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der Jesuit Bob Ochs, einer der ersten Enneagrammschüler Claudio Naranjos, „war überzeugt, dass das Enneagramm zutiefst in der christlichen Mystik verwurzelt war … Ochs erkannte die Tradition der Wüstenväter wieder, einer Gruppe von Mönchen des vierten Jahrhunderts, die die christliche Sicht der sieben kapitalen Leidenschaften entwickelt hatten, die die Typen energetisch aufladen …“4 1992 hat dann auch und unabhängig von Ochs der deutsche Benediktiner Anselm Grün die erstaunlichen Parallelen zwischen dem Enneagramm und der Lehre von den Leidenschaften festgestellt, wie sie Evagrius entwickelt hatte.5

      Die Wüstenväter oder „Anachoreten“ waren eine Bewegung des 4. nachchristlichen Jahrhunderts. Als die christliche Kirche nach langen Zeiten der Verfolgung im 4. Jahrhundert allmählich toleriert und schließlich sogar privilegiert und zur Staatsreligion erhoben wurde, ließ der Ernst der Christusnachfolge allenthalben nach. Opportunisten drängten zur Taufe. Bald wurden die heidnischen Tempel geschlossen und manche „Unbekehrbare“ ebenso grausam verfolgt wie seinerzeit die Christen durch die Heiden. Die neue Amtskirche hatte große Angst vor heidnischer Unterwanderung ihrer Lehre und vor „häretischen“ (insbesondere gnostischen) Strömungen. Mit staatlicher Unterstützung setzte sie ihre Version von „Rechtgläubigkeit“ durch. Gleichzeitig bemerkte sie nicht, wie „heidnisch“ sie selbst wurde. Anstelle eines schlichten Christusglaubens und echten Leidensbereitschaft trat immer mehr der Kampf um ein dogmatisches Monopol und um gesellschaftliche Privilegien und Macht.

      Zahllose Menschen, Männer und Frauen, die Christus ernsthaft nachfolgen wollten, sahen sich zum Rückzug gezwungen. Sie zogen aus den städtischen Zentren in die Wüste, um in kleinen Gemeinschaften oder als Einsiedler zu leben. Sie verzichteten auf die Ehe, auf weltliche Güter und weltliche Betätigung, um zur Ruhe des Herzens (hesychia) zu finden. Die Lebensgeschichte des ersten großen Wüstenvaters Antonius, die literarisch stark an die Lebensgeschichte des Pythagoras angelehnt ist, hat nicht zuletzt die bildende Kunst immer wieder inspiriert. Beliebt ist etwa die Darstellung der Versuchungen des Hl. Antonius, wie sie zum Beispiel Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar dargestellt hat.

      Das Leben in der Wüste diente der Auseinandersetzung mit den Leidenschaften oder „Dämonen“, die sich insbesondere in Gestalt von Fantasien und Gedanken des Eremiten bemächtigten. Sie galt es zu besiegen. In heutiger psychologischer Sprache würde man eher von der „Integration des Schattens“ sprechen. Verdienst der Wüstenväter und -mütter war es, diese Leidenschaften zu identifizieren und gezielte Methoden zu entwickeln, wie man mit ihnen „fertig werden“ könnte.

      Evagrius Pontikus wurde im Jahre 345 in Ibora in der Provinz Pontus (im heutigen Georgien) als Sohn eines Bischofs geboren. Mit 34 Jahren wurde er zum Diakon geweiht. 381 ging er nach Konstantinopel, musste aber die Stadt wegen einer Liebesaffäre verlassen. Nach einem Zwischenaufenthalt in Jerusalem begab er sich nach Ägypten, um dort als Mönch zu leben. Bis zu seinem Tode im Jahre 399 blieb er in einer Einsiedelei in der nitrischen Wüste. Dort verfasste er seine wichtigsten Werke. Besonderen geistigen Einfluss übten auf ihn die Werke des Origenes aus, der wiederum von pythagoräischem Denken beeinflusst war und sich für eine allegorische Bibelauslegung einsetzte (das heißt, man suchte zwischen den jedermann zugänglichen Zeilen der biblischen Texte nach einem geheimnisvollen symbolischen Sinn; dabei spielte die Zahlenspekulation eine wesentliche Rolle). Die Origenisten wurden von den „Anthropomorphisten“, die nur die wortwörtliche Bibelauslegung gelten lassen wollten, bekämpft und schließlich verfolgt.

      Im Jahre 399, kurz nachdem Evagrius gestorben war, mussten seine Gesinnungsfreunde fliehen. Auf diese Weise fanden seine Werke, die sie mitnahmen, weite Verbreitung. Sie gelangten über die Grenzen des römischen Imperiums hinaus nach Armenien und in die arabische Welt, wo sie später auch die persischen Sufis beeinflussten. In Armenien genießt Evagrius bis heute große Verehrung; zum Teil wurden seine Schriften überhaupt nur in armenischer Übersetzung aufbewahrt. Die Lehre des Evagrius und der Wüstenväter übte und übt vor allem auf die Mönche der Orthodoxie, etwa auf dem Berg Athos, einen gewaltigen Einfluss aus – trotz der einstmaligen Verfolgungen und Verurteilungen. Auf dem Konzil von Konstantinopel (553) nämlich wurde neben Origenes auch Evagrius verurteilt. Drei spätere Konzilien wiederholten diese Verurteilungen.

