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werden nicht als „Fälle“, sondern als individuelle Persönlichkeiten mit all ihren Facetten gesehen. Unser Ziel ist nicht die Heilung von Krankheiten, sondern die Begleitung unheilbar kranker Menschen in ihrer letzten Lebensphase unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen der Sterbenden. Wir versuchen mit allen uns zur Verfügung stehenden Ressourcen, unseren PatientInnen ein Leben mit der größtmöglichen Lebensqualität bis zum letzten Augenblick zu ermöglichen. Sterben und Tod werden in Hospizen als natürliche Ereignisse anerkannt, die am Ende jedes Lebens stehen. Wir Schwestern tun alles dafür, damit Sterben individuell in einem liebe- und respektvollen Rahmen, in Frieden und Geborgenheit geschehen kann.

       Verantwortung

       Jeder ist für alle verantwortlich.

       Jeder ist allein verantwortlich.

       Jeder ist allein verantwortlich für alle.

      Antoine de Saint-Exupéry

      Vielleicht kann dieses Buch dazu beitragen, Ihnen den Prozess des Sterbens und Begriffe wie „Hospiz“ und „Sterbebegleitung“ etwas näher zu bringen.

      Nachfolgend gilt bei allen personenbezogenen Bezeichnungen die gewählte Form für beide Geschlechter.

      Kapitel 1

      Leben und Sterben

       Der Mensch

       Empfangen und genähret

       Vom Weibe wunderbar

       Kömmt er und sieht und höret,

       Und nimmt des Trugs nicht wahr;

       Gelüstet und begehret,

       Und bringt sein Tränlein dar;

       Verachtet, und verehret,

       Hat Freude und Gefahr;

       Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,

       Hält Nichts, und Alles wahr;

       Erbauet, und zerstöret;

       Und quält sich immerdar.

       Schläft, wachet, wächst und zehret;

       Trägt braun und graues Haar.

       Und alles dieses währet,

       wenn’s hoch kömmt, achtzig Jahr.

       Denn legt er sich zu seinen Vätern nieder

       und er kömmt nimmer wieder.

      Matthias Claudius (1740 - 1815)

      Bevor man sich mit dem Sterben befasst, sollte man vielleicht erst einmal darüber nachdenken, was „Leben“ bedeutet. Denn beides gibt es ausschließlich im „Doppelpack“. Niemals gibt es eines der beiden ohne das andere. Leben, dieses uns wohl meistens so selbstverständliche „Dasein“, ist nach meiner Überzeugung ein im Idealfall harmonisches Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele und nicht nur ein gelungenes Zusammenspiel unzähliger Zellen mit den unterschiedlichsten Aufgaben. Es besteht für mich nicht nur aus chemischen Abläufen und bestimmten Merkmalen und Fähigkeiten, die uns von „toter Materie“ unterscheiden.

      Jedes Leben ist einzigartig und kann so vieles sein: ein Sich-Einlassen, Lachen und Weinen, Beziehung und Freundschaft, Liebe und Hass, Verantwortung, ein ständiges Abschiednehmen, um sich Neuem, Unbekanntem zu öffnen, Arbeiten und Ausruhen, Einsamkeit und Geselligkeit, Freude und Leid, Hoffnung, Kreativität, Lebenslust, Neugierde, ein Sicheinfügen oder Herausragen, Kämpfen und manchmal auch Siegen, Verluste hinnehmen, über sich Hinauswachsen, Grenzen Überschreiten, Ängste Besiegen, Gesundheit und Krankheit, Harmonie und Auseinandersetzung, Herausforderung, ein nie endender Lernprozess, Genuss, Verzicht, Hoffnung und Resignation, Entscheidungen treffen, Gestalten, Verändern, Sinnsuche und vielleicht auch Sinnfindung …

