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schrieb man Wunderkräfte zu. Legenden rankten sich um das Leben und Wirken großer Sufi-Meister. Zu den sufistischen Bruderschaften gehören auch die Orden der Derwische und die Bewegung der Fakire (faqir = arm). Vor allem in Nordafrika existieren viele von ihnen bis heute.11

      Bei den Sufis gab es, ähnlich wie bei den Wüstenvätern, eine Tradition der Seelenführung, die das Ziel verfolgte, Menschen auf dem Weg zu Gott zu begleiten.

      Jene Weisheit, deren Essenz sich auch in heutiger Enneagrammkunde wiederfindet, war offenbar eine mündliche Tradition, die über die Jahrhunderte hin vom Meister an den Schüler weitergegeben wurde. Gurdjieff hatte das Enneagramm nach eigenen Angaben in Afghanistan kennengelernt und beschrieb es als ein Perpetuum mobile. Ein Teil der Tanz- und Bewegungsformen, die er entwickelte, basierte auf der Dynamik des Enneagramms. Gurdjieff verglich das Enneagramm mit dem legendären „Stein der Weisen“ und betonte, es sei in der Geheimliteratur „nirgends zu finden … Ihm wurde von Wissenden eine so große Bedeutung verliehen, dass sie es für notwendig erachteten, seine Kenntnis geheim zu halten“.12 Als psychologische Typenlehre hat das Enneagramm bei Gurdjieff keine Rolle gespielt. Er hat niemals eine Beschreibung von neun Persönlichkeitstypen ausgearbeitet. Die heute bekannteste Form des Enneagramms der Fixierungen geht, wie erwähnt, auf Oscar Ichazo zurück. Er behauptet, dieses System von Sufimeistern in Pamir (Afghanistan) gelernt zu haben, und zwar bevor er auf Gurdjieffs Schriften stieß. In den 50er und 60er Jahren lehrte Ichazo in La Paz (Bolivien) und Arica (Chile). 1971 kam er in die USA.13 Der Psychiater Claudio Naranjo vom Esalen-Institut in Big Sur/​Kalifornien eignete sich Ichazos Modell an und entwickelte es weiter. Eine Reihe von US-amerikanischen Jesuiten, vor allem Pater Robert Ochs, stießen bei Naranjo auf das Modell. Nach langjähriger Erprobung und theologischer Prüfung entschloss sich der Jesuitenorden, das Enneagramm als ein Mittel der geistlichen Begleitung und als ein Modell für die Exerzitienarbeit zu übernehmen.

      Seit Mitte der 80er Jahre ist eine Reihe von Büchern über das Enneagramm erschienen, die zum Teil aus der Arbeit amerikanischer religiöser Orden mit dem Enneagramm erwachsen sind und zum Teil mehr von der Psychoanalyse bzw. der humanistischen Psychologie herkommen.

      Es hat sich gezeigt, dass das Enneagramm mit der christlichen Tradition geistlicher Begleitung und Menschenführung ebenso zu vereinbaren ist wie mit diversen psychotherapeutischen Ansätzen. Deshalb kann es eine Brücke zwischen Spiritualität und Psychologie schlagen. Es ist so etwas wie jene „neue Sprache“ der interkulturellen und interreligiösen Verständigung, nach der Ramon Lull gesucht hat. Das Enneagramm ist inzwischen auch „wissenschaftlich“ mehr und mehr erhärtet. Klinische Untersuchungen in den USA haben erstaunliche Ergebnisse gezeitigt. Die renommierte kalifornische Stanford University und ihre psychologische Fakultät waren Schauplatz der Ersten Internationalen Enneagrammkonferenz im Jahre 1994. Seither hat die akademische Enneagrammforschung große Fortschritte gemacht.

      Die „Vermischung“ von Psychologie, Spiritualität und Theologie mag jene stören, die auf eine „methodisch saubere“ Trennung dieser scheinbar so unterschiedlichen Zugänge zur Wirklichkeit insistieren. Die Traditionen östlicher und westlicher Weisheit und Seelenführung (die wahren Gurus, Starzen und Meister des Ostens, Ignatius), denen dieses Buch verpflichtet ist, haben dagegen immer die Zusammengehörigkeit seelischcharakterlicher und religiös-spiritueller Reifung betont. Inzwischen haben Forscher wie Ken Wilber eine integrale Spiritualität und Psychologie entwickelt, die von einem ganzheitlichen Menschenbild ausgeht und in der psychologische und spirituelle Aspekte sich ergänzen und bereichern. Einem solch ganzheitlichen Ansatz ist auch unsere Arbeit mit dem Enneagramm verpflichtet.

      Beim Enneagramm geht es, vereinfacht gesagt, um die Frage: Weshalb stoßen wir Menschen bei unserer Auseinandersetzung mit dem Leben so häufig immer wieder nur auf unser Ego, anstatt durchzustoßen zum Ganzen, zum Ganz Anderen, zu Gott? In unserer heutigen egozentrischen Gesellschaft neigen wir in besonderem Maße dazu, in unseren eigenen Gedanken oder Gefühlen stecken zu bleiben. Deswegen ist Gott heute für viele Menschen des Westens, wenn sie ihn nicht ohnehin abgeschrieben haben, nichts anderes als ein Projektionsbild ihrer selbst: ein Gott, wie wir ihn brauchen, wollen oder gerne hätten. Die Begegnung mit dem Ganz Anderen, mit dem Nicht-Ich, findet nicht statt.

