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der Gacaca-Justiz beginnt. In der Stadt Nyarutega im Süden des Landes findet eine so genannte »Présentation« statt. Das ist eine Art Gefangenenvorstellung, die das Ziel hat, möglichst früh unschuldige Häftlinge identifizieren und aus der Haft entlassen zu können. Ein Staatsanwalt liest vor, wessen ein Häftling beschuldigt wird, dieser äußert sich dazu und die lokale Bevölkerung, mit dem Geschehen in der Region zur Zeit des Völkermords gewöhnlich bestens vertraut, bestätigt, korrigiert oder verwirft die Beschuldigung. Hunderte, manchmal Tausende von Menschen nehmen daran teil, zuletzt, über mehrere Tage hinweg, im Stadion der in der Nähe gelegenen Provinzhauptstadt Butare, wo sage und schreibe 2700 Häftlinge »vorgestellt« wurden, von denen allerdings nur 32 ihre Freiheit erhielten.

      In Nyarutega sind es gut 50 Gefangene, unter ihnen vier Frauen, die vor dem Gebäude der Gemeindeverwaltung von den Ladeflächen zweier Lastwagen steigen. Die meisten scheinen gut gelaunt, lachen, als sie von Familienmitgliedern und Freunden begrüßt werden. Wäre nicht die rosafarbene Kleidung, die sie als Völkermordhäftlinge kennzeichnet, könnte ein zufälliger Beobachter eher an eine folkloristische Feier oder an einen etwas bizarren Arbeitseinsatz denken als an eine justizielle Veranstaltung, auf der es leicht um Leben oder Tod gehen kann. Nachdem die Gefangenen Aufstellung genommen haben (für einige ältere wurde eine Bank bereitgestellt), beginnt die Veranstaltung. Zwei Gefangene führen Protokoll, drei weitere, auf deren Mützen Sûreté steht, sind für die Sicherheit verantwortlich, auch wenn nicht klar wird, für welche, schließlich sind auch bewaffnete Polizisten vor Ort.

      Acht Häftlinge sollen heute zu Wort kommen, eine Frau wird nicht unter ihnen sein. Der Ablauf ist immer derselbe. Der Häftling tritt vor und nennt seinen Namen, der Staatsanwalt verliest die Beschuldigung, dann spricht wieder der Häftling. Wenn er geendet hat, kniet er nieder, beteuert, dass er die Wahrheit gesagt hat, bekreuzigt sich, steht wieder auf und geht zurück an seinen Platz.

      Der erste Gefangene, ein Mann mittleren Alters, soll einen Mord begangen haben. Seine Unschuldsbeteuerungen werden von den Zuhörern zurückgewiesen, die dicht gedrängt auf dem Platz vor dem Gebäude der Gemeindeverwaltung stehen. Ein Gacaca-Gericht soll über die Anklage entscheiden. Der zweite Gefangene, der vortritt, wirkt noch sehr jung. Er soll eine Frau getötet haben, doch er behauptet, nicht er, sondern ein anderer habe die Tat begangen. Er nennt dessen Namen und auch den Namen einer Zeugin, die alles gesehen haben soll. Auch hier wird später ein Gacaca-Gericht entscheiden. Die nächsten drei Häftlinge sollen bald freigelassen werden, da sich die Anklagen als substanzlos erwiesen haben. Alle drei sind der Bevölkerung gut bekannt, ihre Unschuld kann durch eine Reihe von Zeugen bestätigt werden, und als der Staatsanwalt tatsächlich die baldige Freilassung ankündigt, wird dies mit Applaus quittiert. Die letzten drei Häftlinge, die an diesem Tag »vorgestellt« werden, müssen sich wieder vor Gacaca-Gerichten verantworten. Während in einem Fall nicht geklärt werden kann, wie der Tatvorwurf überhaupt lautet, stoßen in den beiden anderen Fällen die Unschuldsbehauptungen auf heftigen Protest. Es geht um mehrfachen Mord, auch an Kindern, da reicht der kleinste Einwand, um den Fall zur Klärung an die Gacaca-Justiz zu verweisen. Alle, die mutmaßlichen Täter eingeschlossen, scheinen große Hoffnungen in sie zu setzen.

      Soweit zu Nyarutega. Zwei Tage später habe ich Gelegenheit, einen zweiten, noch genaueren und anschaulicheren Eindruck von der in Ruanda angestrebten Vergangenheitsaufarbeitung zu bekommen. Schauplatz ist diesmal ein Gefängnis am entgegengesetzten Ende des Landes, im Norden in der Provinz Byumba. 165 Frauen und 103 Männer sind dort inhaftiert, zusammen mit einer beträchtlichen, nicht genau bekannten Zahl von Kindern und Säuglingen.

      Auf den ersten Blick entspricht das Gefängnis so gar nicht dem Klischee von einem afrikanischen Gefängnis, das, überfüllt, feucht, fensterlos und mit miserabler hygienischer Ausstattung, jedem internationalen Mindeststandard Hohn spricht. Die fünf, aus Backstein oder Adobe-Ziegel gemauerten Gebäude des Gefängnisses erinnern eher an eine weitaus weniger repressiv wirkende Anlage, eine Schule beispielsweise, und in der Tat stellt sich später heraus, dass das Gefängnis erst 1997 eingerichtet worden war, indem mehrere nah beieinander liegende Gebäude so umfunktioniert wurden, dass darin Menschen inhaftiert werden konnten. Der Bedarf an Haftraum war in Ruanda angesichts immer weiter steigender Häftlingszahlen groß, und es musste schnell Abhilfe geschaffen werden. Eine davon ist das Gefängnis in Nyankenke bei Byumba.