      Leben ist unsagbar vielfältig und steht uns nicht unbegrenzt zu Verfügung. Leben – das ist unbestreitbar immer auch Vergänglichkeit und Endlichkeit. Denken wir manchmal daran, dass unser Leben eines Tages, vielleicht schon in wenigen Minuten, vielleicht erst in vielen Jahren, endet? Unsere Zukunft dauert nicht unendlich, so wie wir manchmal zu glauben scheinen. Schätzen wir dieses Leben? Oder nehmen wir es als etwas ganz Selbstverständliches hin? Sind wir uns bewusst, wie wertvoll und einzigartig unser Leben ist? Sind wir glücklich und dankbar, wenn wir gesund sind und jeden Tag aufs Neue entscheiden können, wie wir unser Leben gestalten wollen? Oder schieben wir dieses Leben manchmal vor uns her und sagen: „Wenn … dann … “ Wie oft habe ich schon gehört (und auch selbst gedacht oder gesagt), wenn dieses oder jenes erst einmal erledigt ist, dann werde ich mir Zeit für mich nehmen, in Urlaub fahren, mir etwas Gutes gönnen, tun, was ich schon immer tun wollte … Kommt Ihnen das bekannt vor? Leben wir aber im Gestern oder im Morgen, dann geht das wertvolle, unwiederbringliche Heute verloren und wird zum Gestern, ohne bewusst gelebt worden zu sein.

      Elisabeth Kübler-Ross, die wohl bekannteste Sterbeforscherin, dachte ähnlich, sie schrieb: Die Verleugnung des Todes ist teilweise dafür verantwortlich, dass Menschen ein leeres, zweckloses Leben leben; denn wer lebt, als würde er ewig leben, dem fällt es allzu leicht, jene Dinge aufzuschieben, von denen er doch weiß, dass er sie tun muss. Lebt einer sein Leben in Vorbereitung auf morgen oder in Erinnerung an gestern, geht inzwischen jedes Heute verloren. Wer aber im Gegenteil wirklich begreift, dass jeder Tag, an dem er erwacht, sein letzter sein könnte, der nimmt sich die Zeit, an diesem Tag zu reifen, mehr zu dem zu werden, der er wirklich ist, und anderen Menschen die Hand entgegenzustrecken und ihnen offen zu begegnen.2

      Ich kenne seit einigen Jahren auch jene Seite des Lebens, die wir Sterben nennen, denn ich arbeite in einem Hospiz und begleite unheilbar kranke Menschen, die nicht mehr viel Zeit zu leben haben. Viele von ihnen würden alles dafür geben, wenn sie gesund sein und „einfach nur leben“ könnten.

      „Leben, ich will einfach nur wieder gesund sein, nach Hause gehen und leben.“ Das sagte mir erst vor kurzem eine unheilbar kranke, 45jährige Frau wenige Tage vor ihrem Tod. Sie war voll Sehnsucht, hoffte, wieder gesund zu werden, um leben zu können und hatte gleichzeitig große Angst vor dem Unbekannten, Unbegreiflichen, das unweigerlich und unaufhaltsam in großen Schritten auf sie zukam. Tief in ihrem Innersten wusste sie wohl, dass sie bald sterben würde, denn ihr Körper war inzwischen viel zu geschwächt und nicht mehr bereit, sie bei ihrem Kampf um dieses Leben zu unterstützen. Mir erschien es, als wäre diese Frau in einem wahren Irrgarten von Gefühlen gefangen. Sie wollte noch so vieles erleben und erledigen und davon wollte sie nicht durch den Tod abgehalten werden. Sie konnte die für sie so überaus schmerzvolle Tatsache des unaufhaltsam nahenden Todes nicht verstehen und wollte daher nicht wahrhaben, dass ihr Leben zu diesem Zeitpunkt bereits fast zu Ende war. Wenige Tage später starb sie, die Natur hatte ihren Kampf beendet.

      Es ist zu beobachten, dass manchen Menschen der Abschied besonders schwer fällt. Nach Kübler-Ross sind es jene, die nicht wirklich gelebt haben, die Vorhaben unerledigt gelassen haben, Träume unerfüllt, Hoffnungen zerstört und die die wirklichen Dinge im Leben an sich haben vorüberziehen lassen (andere zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, zum Glück und Wohlbefinden anderer Menschen positiv beizutragen, herauszufinden, wer das denn wirklich ist: man selbst), die am meisten zögern, sich auf den Tod einzulassen.3

      Da ich mich

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