      Die alten Meister und Seelenführer wollten, dass die Menschen ihre Blockaden und Vorurteile bzw. ihren „Wahrnehmungsstil“ erkennen, das heißt ihre Angewohnheit, das Leben aus einem fixierten Blickwinkel zu betrachten und zu gestalten. Im frühen Mönchtum nannte man solche Engführungen Passionen oder Leidenschaften. Sie führen dazu, dass ich jenen Teil des Lebens, den ich erkannt habe oder beherrsche, für das Ganze halte. Es geht darum, diese Leidenschaften zu identifizieren und zu überwinden, um zu lernen, die Wirklichkeit objektiv(er) wahrzunehmen. Es geht darum, zu Gott, dem ganz Objektiven, durchzudringen, dem Ganz Anderen, der für ChristInnen zugleich ganz der Unsere ist, indem er sich auf unsere Welt eingelassen hat und Teil von ihr geworden ist. Es geht darum, dass wir fähig werden, auf etwas anderes als auf uns selbst zu stoßen, auf jene „Macht, die größer ist als wir“ (Anonyme Alkoholiker).

      Viele Kirchenfunktionäre treten leichtfertig im Namen Gottes auf und meinen, Gott verstanden zu haben. Dabei kann man meist sofort erkennen, dass sie nicht viel mehr ausstrahlen als ihr eigenes Temperament, ihre Vorurteile oder das, was sie sowieso schon wissen. Das ist einer der Gründe, weshalb die christliche Religion so sehr an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Viele Zeitgenossen können sie nicht mehr ernst nehmen. Sie erleben religiöse Menschen, die nicht authentisch sind und obendrein egozentrisch wirken, weil sie offensichtlich ihre ureigensten Ziele verfolgen, während sie einen frommen Jargon pflegen, als ginge es ihnen um nichts als um Gott und um Gottes Reich.

      Das Enneagramm kann uns helfen, unsere Selbstwahrnehmung zu läutern, ehrlicher gegenüber uns selbst zu werden und immer besser zu unterscheiden, wann wir nur unsere eigenen inneren Stimmen und Prägungen hören und Gefangene unserer Vorurteile sind – und wann wir fähig sind, für Neues offen zu sein.

      Ignatius von Loyola (1491 – 1556), der Gründer des Jesuitenordens, entwickelte eine geistlich und psychologisch hochsensible Methodik der geistlichen Menschenführung. Seine Exerzitien führen auf einen Übungsweg. Sie decken die Fallen auf, in denen die Seele gefangen ist, und leiten zur „Unterscheidung der Geister“ an, jener inneren und äußeren Stimmen und Impulse, die uns fortwährend beeinflussen. Die Unterscheidung vollzieht sich in drei Schritten: Es geht darum, 1. „die verschiedenen Regungen zu verspüren, die in der Seele verursacht werden“; 2. sie „zu erkennen“, das heißt ihre Herkunft und Zielrichtung zu verstehen und ein Urteil darüber zu fällen, ob sie mich konstruktiv auf das Sinn-Ziel meines Lebens hinlenken oder destruktiv von ihm wegführen; 3. zu diesen Regungen Stellung zu nehmen, das heißt sie anzunehmen oder abzuweisen.14 Ziel der Exerzitien ist es, das eigene Leben zu ordnen und Wege zur christlichen Freiheit zu finden. Sie wird durch eine personale Jesusbeziehung ermöglicht, in der wir fähig sind, den Anruf Christi an unser Leben zu hören, und bereit werden, in seinen Dienst zu treten.

      Das Enneagramm ist ein verwandtes Hilfsmittel, um dieses Ziel zu erreichen. Das ist einer der Gründe, weshalb eine Reihe von Exerzitienmeistern begonnen hat, neben den traditionellen ignatianischen Übungen auch das Enneagramm einzusetzen.

      Ich (Richard Rohr) bin 1970, im Jahr meiner Priesterweihe, durch einen Jesuiten in das System des Enneagramms „eingeweiht“ worden. Damals hat man uns eingeschärft, dass wir es nicht schriftlich weitergeben sollten und dass niemand erfahren dürfte, woher wir es hätten. Ich muss gestehen, dass ich mir dabei seinerzeit manchmal etwas unehrlich vorgekommen bin. Es ist ein paar Mal passiert, dass jemand in meine Sprechstunde gekommen ist und ich nach einer Weile – dank des Enneagramms – die Energie oder den „Wahrnehmungsstil“ dieses Menschen ziemlich genau erfassen konnte. Während ich meine „Geheimkenntnisse“ einsetzte, dachte mein Gegenüber: „Richard Rohr liest in meiner Seele wie in einem offenen Buch und bringt mein Problem genau auf den Punkt! Wo hat er das nur gelernt?“

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