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neuen Sprache der Spiritualität, die von keiner der bestehenden Religionen besetzt ist. Denn er ist überzeugt davon, dass die interreligiöse Sprachverwirrung eine der Hauptursachen für Kriege und Konflikte ist. Wie Hans Küng in unseren Tagen hält er insbesondere die monotheistischen Religionen für fähig, ein gemeinsames Weltethos zu entwickeln, das dem Frieden dient. Das setzt aber voraus, dass sie im Umgang miteinander jene gewaltfreien Prinzipien praktizieren, die allein Grundlage des Völkerfriedens sein könnten. Insbesondere für die Kirche gilt: Bevor sie die Welt evangelisieren kann, bedarf sie der eigenen Bekehrung und Erneuerung; sie muss das leben, was sie lehrt, und bleibt in diesem Prozess immer auch Lernende.

      Ausgangspunkt für die gemeinsame Wahrheitssuche der großen Religionen sind für Lull die neun (!) Namen oder Eigenschaften Gottes, die er auf der Peripherie seiner Kreisfigur „A“ im Uhrzeigersinn anordnet, wobei „A“ für Gottes Wesen steht, während die neun Eigenschaften die Anfangsbuchstaben von B bis K tragen. Sie sind mit der Mitte, dem unaussprechlichen Geheimnis Gottes, und untereinander vernetzt. (Figur A)

      Daneben entwickelt Lull eine zweite Figur (T), die neben den absoluten Prinzipien der Figur A „relative“ Prinzipien bezeichnet. Sie sollen „sowohl die Nähe als auch den Unterschied zwischen Gott und den Geschöpfen bezeichnen“. Lull spricht „von Unterschied (differentia), Eintracht (concordia), Gegensätzlichkeit (contrietas). Weil der Vollkommene jenseits eines geschöpflichen Mehr oder Weniger in absoluter Gleichheit existiert, spricht er von Größer-Sein (maioritas), Gleichheit (aequalitas), Kleiner-Sein (minoritas). Und da es nur in der Schöpfung Anfang und Ende gibt, Gott aber die Mitte von allem darstellt, in der Anfang, Mitte und Ende als dreieinige Personen koinzidieren, spricht Lull von Anfang (principium), Mitte (medium) und Ende (finis)“7. Figur T ist ein Kreis, der mit drei Dreiecken ausgefüllt ist, die die relativen Prinzipien bezeichnen. (Figur T)

      Lulls Figur T

      Die Nähe dieser beiden Figuren zur Enneagrammfigur ist unverkennbar. Ähnlich wie die Figuren des Evagrius könnte man auch Lulls Schemata als „Vor-Enneagramm“ bezeichnen. Lull glaubt ferner, dass nicht nur die Gottesnamen eine gemeinsame Dialoggrundlage zwischen den Religionen sein könnten. Auch das Erkennen der „Tugenden“ und „Laster“ ist gemeinreligiöses Gut. Er bildet die klassischen sieben Tugenden und Todsünden als Bäume ab und meint, diejenige Religion habe Recht, die die überzeugendsten Tugendfrüchte hervorbringt. Damit verlagert sich der Wettstreit von der dogmatischen auf die spirituelle und ethische Ebene und die Toleranzfähigkeit innerhalb des Wettstreits wird zu einem wesentlichen Kriterium der Glaubwürdigkeit und des Wertes einer Glaubensgemeinschaft. Wer Recht hat, muss nicht rechthaberisch sein.

      Lulls Nähe zur jüdischen Kabbala und zur islamischen Sufimystik ist mit Händen zu greifen. Die Kabbala stellt die Eigenschaften Gottes wie Lull als Lebensbaum dar; der Sufismus meditiert die 99 Namen Gottes, um durch die Meditation dem unaussprechlichen Gott selbst immer näher zu kommen. Lulls besondere Liebe gilt jenen Sufigeschichten, deren Absicht es ist, die Liebe zu Gott anzufachen. Nur eine Philosophie der Liebe, so glaubt Lull, ist allen Menschen zugänglich und ermöglicht eine interreligiöse Ökumene. Umberto Eco meint, Lulls Entwürfe seien neben der jüdischen Kabbala der zweite große europäische Versuch, eine gemeinsame neue spirituelle Sprache zu finden.

      Lull ist zutiefst davon überzeugt, dass selbst schwierigste theologische Behauptungen wie die Lehre vom dreieinigen Gott oder der Glaube an die Auferstehung vernünftig begründbar und daher in Freimut diskutierbar sind. Damit nimmt er die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorweg, die der Vernunft einen Vorrang vor der Autorität einräumte.