      In der Mitte des Gefängnisareals, zwischen Küche und Latrine, steht ein etwas größeres Gebäude, das als Lagerraum benutzt wird. Häftlinge haben in der Nähe einen Generator aufgestellt, denn heute soll im Lagerraum ein Film gezeigt werden. Dafür wird Strom benötigt, den es ansonsten im Gefängnis nicht gibt. Internews-Rwanda, Ableger einer internationalen NGO, die die Unterstützung unabhängiger Medien zur Förderung von Demokratie auf ihre Fahnen geschrieben hat, möchte einen Film zeigen: über Gerichtsverfahren gegen Völkermörder, über Geständnisse und deren Wirkung auf den Versöhnungsprozess und über den Vorteil einer aktiven Teilnahme aller Betroffenen an der Aufklärung von Völkermordverbrechen.

      Im Lagerraum verharrt schon ein Großteil der Gefangenen. Sie sitzen entweder auf Holzbänken oder auf dem Boden, streng nach Geschlecht getrennt. Die meisten Gefangenen sind in Zivilkleidung, nur einige wenige tragen die rosafarbene Gefängniskleidung, die von der Übergangsregierung eingeführt worden ist, weil, so wird gesagt, die alte schwarze Häftlingskleidung zu sehr für das Verbrechen, für das Dunkel-Bedrohliche gestanden und das Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft symbolisiert habe. Die Farbe Rosa hingegen löse positive Gefühle aus, sie hebe die Besserungsfähigkeit ihrer Träger hervor und sei damit auch Ausblick auf die Zukunft des Landes.

      Die Stimmung ist ernst, ruhig und wird beinahe feierlich, als ein Gefangener vortritt und ein Lied intoniert, in das alle anderen nach ein paar Takten einfallen. Es ist ein religiöses Lied, in dem viel von Gott, Hoffnung und Trost die Rede ist und vor allem davon, dass das Heil auch eigener Anstrengung bedarf. Das Bereuen eigener Sünden gehöre ganz besonders dazu, was allerdings erfordere, sie erst einmal als solche anzuerkennen. Ohne das Eingeständnis eigener Fehler, so schlimm sie auch gewesen sein mögen, sei kein Friede möglich. Und wer dies zu Lebzeiten nicht versuche, könne später auch nicht auf die Erlösung im Paradies hoffen.

      Derart eingestimmt, hören die Gefangenen dann der Gefängnisleiterin zu, die in einer kurzen Ansprache darüber informiert, was in den nächsten zwei Stunden zu sehen und zu hören sein wird. Um die Vergangenheit soll es gehen, um Verbrechen, die den Namen Ruandas auf traurige Weise in der ganzen Welt bekannt gemacht hätten und die nun, so sei beschlossen worden, in einer Weise aufgearbeitet werden sollen, die neu sei, und zwar ebenfalls in der ganzen Welt. Mehr wolle sie dazu jetzt nicht sagen, sondern das denen überlassen, die speziell zu diesem Zweck heute gekommen seien. Damit geht sie über zur Begrüßung und Vorstellung der Mitarbeiter von Internews, des Vertreters des Justizministeriums sowie des Gacaca-Beauftragten der Provinz Byumba. Nach jeder Namensnennung klatschen die Gefangenen höflich und auch ich, der ich nach den Worten der Gefängnisleiterin von weit her gekommen bin, um Ruandas Umgang mit der Vergangenheit kennenzulernen, werde mit Applaus bedacht. Die kurze Ansprache schließt mit der Ermahnung, offen zu sein für das, was gleich komme, und keine Scheu zu haben, Fragen zu stellen.

      Dann beginnt der Film. Zu sehen ist zunächst eine Bildersequenz mit Aufnahmen vom Völkermord. Machetenschwingende Männer auf dem Weg zu einem Mordeinsatz; Straßensperren, an denen einzelne Personen aus einer Gruppe von Menschen herausgegriffen und getötet werden; ein fußballfeldgroßer Platz übersät mit Leichen, Männer, Frauen und Kinder grässlich verstümmelt in der Sonne liegend, deren Licht das Rot des Blutes zur dominierenden Farbe macht. Dieses Bild, die Hunderten von Toten auf einem Platz, begleitet die Zuschauer den gesamten Film über. Jedes Mal eingeblendet, wenn ein neues Thema angesprochen oder ein altes wieder aufgegriffen wird. Und jedes Mal ist die Reaktion des Publikum die gleiche: ein Aufstöhnen geht durch die Reihen, einzelne Rufe der Entrüstung sind zu hören, Blicke werden gesenkt und Augen mit Händen verdeckt.

      Am Ende des Rückblicks auf den Völkermord ertönt eine Stimme aus dem Off. Drei Gerichtsbarkeiten, erklärt sie, seien derzeit mit der Ahndung der Völkermordverbrechen befasst. Die Erste sei das internationale Tribunal in Arusha. Es urteile über die, die den Völkermord geplant und organisiert hätten, die ihre hohe Stellung in Staat und Gesellschaft für ihre verbrecherischen Ziele missbraucht hätten

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