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Gregor der Große sieht den Stolz als eigentliche Ursünde, der in sieben andere Sünden mündet. Schließlich wurde in der Kirche die „heilige“ Siebenzahl verbindlich. In der mittelalterlichen Literatur und Malerei spielten die sieben Hauptsünden eine wichtige Rolle („Purgatorium“ in Dantes „Göttlicher Komödie“; „Erzählung des Pfarrers“ in Chaucers „Canterbury Tales“; Hieronymus Boschs allegorische Darstellung).

      Interessant ist der Begriffswandel von „Wurzelsünde“ zu „Todsünde“. Die ursprüngliche Vorstellung von „Wurzelsünden“ geht davon aus, dass der „Sündenbaum“ einige Hauptwurzeln hat, von denen alle anderen Sünden abzweigen. Die scholastische Auffassung von den „Todsünden“ befasst sich dagegen mehr mit den Folgen der Sünde. Schon Paulus bezeichnet den Tod als „Sold der Sünde“ (Römer 6,23). Im Jakobusbrief wird der Weg von der Versuchung über die Sünde in den Tod nachvollzogen: „Keiner, der in Versuchung gerät, soll behaupten: Ich werde von Gott versucht. Gott kommt weder selbst in Versuchung, Böses zu tun, noch führt er die Menschen in Versuchung. Die Menschen werden von ihrer eigenen Begehrlichkeit in Versuchung geführt, die sie lockt und schließlich einfängt. Wenn die Begierde schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor“ (Jakobus 1,13 – 15).

      Im 1. Johannesbrief schließlich wird zwischen Sünden unterschieden, die zum Tod führen, und solchen, die nicht zum Tod führen: „Wer sieht, dass sein Bruder eine Sünde begeht, die nicht zum Tode führt, soll für ihn bitten. Gott wird allen denen das Leben schenken, deren Sünde nicht zum Tod führt …“ (1. Johannes 5,16). Diese Unterscheidung trägt der Tatsache Rechnung, dass es kleinere Charaktermängel und Fehler gibt, die tolerabel sind, und grobe Formen des Fehlverhaltens bzw. einer grundlegenden Zielverfehlung, die für die Seele eines Menschen und für das zwischenmenschliche Zusammenleben hochgradig destruktiv, ja tödlich sind.

      Die Gefahr dieser Sündenlehre besteht darin, dass nur nachweisliche Normverstöße „Sünde“ genannt werden, während die Tiefendimension der Sünde weitgehend unbeachtet bleibt. Die Reformatoren verzichteten deshalb auf die Unterscheidung zwischen „lässlichen“ und „tödlichen“ Sünden. Das Problem sind ihrer Ansicht nach nicht die Einzelsünden, sondern es ist der sündige Mensch selbst. Die Wurzelsünde ist bei Luther der Unglaube, der Mangel an Vertrauen, die Weigerung, sich lieben und beschenken zu lassen. Die aktuellen, konkreten Sünden sind die faulen Früchte dieses Urmangels. Die berechtigte Kritik am römisch-katholischen Sündenverständnis hatte in der protestantischen Praxis ihrerseits problematische Folgen: Protestanten verstanden sich zwar ganz allgemein als „Sünder“, aber dieser Begriff verlor den konkreten Inhalt. Die persönliche Beichte ging fast völlig verloren. Nicht nur die Tatsache, dass wir Sünder sind, ist tödlich. In unseren aktuellen Fehlhaltungen wird der Tod konkret: Sie zerstören unsere Psyche, unsere Gottesbeziehung, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, die Natur und die Welt. Deswegen müssen sie entlarvt und mit Namen genannt werden. Dass die Sünde „den Tod gebiert“, wie es im Jakobusbrief heißt, ist mehr als ein Bild. Unsere Maßlosigkeit beispielsweise tötet Tiere und Wälder, unsere Aggressivität und Furcht hat zu riesigen Waffenarsenalen geführt, Neid und Habgier der Industrienationen und der Spekulanten an den Börsen werden von den Armen mit dem Leben bezahlt. In unser aller Trägheit lassen wir das alles zu, als ginge es uns nichts an. Wir verwenden in diesem Buch den alten Begriff der „Wurzelsünde“, um zu betonen, dass wir eine radikale Erneuerung nötig haben (radikal von lat. radix = Wurzel).

