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soll der neue Mensch, vollendet und zur Ruhe gekommen, durch die lauteren Worte Gottes an Leib und Seele geläutert, die wie entschlacktes Silber sind, das siebenmal gereinigt ist, seinen Lohn erhalten – die Münze. Mit diesem Lohn begegnen sich die Zahlen sieben und zehn in ihm. Denn in dieser Zahl (17) findet sich – wie in anderen Zahlen, die eine Kombination von Symbolen darstellen –, ein wundervolles Geheimnis … Und wann wird der Körper endgültig von allen Feinden befreit sein? Ist es nicht dann, wenn der letzte Feind, der Tod, vernichtet sein wird? Bis zu dieser Zeit also wird die Zahl der 153 Fische reichen. Denn wenn die Zahl 17 als Seite eines gleichseitigen Dreiecks genommen wird … beträgt die Gesamtsumme der Einheiten 153.“6

      Diese Deutung ist ein Beispiel für die spekulative Art und Weise, mit Zahlen umzugehen, wie sie in der Antike und in der Frühzeit der Kirche gang und gäbe war.

      Auch Evagrius interpretiert die Zahl 153 mit Rückgriff auf die pythagoräische Zahlensymbolik. Seine Interpretation findet sich in der Einleitung zu einem Büchlein mit dem Titel „153 Kapitel über das Gebet“, einem Leitfaden zur Kontemplation. Diese 153 kurzen Kapitel sind auch Teil der „Philokalia“, jener berühmten Sammlung altkirchlicher Anleitungen zum Gebet, die die spirituelle Grundlage ostkirchlicher Mystik ist und die es jetzt endlich auch in einer deutschen Gesamtausgabe gibt. Evagrius schreibt in der Einleitung:

      „Ich habe diese Abhandlung über das Gebet in 153 Kapitel eingeteilt. Mit ihnen sende ich dir einen Leckerbissen des Evangeliums, damit du dich an einer symbolischen Zahl erfreuen kannst, die eine dreieckige und ein sechseckige Figur miteinander verbindet. Das Dreieck steht symbolisch für die Trinität, das Sechseck für die geordnete Erschaffung der Welt in sechs Tagen. Die Zahl 100 bezeichnet ein Quadrat, die Zahl 53 ein Dreieck und zugleich einen Kreis. Weshalb? Weil sie die Summe von 25 und 28 ist. 28 ist das Dreieck und 25 der Kreis, da 25 fünf mal fünf ist. So stellt diese Summe eine quadratische Figur da, da sie die vierfache Qualität der (sieben) Tugenden symbolisiert. Der Kreis drückt durch seine runde Form den Fluss der Zeit aus und ist zugleich ein angemessenes Symbol für die wahre Welterkenntnis. Im Fluss der Zeit folgt Woche auf Woche, Monat auf Monat, Jahr auf Jahr und Jahreszeit auf Jahreszeit, wie es die Bewegung von Sonne und Mond, Frühling und Sommer und so weiter zeigen. Das Dreieck, das in der Zahl 28 zum Ausdruck kommt, bezeichnet die Erkenntnis der Heiligen Trinität. Oder wir könnten die ganze Summe von 153 als ein Dreieck deuten, das die asketische Praxis, die Kontemplation der Natur und die Betrachtung des spirituellen Wissens von Gott bedeutet – oder Glaube, Hoffnung und Liebe, oder Gold, Silber und Edelsteine. So viel zu dieser Zahl …“

      Diese Interpretation des Evagrius ergibt nur Sinn, wenn man mit der pythagoräischen Zahlensymbolik vertraut ist. Pythagoras unterschied unter anderem Dreieckszahlen, Quadratzahlen, Sechseckzahlen und Kreiszahlen:

      Dreieckszahlen: Die Summe aufeinander folgender Zahlen, beginnend mit 1. Beispiele:

      3 = 1 + 2; 6 = 1 + 2 + 3; 10 = 1 + 2 + 3 + 4 usw.

      2. Quadratzahlen: Die Summe von Zahlen, beginnend mit 1, wobei jeweils eine Zahl ausgelassen wird. Beispiele:

      4 = 1 + 3 (2 ausgelassen); 9 = 1 + 3 + 5; 16 = 1 + 3 + 5 + 7 usw.

      3. Sechseckzahlen: Die Summe von Zahlen, beginnend mit 1, wobei jeweils drei Zahlen ausgelassen werden. Beispiele:

      6 = 1 + 5 (2, 3 und 4 ausgelassen); 15 = 1 + 5 + 9; 28 = 1 + 5 + 9 + 13 usw.

      4. Kreiszahlen: Eine Zahl, die Produkt einer Zahl ist, die sich beim Quadrieren an letzter Stelle wiederholt. Beispiele:

      25 = 5 x 5; 36 = 6 x 6.