      Das Werk des Evagrius berührt sich an zwei Punkten eng mit dem Enneagramm: In seiner Lehre von den Leidenschaften und in der Beschreibung einer auf pythagoräischer Zahlenspekulation beruhenden Figur, die wesentliche Züge des Enneagrammsymbols zeigt.

      Evagrius entwickelte erstens eine Liste von acht bzw. neun Lastern bzw. ablenkenden „Gedanken“, die den Weg zu Gott und zu leidenschaftsloser Herzensruhe behindern. Ausgangspunkt war für ihn jenes seltsame Jesuswort Matthäus 12,43 – 45: „Wenn ein böser Geist einen Menschen verlässt, dann schweift er über ödes Land und sucht nach einem Ruheplatz. Wenn es keinen findet, sagt er sich:, Ich will in mein Haus zurückkehren, das ich verlassen habe!‘ Also geht er zurück – und findet das Haus leer, sauber und geordnet vor. Dann geht er und bringt sieben andere böse Geister mit, die noch schlimmer sind als er selbst, und sie kommen und wohnen hier. So befindet sich der Mensch am Ende in einem schlimmeren Zustand als am Anfang.“ Nach Evagrius ist der erste böse Geist die „Völlerei“, die sich schließlich die sieben weiteren Laster „einverleibt“, sodass es zur Achtzahl kommt. In seiner Neunlasterschrift, die in unserem Zusammenhang besonders interessant ist, ordnet er drei Leidenschaften der sinnlich-materiellen Welt zu (bei ihm sind dies Völlerei, Unzucht und Geiz), drei der „erregbaren Seele“ (Traurigkeit, Zorn und „Trägheit“) und drei dem geistigen Bereich, der allein dem Menschen vorbehalten ist (Ehrsucht, Neid und Stolz). Die „Furcht“, die im Enneagramm Typ SECHS zugeordnet wird, fehlt. Papst Gregor I. hat die Liste der acht bzw. neun Leidenschaften später auf die bis heute gängige Liste der sieben klassischen Hauptsünden reduziert (oft fälschlich als die „sieben Todsünden“ bezeichnet). Er fasste Ruhmsucht und Stolz sowie Traurigkeit und Faulheit zusammen. Ergebnis war ein Jahrhunderte lang gültiger Katalog: Stolz, Neid, Zorn, Traurigkeit, Habgier, Völlerei, Unkeuschheit. Im 7. Jahrhundert wurde die Traurigkeit durch die Trägheit ersetzt. Als die sieben Hauptsünden bezeichnet die katholische Kirche gegenwärtig Stolz (superbia), Habsucht (avaritia), Neid (invidia), Zorn (ira), Unkeuschheit (luxuria), Unmäßigkeit (gula, immoderatio), Trägheit oder Überdruss (pigrata oder acedia).

      Auch wenn Evagrius neun Laster nennt, ist doch offenkundig, dass er sie noch nicht als jenes „Enneagramm der Fixierungen“ systematisiert hat, das Oscar Ichazo in den 70er Jahren entwickelt hat. Er ordnet sie zum Beispiel nach anderen Gesichtspunkten der physischen, psychischen und geistige Sphäre zu, als es Oscar Ichazo mit den neun Leidenschaften bzw. Fixierungen im Enneagramm getan hat.

      Neben der Identifikation von neun Leidenschaften und drei Zentren, denen jeweils drei Leidenschaften zugeordnet werden, beschreibt Evagrius auch ein geometrisches Symbol, das sich nur erschließt, wenn man die Zahlensymbolik des Pythagoras kennt. Dabei geht es um die Darstellung einer geheimnisumrankten biblischen Zahl: Gegen Ende des Johannesevangeliums wird berichtet, wie Jesus nach seiner Auferstehung an Ostern seinen Jüngern gebietet, das Fischernetz im See Genezareth auszuwerfen. Sie gehorchen ihm und fangen 153 große Fische. Warum nennt der Evangelist diese Zahl? Das Johannesevangelium ist voll von hintergründigen und mehrdeutigen Redewendungen mit „doppeltem Boden“. Hinter einer platt wörtlichen Bedeutung steckt immer ein tieferer Sinn. Weil die Menschen – einschließlich der Jünger Jesu – seine Worte allzu buchstäblich deuten, kommt es im Johannesevangelium ständig zu kuriosen Missverständnissen. Es ist offenkundig, dass diese Zahlenangabe nicht willkürlich ist, sondern einen symbolischen Sinn hat. Hieronymus (um 420) deutet die Zahl so: Man hätte seinerzeit angenommen, es gäbe insgesamt 153 Fischarten. Die Zahl sei also ein Hinweis auf die Universalität und Vollständigkeit der Kirche, die alle Völker umfasst. Spekulativer ist bereits Augustinus:

      „In der Anzahl der Fische, die unser Herr nach seiner Auferstehung auf der rechten Seite des Schiffes zu fangen befiehlt, um dieses neue

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