      Es würde sich lohnen, Lulls Bedeutung für die Enneagrammforschung tiefer zu ergründen. Jedenfalls findet sich bei ihm (ebenso wie bei Evagrius) im Kern bereits vieles von dem, was wir im Folgenden entfalten wollen. Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz haben Lull ebenso geschätzt wie Bartolomé de las Casas, der leidenschaftliche Anwalt der amerikanischen Ureinwohner angesichts der Schrecken der „christlichen“ Eroberung, wie Nikolaus von Kues und wie Arthur Schopenhauer, der Lulls Lebenswende unter die „echten Bekehrungen“ einreiht. Es ist damit zu rechnen, dass Lull im Zeitalter des interreligiösen Dialogs neu entdeckt und wertgeschätzt werden wird. Sein franziskanisches Ideal einer demütigen, überzeugenden, machtlosen und lernfähigen Kirche ist bis heute aktuell.8

      Gurdjieff und seine Schüler waren nachweislich von der Lehre der Wüstenväter und vom Sufismus beeinflusst. Gurdjieff wurde vermutlich 1877 als Sohn einer armenischen Mutter und eines griechischen Vaters im Grenzgebiet zwischen Armenien und Georgien geboren. Zu dieser Zeit lebten in seinem Umfeld AnhängerInnen vieler großer Religionen zusammen. In diesem Landstrich wird Evagrius bis heute besonders verehrt. Die Lehre der Wüstenväter wird in der orthodoxen Spiritualität, insbesondere in der Mönchsrepublik vom Berg Athos, hochgehalten. Das mantrische „Herzensgebet“ etwa, das auf die Wüstenväter zurückgeht, hat sich dort über die Jahrhunderte erhalten. Gurdjieff ist von dieser Tradition zweifelsohne nachhaltig beeinflusst worden.

      Gurdjieff wollte Arzt werden und ließ sich gleichzeitig zum russisch-orthodoxen Priester ausbilden. Die offizielle kirchliche Lehre konnte jedoch seinen Wissensdrang und seine existenzielle Sinnsuche nicht befriedigen. Es ging ihm darum, wie wir Menschen wach werden können für unseren wirklichen Lebenssinn. Lang reiste Gurdjieff nach eigenen Auskünften von einem spirituellen Zentrum des Ostens zum anderen – bis nach Ägypten, Tibet und Indien. In einem Kloster der sufistischen „Sarmoun“-Bruderschaft will er die Überlieferung kennengelernt haben, die dem Enneagramm zugrunde liegt, wenn auch dieses Kloster bis heute unauffindbar bleibt. Zeitlebens bezeichnet Gurdjieff sich selbst als „pythagoräischen Griechen“ und „esoterischen Christen“. Gurdjieff verstand sein Werk als „esoterisches Christentum“. Vielleicht war sein Bewusstsein, „hinter den Schleier“ geschaut zu haben, der Grund, weshalb er die Ursprünge seines Wissens buchstäblich „verschleiert“ hat.

      Zusammenfassend zitiere ich Lynn Quirolos Studie:

      „In den Schriften des Evagrius Pontikus finden wir eine hoch entwickelte kontemplative Psychologie, wie sie im Westen inzwischen so gut wie ausgelöscht ist. Wir finden ferner eine pythagoräische Interpretation einer wichtigen biblischen Symbolzahl. Fragmente sowohl dieser Psychologie als auch dieser Symbollehre findet man in den Lehren von Gurdjieff und Ouspensky. Da diese Ideen Teil der hellenistischen, Kettfäden‘ im Gewebe der christlichen und islamischen Religionen waren, finden wir erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen frühchristlichem Denken und der späteren sufistischen Spiritualität und Kosmologie … Die Schriften des Evagrius und der Wüstenväter … sind eine Inspiration für Suchende in einem technologisch intelligenten, aber spirituell dunklen Zeitalter. Sie können unser Herz und unseren Verstand für jene größeren Möglichkeiten öffnen, die in jedem und jeder von uns schlummern.“

      Das mystisch-kontemplative Wissen der Wüstenväter ist auch in die Spiritualität der Sufis eingeflossen. Schon etwa 100 Jahre nach Mohammeds Tod gab es fromme Muslime, die ein einfaches Leben führen wollten. Sie verzichteten oftmals auf jeglichen Besitz und trugen als Zeichen der Askese grobe Wollgewänder (arabisch „suf“). Manche von ihnen zogen als Wanderprediger umher; andere lebten in geistlichen Bruderschaften und Gemeinschaften. Vieles an ihrer Lebensweise erinnerte an die späteren Franziskaner, die vermutlich ihrerseits unter sufistischem Einfluss standen.9 Wie an der christlichen Mystik des Mittelalters waren auch an der Bewegung des Sufismus auffallend viele Frauen beteiligt.

      Durch Gebet und Meditation wollten die Sufis der Liebe Gottes gewiss werden. Die Gottesliebe war zentrales Thema der Bewegung, wie das Gebet der Sufi-Meisterin Rabia al-Adawiyya aus dem 8. Jahrhundert zeigt:

      „O Gott, wenn ich dich aus Furcht vor der Hölle anbete, so verbrenne mich in der Hölle, und wenn ich dich in Hoffnung auf das Paradies anbete, so gib es mir nicht, doch wenn ich dich um deiner selbst willen anbete, so enthalte mir deine ewige Schönheit nicht vor!“10

      Die

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