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gegangen!“ (Johannes 21,18). In jungen Jahren muss das Ego aufgebaut und gestärkt werden, man muss sich von jener Energie leiten lassen, die natürlich zu sein scheint.

      Aber irgendwann in den Dreißigern, spätestens, wenn man vierzig ist, wird dieses Spiel immer fader. Das alles hat bisher so gut funktioniert, man konnte damit Eindruck machen bei den Leuten, man war „der Coole“ oder „die Witzige“ oder „der ernste, nachdenkliche Student“. Auf dieses Selbstbild hat man sich bisher fixiert und fixieren lassen. Es war eine Hilfe, um das eigene Ich von der Umwelt abzugrenzen. Aber je mehr sich solche Ich-Grenzen verhärten und je mehr sich jemand mit solch einem Selbstbild identifiziert und es um jeden Preis aufrechterhalten will, desto deutlicher zeigt sich auch die Kehrseite der Medaille. Wenn jemand bis zum vierzigsten Lebensjahr damit beschäftigt war, dieses Bild zu kultivieren, wird es für ihn sehr schwierig, sich zu verändern. Gleichzeitig wird immer klarer: Das stimmt alles nicht mehr. Was Lust war, wird zur Last. Dieser Zeitpunkt in der Lebensmitte birgt deshalb – so schwierig es ist – die große Chance in sich, das bisher Erreichte kritisch zu reflektieren und sich zu verändern; reifer, weiser und tiefer zu werden. Nun wird die Fortsetzung der Worte Jesu an Petrus aktuell: „Jetzt, da du älter wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst!“ (ebenda).

      Nach vielen Jahren in der Seelsorge sind wir beide davon überzeugt, dass es nichts gibt, worauf Menschen so fixiert sind wie auf ihr Selbstbild. Wir sind buchstäblich bereit, durch die Hölle zu gehen, bloß um das nicht aufgeben zu müssen. Es determiniert das meiste von dem, was wir tun oder lassen, sagen oder verschweigen, mit wem wir uns abgeben und mit wem nicht. Wir alle sind davon betroffen. Die Frage lautet: Habe ich die Freiheit, etwas anderes zu sein als diese Rolle und dieses Bild?

      Wenn wir es mit Gott, dem Großen Liebhaber zu tun bekommen, dann müssen wir uns verändern. Denn der Große Liebhaber öffnet uns auf seine fantasievolle Weise die Augen dafür, wie reich und vielfältig unser Leben sein könnte und ist, sodass unser bisheriges Spiel plötzlich sehr fade wird. Solche Spiele limitieren die Möglichkeiten der Liebe. Sie verhindern, dass die Große Liebe uns erreicht. Das Enneagramm kann Menschen helfen, sich von ihrem Selbstbild zu lösen: „Lass los! Du brauchst das nicht! Du musst dich nicht selbst einsperren in das beschränkte Bild, das du von dir hast. Es ist nicht wichtig, ob du dieses bist oder jenes. Du bist Gottes lieber Sohn, Gottes liebe Tochter – das ist entscheidend.“ Unsere Identität wird primär durch diese Beziehung gestiftet und ist nicht etwas, was wir schützen, definieren und verteidigen müssen.15 Das Enneagramm kann uns helfen, innerlich abzurüsten, die Verteidigung jenes Selbstbildes aufzugeben, das wir selbst geschaffen haben. In diesem Sinne sind es gerade unsere Gaben, die uns zum Verhängnis werden können. Wir identifizieren uns übermäßig mit dem, was wir gut können. Wir alle spielen diese Rollen; wir können sie genauso fieberhaft daheim in unserer kleinen Welt verteidigen wie auf der öffentlichen Bühne.

      So wird jede Gabe, auf die wir uns übermäßig fixieren, paradoxerweise zu unserer Sünde. Unsere Gabe und unsere Sünde sind zwei Seiten derselben Medaille. Um deiner Gabe zu begegnen, musst du deine Sünde gleichsam kauen, essen, dir einverleiben. Iss sie, schmeck sie, fühl sie, lass dich von ihr demütigen! Das ist sehr traditionelle kirchliche Lehre. Jeder Gottesdienst beginnt damit, dass die Sünde beim Namen genannt wird. In der Liturgie heißt das Confiteor (Sündenbekenntnis) oder Allgemeines Schuldbekenntnis (Bußakt); es wird relativ formalistisch vollzogen. Im Zusammenhang mit dem Enneagramm kommt „Butter an die Fische“. Wir werden unsere konkrete Sünde fühlen, erkennen und sehen, wie übertrieben, exzessiv und absurd das alles ist. Wenn wir unsere Dunkelheit schmecken und kauen, wenn wir fühlen, wie sie mich und andere Menschen verletzt hat, wie sie mir erlaubt hat, nicht zu lieben und mich nicht wirklich lieben zu lassen – wenn wir das tun, werden wir wach für die andere Seite, für unsere echte Begabung oder besser: für die eigentliche Tiefe und den Sinn unserer spezifischen Gabe.