      Für die Zahl 153 bedeutet das: Sie ist nach pythagoreischer Interpretation „dreieckig“ (1 + 2 + 3 + … 17) und zugleich „sechseckig“ (1 + 5 + 9 … + 33). Deshalb hat diese Zahl zugleich „dreieckige“ (trinitarische) und „sechseckige“ Qualität; das Dreieck bezeichnet nach Evagrius die göttliche Wirklichkeit und das Sechseck – wie erwähnt – die sechs Schöpfungstage und somit die irdische Welt. Es gäbe mehrere Möglichkeiten, diese Kombination von Dreieck und Sechseck bildlich darzustellen:

      153 lässt sich nach Evagrius aber auch als Summe von 100 + 28 + 25 verstehen. 100 ist eine „Quadratzahl“ (1 + 3 + 5 + 7 … + 19). Evagrius deutet 4 x 7 als Hinweis auf die vierfache Qualität der (sieben) klassischen Tugenden. 28 ist ein „Dreieck“ (1 + 2 + 3 + … 7) und bezeichnet die Heilige Trinität. 25 ist ein „Kreis“ (5 x 5). Der Kreis ist für Evagrius ein Hinweis auf den Lauf der Zeit und auf wahre (vollständige) Erkenntnis. Graphisch ließe sich die Kombination von Quadrat, Dreieck und Kreis wiederum auf unterschiedliche Weise darstellen:

      Eine dritte Möglichkeit sieht Evagrius darin, die gesamte Zahl 153 als „Dreieck“ zu interpretieren (1 + 2 + 3 + … 17). Das könnte man graphisch als gleichseitiges Dreieck mit der Seitenlänge 17 (Punkte) darstellen:

      Zusammenfassend kann man sagen: Evagrius hat eine Charakterpsychologie entwickelt, die auf acht bzw. neun „Gedanken“ oder Leidenschaften basierte. Gleichzeitig hat er eine Kosmologie entworfen, die durch eine Kombination von Kreis, Dreieck, Viereck und Sechseck symbolisch dargestellt werden kann. Es gibt allerdings keinen Hinweis darauf, dass Evagrius selbst seine Leidenschaftslehre und das kosmische Symbol miteinander verquickt hätte. Das Enneagramm der Fixierungen dürfte eine Neuschöpfung Oscar Ichazos aus dem 20. Jahrhundert sein. Es wäre also abwegig zu behaupten, das Enneagramm, so wie wir es kennen, ginge als solches auf die Wüstenväter zurück. Richtig ist jedoch, dass sich die zwei wichtigsten Elemente moderner Enneagrammkunde (kosmisches Prozesssymbol, das – neben dem Quadrat – Dreieck, Kreis und Sechseck enthält, plus eine Charakterlehre, die auf den „Hauptleidenschaften“ basiert und sie den drei Zentren Körper, Seele und Geist zuordnet) unmittelbar auf Evagrius, diesen großen frühchristlichen Welt- und Seelenkenner, zurückführen lassen.

      Eine zweite große christliche Gestalt, deren Werk entscheidende Aspekte moderner Enneagrammkunde vorwegnimmt, ist der seliggesprochene Ramon Lull, der 1232 in Palma (Mallorca) geboren wurde.

      Ramon, dessen Vater 1229 mit Jakob I. auf die Insel gekommen war, um sie von muslimischer Herrschaft zu befreien, wuchs in einer Umgebung auf, die stark maurisch geprägt war. Er heiratete 1253, wurde Hofpage, führte ein sehr „verweltlichtes“ Leben und unternahm in seiner politischen Funktion zahlreiche Reisen. Im Juni 1263 erlebt der 34-Jährige aufgrund von fünf Erscheinungen des gekreuzigten Christus eine tief greifende Bekehrung. Er wird Mitglied des 3. Ordens der Franziskaner, der für Verheiratete offen ist. Fortan sieht Lull seine Aufgabe darin, Argumente für das Christentum zu sammeln, um so zur Bekehrung von Juden und Muslimen beitragen zu können. Er begibt sich auf Pilgerreisen (Jerusalem und Santiago de Compostela) und entfaltet eine rege literarische Produktivität. Unter anderem regt er die Errichtung von Sprachschulen für das Arabische und Hebräische an, um Grundlagen für einen seriösen interreligiösen Dialog zu schaffen.

      Im Gegensatz zu früheren missionarischen Ambitionen der Kirche, die letztlich der Zwangsbekehrung der „Heiden“ dienten, entwickelt Lull Prinzipien eines respektvoll und rational geführten Dialogs, in dessen Verlauf alle Beteiligten dazulernen. Die eigene Identität kann letztlich nicht in Abgrenzung von anderen gefunden werden, sondern nur im Gespräch mit ihnen. Lull nimmt wesentliche Kriterien moderner Kommunikationstheorien und der Friedens- und Konfliktforschung vorweg und entwickelt das, was man heute eine „Hermeneutik des Anderen“ nennen würde: Um mit einem anderen wirklich zu kommunizieren, muss ich seine Sprache und seine Voraussetzungen kennen und achten.

      „Das Buch vom Heiden und den drei Weisen“ schildert das Gespräch eines religiös suchenden Heiden mit einem Juden, einem Christen und einem Muslim. Alle tragen ihre Argumente nacheinander vor, ohne einander zu unterbrechen oder anzugreifen. Nur dem Suchenden sind kritische Nachfragen gestattet. Am Ende geht der „Heide“ getröstet davon und es bleibt

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