmtes Fünf-Phasen-Modell, das wohl jedem professionell Pflegenden ein Begriff ist. Demnach durchlaufen sterbende Menschen folgende Phasen im Wechsel:

      Die Phase der Verweigerung: „Nein, ich nicht“. Kübler-Ross sagt, Verweigerung ist wichtig und notwendig, denn sie trägt dazu bei, für das Bewusstsein des Patienten die Erkenntnis zu lindern, dass der Tod unvermeidlich ist.

      Die Phase von Zorn und Ärger: „Warum ich?“ Zorn ist nach Kübler-Ross nicht nur erlaubt, sondern unvermeidlich. Die Tatsache, dass andere gesund und am Leben bleiben, während er oder sie sterben muss, stößt den Patienten ab. Gott ist ein besonderes Ziel für diesen Zorn. Er wird als derjenige angesehen, der das Todesurteil nach Gutdünken verhängt.

      Die Phase des Verhandelns: „Ja, ich, aber … “ Patienten akzeptieren die Tatsache des Todes, versuchen aber, über mehr Zeit zu verhandeln. Meist verhandeln sie mit Gott – sogar jene Menschen, die zuvor nie mit Gott gesprochen haben.

      Die Phase der Depression: „Ja, ich“. Zuerst trauert der Sterbende um Vergangenes, dann tritt er in ein Stadium der „vorbereitenden Trauer“ ein und bereitet sich auf die Ankunft des Todes vor.

      Die Phase der Hinnahme: „Meine Zeit ist nun sehr kurz, aber das ist in Ordnung so“. Kübler-Ross beschreibt dieses endgültige Stadium als „nicht ein glückliches Stadium, aber auch kein unglückliches. Es ist ohne Gefühle, aber es ist keine Resignation, es ist vielmehr ein Sieg“.16

       Der Tod schockiert uns nicht, solange wir darüber nur in einem Buch lesen oder ihn philosophisch vom bequemen Sessel aus diskutieren. Die Gefühle der Machtlosigkeit und Isolierung entspringen unserem ganzen Wesen und nicht bloß unseren intellektuellen Vorstellungen. Das Problem des Todes erreicht im Allgemeinen nicht das Zentrum unseres Seins. Nur wenn es „mein“ bevorstehender Tod oder der bevorstehende Tod von jemandem ist, den ich liebe, spüre ich den schmerzenden Stich des „Hungers nach Leben“. Die Seele dessen, der von seiner Anhänglichkeit ans Leben gefoltert wird, liegt in Qualen; diese Foltern gehen durch unser ganzes Sein und lassen uns in der einen Minute bis ins Herz erschauern und im nächsten Moment in Fieberschweiß ausbrechen. Das ist unser verzweifelter Kampf: uns am Leben festzuklammern, während wir über den Rand des Todes gleiten. Hier liegt das Selbst im Kampf mit dem Nicht-Selbst. Die konkrete Möglichkeit unseres eigenen unmittelbar bevorstehenden Todes ist ein derartiger Schock, dass unsere erste Reaktion das Verleugnen sein muss. 17

      Phasenmodelle erscheinen plausibel, keines von ihnen liefert allerdings immergültige Regeln. Die Modelle können Pflegenden und Sterbebegleitern zum grundlegenden Verständnis von Abläufen dienen, denn Sterben ist in jedem Fall als individuell zu betrachten. Elemente der Phasenlehren können aber sehr gut genutzt werden, um Sterbende und ihre Bedürfnisse besser verstehen zu können.

      Es ist 18.45 Uhr. Ich sitze aufgewühlt, müde und doch gleichzeitig hellwach am Bett von Herrn P., der vor wenigen Momenten verstorben ist. Ich bin noch gar nicht in der Lage, die vielen Eindrücke dieses für mich sehr anstrengenden Arbeitstages, der größtenteils der Begleitung von Herrn P. gewidmet war, zu erfassen. An meinen Armen sind viele Abdrücke von den Fingernägeln meines Patienten zu sehen. Er hatte sich an diesem Tag, dem letzten seines Lebens, mehrmals aufgebäumt, sich mit aller Kraft in meinen Armen und Schultern festgekrallt und seine Fingernägel dabei tief in mein Fleisch gegraben. Die Abdrücke sind inzwischen ein bisschen angeschwollen, rot und die verletzte Haut brennt.

      Ich denke nach. Heute war ein eigenartiger Tag in meinem Leben als Hospizschwester, denn Herr P. ging auf für mich ungewöhnliche Art mit seinem Sterben um. Er hat heute stundenlang verbissen, kraftvoll und stumm gekämpft, mit all seiner körperlichen Kraft, die er noch zur Verfügung hatte. Ich weiß aber nicht, ob er für oder gegen seinen Tod gekämpft hat. Ein solches Sterben hatte ich noch nicht miterlebt. Ich kann es noch gar nicht richtig begreifen, dass er wirklich gerade gestorben ist und bleibe daher noch einige Minuten an seinem Bett sitzen. Das Gesicht von Herrn P. wirkt jetzt endlich entspannt, so als hätte er nun seinen Frieden gefunden. Ich betrachte dieses Gesicht, das von schweißnassen Haaren umrahmt ist, während seine Hände noch in meinen ruhen. Nach einigen Minuten stehe ich auf, öffne die Vorhänge und die Tür zum Garten. Diese Handlung ist für mich symbolisch – die Seele ist nun frei und kann den Raum verlassen. Danach wasche ich ein letztes Mal das Gesicht von Herrn P. und kämme seine verklebten und verschwitzten Haare, ein letztes Mal lagere ich seinen ausgemergelten Körper, dann muss ich gehen. Mein Dienst ist gleich zu Ende und ich sollte schon seit einigen Minuten die Dienstübergabe an meine Nachtdienstkollegin machen. Eigentlich hatte ich um halb sieben meine Arbeit auf der Station beendet und wollte nur noch rasch die Pflegedokumentationen fertig schreiben, bevor ich die Dienstübergabe mache. Ich weiß nicht, warum ich dann doch noch einmal in das Zimmer von Herrn P. ging. Wahrscheinlich sollte es einfach so sein, dass er in meinem Beisein verstarb, nachdem wir diesen ganzen Tag miteinander durchgestanden

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