      Damit das möglich ist, müssen wir geläutert und gereinigt werden. Unser altes Selbst, unser alter Adam, unsere alte Eva muss sterben. Das fühlt sich wirklich wie Tod an. Da gibt es nichts romantisch zu verbrämen, das macht auch keinen Spaß. Es tut weh. Man wird sich fühlen, als ob einen alle anderen auslachen. Man wird das Gefühl haben, viele Beziehungen verhunzt und kaputtgemacht zu haben, wenn einem klar wird, wie viele Menschen man ausschließlich dazu benutzt hat, das eigene Selbstbild aufzubauen und aufrechtzuerhalten.

      Das ist der Grund, weshalb im geistlichen Leben unsere Feinde unsere besten Freunde sind. Deswegen ist das Gebot Jesu so wichtig: „Liebt eure Feinde!“ Wenn wir dem Feind dort draußen vor der Tür, diesem Nicht-Ich, nicht gestatten, unsere Welt zu betreten, werden wir niemals fähig sein, unserer Sünde oder unserer dunklen Seite ins Gesicht zu sehen. Menschen, die mir auf den Wecker gehen, die mich bedrohen und die mir Angst machen, müssen zwar nicht unbedingt meine Busenfreunde werden, aber sie haben eine wichtige Botschaft für mich. Das Enneagramm kann dazu verhelfen, für diese Botschaft empfänglicher zu werden. Wir werden sehen, dass es bestimmte Typen gibt, die von Haus aus bedrohlich für uns sind, weil sie unser Spiel aufdecken – oder weil sie unser Spiel nicht brauchen. Das ist der Grund, warum wir die Kirche als „Leib Christi“ verstehen. Das bedeutet unter anderem, dass wir die Wahrheit von bestimmten Leuten nur zu bestimmten Zeiten verkraften. Es gibt Leute, für die bin ich mit meiner Art in ihrer momentanen Situation geradezu Gift.

      Einstein war ständig auf der Suche nach einer universellen Energietheorie. Er war überzeugt, dass die Erklärung der Welt und ihrer Ursachen letztlich einfach und schön sein müsste. Er war ferner der Meinung, dass eine „Weltformel“, die nicht einfach und schön ist, auch nicht wahr sein kann. Das lässt sich aufs Enneagramm übertragen: Es vermittelt eine Erfahrung, die uns erschreckt und herausfordert, die aber zugleich einfach und schön ist. Das Enneagramm ist schön, weil es uns als kleine, partielle und gebrochene Menschen zeigt. Es ist schön, wenn wir endlich nicht mehr so tun müssen, als seien wir mehr als das – und wenn wir merken, dass wir alle im selben Boot sitzen. Wir spielen alle unsere Spiele, kultivieren unsere Vorurteile und unsere unerlöste Sicht der Welt.

      Deshalb müssen wir unsere Gabe annehmen, um unsere Sünde zu sehen – und wir müssen unsere Sünde annehmen, um zu erkennen, wie begabt wir sind. Wir müssen unsere Gabe begrenzen, sonst wird unsere Sünde zur Falle – während wir sie „Tugend“ nennen. Auch das ist traditionelle kirchliche Lehre. Thomas von Aquin und viele Scholastiker haben bereits gesagt, dass alle Menschen etwas wählen, was gut aussieht. Niemand tut willentlich Böses. Jeder von uns hat sich sein System zurechtgelegt, mit dessen Hilfe wir erklären, weshalb das, was wir tun, richtig und gut ist. Deshalb ist es so nötig, die „Geister zu unterscheiden“, wie es in der Bibel heißt. Wir brauchen eine Hilfestellung, um unser falsches Selbst zu entlarven und uns von unseren Illusionen zu distanzieren. Dazu ist es nötig, dass wir eine Art „inneren Beobachter“ installieren; manche reden auch von einem „fairen Zeugen“. Zunächst klingt das recht kompliziert, aber nach einer Weile wird es ganz natürlich. Es geht im Grunde um jenen Teil von uns selbst, der ehrlich ist – nicht nur im negativen Sinne, sondern auch im positiven. Er sagt uns zum Beispiel: „Du liebst Gott wirklich und sehnst dich nach ihm. Du bist gut. Hör auf, dich selbst so brutal niederzumachen! Du bist eine Tochter Gottes! Du kannst mitfühlen!“ Er hilft uns, Moralismus von echter Moral zu unterscheiden, Schuldgefühle von wirklicher Schuld, falschen Stolz von echter Stärke. Bei der Selbsterkenntnis, die das Enneagramm vermittelt, geht es nicht nur um Sündenerkenntnis. Es geht auch, und am Ende vor allem darum, alles, was nur scheinbar gut ist, loszulassen, damit wir das an uns entdecken, was wirklich gut ist.

      Vor allem für diejenigen, die in einer religiösen Umgebung aufgewachsen sind, dauert es meist eine Weile, bis sie diese positiven Stimmen hören können. Da sind all die negativen Stimmen im Inneren, die ständig Urteile fällen: „Gut, besser, am besten, richtig, falsch, heilig, Todsünde, lässliche Sünde, verdienstlich, unwürdig, verdammenswert“ – und alle Stufen dazwischen. In gewisser Weise gibt es nichts Schwierigeres, als mit religiösen Menschen zu arbeiten. Sie haben solch einen Hang zum Moralisieren, dass sie unfähig sind, die Wirklichkeit anzunehmen und ihr

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