      Der Begriff der „Sünde“ ist für viele Menschen heute schwer verständlich geworden; schon das Wort löst Abwehr aus. Die kirchliche Sündenlehre wurde oft genug dazu missbraucht, Menschen einzuschüchtern. Vor allem die kirchliche Sexualmoral wurde jahrhundertelang in einer Weise verkündigt, die neurotische Ängste, Verklemmtheit und Schuldgefühle begünstigt hat. Das alles könnte es nahe legen, auf diesen Begriff überhaupt zu verzichten. Aber dadurch entsteht ein Vakuum, das nicht zu füllen ist. Sinnvoller erscheint es uns, den Begriff neu verstehen zu lernen. Das griechische Wort für „Sünde“, hamartia, stammt aus der Kunst des Bogenschießens und bedeutet eigentlich „Zielverfehlung“. Sündigen heißt in diesem Sinne daneben treffen. Ich visiere zwar das richtige und gute Ziel an, aber ich bin nicht gesammelt und ausgerichtet genug, um es tatsächlich zu erreichen. In diesem Sinne ist der Ausspruch des Kirchenvaters Augustinus gemeint: „Suche, was du suchst – aber suche es nicht da, wo du es suchst!“ Im deutschen Wort Sünde steckt die Wurzel sund, was so viel wie „Kluft“ oder „Trennung“ bedeutet. Das Wort „Sünde“ bedeutet unsere Trennung von Gott, aber auch von unseren Mitmenschen und von uns selbst. Sünden sind Fixierungen, die die Energie des Lebens, Gottes Liebe, daran hindern, frei zu fließen. Das lässt sich beispielsweise an der Furcht verdeutlichen, der „Wurzelsünde“ von Muster SECHS. Furcht ist keine moralische Kategorie; aber sie kann zwischen uns und Gott stehen und so die Liebe und das Leben verhindern. Wir verstehen unter „Sünde“ in diesem Buch jene selbst errichteten Blockaden und Hindernisse, die uns von Gott und damit von der Fülle des Lebens und unseren eigenen echten Potenzialen abschneiden. Sünde sind Versuche der Lebensbewältigung oder Lebenssteigerung mit untauglichen Mitteln. Sünden sind Mogelpackungen; sie versprechen etwas, was sie nicht halten können. Obwohl unsere Sünde zum Teil Reaktion auf fremde Schuld und frühkindliche Verletzungen ist, haben wir sie „gewählt“, halten hartnäckig an ihr fest und sind für sie verantwortlich. Solange wir uns selbst nur als Opfer definieren, andere beschuldigen und für unser Leben nicht selbst Verantwortung übernehmen, kann die Trennung nicht überwunden werden.

      Es gibt neben den Zusammenstellungen der Hauptsünden von jeher auch „Tugendkataloge“, einige davon bereits in der Bibel. Die Zusammenstellung der sieben messianischen Gaben des Geistes, die auf Jesaja 11,2 zurückgeht (Gottesfurcht, Frömmigkeit, Wissenschaft, Stärke, Rat, Einsicht, Weisheit)17, und die Aufzählung der neun Früchte des Geistes bei Paulus (Galater 5,22: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung) gehören dazu. Die bekannteste und „klassische“ Tugendliste ist die Kombination der vier „Kardinaltugenden“ des Aristoteles (Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung und Tapferkeit) mit den drei „theologischen“ Tugenden aus 1. Korinther 13,13 (Glaube, Hoffnung und Liebe). Das sind die „sieben Tugenden“, die in der Kunst oftmals allegorisch dargestellt wurden (zum Beispiel am „Tugendbrunnen“ vor der Nürnberger Lorenzkirche). Geoffrey Chaucer (um 1340 – 1400), der größte englische Dichter vor Shakespeare, bietet in der „Erzählung des Pfarrers“ aus seinen Canterbury Tales eine besonders interessante Liste an: Er geht davon aus, dass es als Gegenmittel gegen jede Hauptsünde zumindest eine spezifische Tugend gibt. Damit befinden wir uns in großer Nähe zum Enneagramm, zumal die jeweiligen Entsprechungspaare bei Chaucer und im Enneagramm nahezu identisch sind.

      Die „Erzählung des Pfarrers“ in Chaucers Canterbury Tales ist eine Art Beichtspiegel. Gott möchte, dass alle Menschen gerettet werden, aber es gibt viele Wege zur himmlischen Stadt. Einer davon ist die Reue, das Beweinen der eigenen Sünden und der Vorsatz, nicht mehr zu sündigen. Es gibt lässliche Sünden und tödliche Sünden. Die tödliche Sünde besteht darin, ein Geschöpf mehr zu lieben als Gott. Für jede dieser Sünden gibt es ein Heilmittel, eine heilsame Tugend. Gegen Stolz hilft Demut, gegen Neid wahre Gottesliebe, das Kraut gegen den Zorn heißt Geduld, Trägheit wird durch Tapferkeit überwunden, Geiz durch Barmherzigkeit, Völlerei durch Nüchternheit und Mäßigung, Buhlerei durch Keuschheit. Die Beichte und die Wiedergutmachung der Schuld durch Almosen, Fasten und körperliche Schmerzen führen zu ewigen Himmelsfreuden.18

      Wir sprechen im Folgenden von den „Geistesfrüchten“, wenn wir die spezifischen Gaben oder „Tugenden“ der neun Enneagrammmuster beschreiben. Dieser biblische Begriff (Galater 5,22) knüpft wie der Begriff der Wurzelsünde am Bild des Lebensbaumes an. Jesus sagt: „Ein guter Baum bringt gute Früchte“ (Matthäus 7,17).

      Die neun Typen des Enneagramms werden – wie gesagt – im Uhrzeigersinn auf der Kreislinie eingezeichnet. Jeweils drei Typen werden zu einer Gruppe zusammengefasst.

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