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Was sollte, diesseits der Ebene unterschiedlichster individualpsychologischer Dispositionen, geschehen, damit auch aufseiten der Täter eine aktiv betriebene Vergangenheitsaufarbeitung möglich ist? Und, diesen Überlegungen vorangestellt und allgemeiner: Warum ist es überhaupt von Bedeutung, diesen Fragen am ruandischen Beispiel nachzugehen? Welches kann und sollte das Ziel einer von außen kommenden Beschäftigung mit dem Völkermord in Ruanda sein?

      Sich über das Verhältnis von Verbrechen, die in anderen Ländern begangen werden, und über unsere angemessene Reaktion darauf Gedanken zu machen, legt nahe, mit Immanuel Kant zu beginnen. In seiner 1795 erschienenen Schrift »Zum ewigen Frieden« findet sich die folgende Passage:

      »Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.«3

      Die Passage steht am Ende des dritten und letzten der Definitivartikel, die einen dauerhaften Frieden gewährleisten sollen, und sie steht dort ziemlich unvermittelt. Überschrieben ist der Artikel mit »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein«, und in dieser Formulierung ist er die nach Kant logische Folgerung aus den kritikwürdigen Zuständen im europäischen Kolonialismus. Zwar habe »ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht […] als der andere«, doch hätten europäische Nationen ihr Besuchsrecht bei fremden Ländern und Völkern auf schreckliche Weise missbraucht, da der Besuch durchweg zu einer Eroberung geworden sei, die allerlei Übel gezeitigt habe.4 Begleitet worden seien die Verstöße gegen das Hospitalitätsrecht von einer selbstgerechten Arroganz der Eroberer,5 wobei – das sagt Kant nicht, muss aber aus Gründen der inhaltlichen Verbindung zur zitierten Textpassage gedanklich hinzugefügt werden – das eine wie das andere umso schärfer ins Auge fällt, als sich im Rahmen der kolonialen Expansion eine globale öffentliche Sphäre herausgebildet hat, in der derartige Missstände bekannt gemacht werden können. Die Welt ist enger zusammengerückt, eine »im Entstehen begriffene Infrastruktur der Nachrichtenübermittlung« führt dazu, dass Rechtsverletzungen nicht nur mitgeteilt werden können, sondern die europäischen Bevölkerungen darüber hinaus mit den Entrechteten mitzufühlen in der Lage sind.6

      In der Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts war dies eine naturgemäß utopische Vision. Ein Weltbürgerrecht über die kommunikative Kraft des wechselseitigen Wissens zu konstruieren, in diesen Kontext auch eine wachsende Beachtung von Menschenrechten zu stellen und aus beidem die beständige Annäherung an einen sich ausbreitenden Friedenszustand zu folgern, weist weit über den damaligen Status quo hinaus. Noch waren die Staaten die einzigen Rechtssubjekte, war ihre Souveränität nach innen ein Freibrief für den Umgang mit der eigenen Bevölkerung, wie ihre Souveränität nach außen dem Machtstreben freien Lauf ließ, einschließlich des Rechts der freien Kriegführung. Dass Menschen Individuen mit auch völkerrechtlich zu beachtenden Rechten sind, dass eine Verletzung dieser Rechte zugleich eine Verletzung fundamentaler Normen darstellt, auf die, eben weil sie die »öffentlichen Menschenrechte« betreffen, reagiert werden muss, war eine Vorstellung, die sich keineswegs in der Realität spiegelte.7 Und daran sollte sich auch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nichts ändern.

      Mittlerweile umfasst die durch die Änderung im 20. Jahrhundert angestoßene Entwicklung schon viele Jahrzehnte. Wenn auch der Staat immer noch das primäre Völkerrechtssubjekt ist, so ist der individuelle Mensch ihm längst nicht mehr schutzlos ausgeliefert. Er hat ganz im Gegenteil insofern ebenfalls den Status eines Völkerrechtssubjekts erhalten, als eine Reihe von Völkerrechtsverträgen Staaten zur Beachtung der Menschenrechte verpflichten, deren wichtigste gewohnheitsrechtliche und sogar zwingend verpflichtende Rechtskraft haben. Um seine Ansprüche gegen die rechtsverletzende Staatsmacht durchzusetzen, kann das Individuum heute vor internationalen Instanzen rechtliche Schritte unternehmen und erforderlichenfalls Klage einreichen, es kann aber auch wegen der Verletzung internationaler Normen namentlich aus dem Bereich des Völkerstrafrechts vor Gericht gestellt und verurteilt werden.8 Beides zusammen hat aus den Rechten, die dem Menschen kraft seiner Menschheit zustehen (ob unmittelbar wie beim Recht der Menschenrechte oder, wegen seiner anderen Zielrichtung, mittelbar wie beim humanitären Völkerrecht) eine immer präzisere Kategorie für rechtliches und politisches Handeln gemacht. Menschenrechte haben eine universelle Evidenz gewonnen,9 die den ihr zugrunde liegenden normativen Bestand im Staats- und Völkerrecht zu einem öffentlichen Menschenrecht im Sinne Kants vereint. Und was den »ewigen Frieden« anbelangt, der unter diesen Umständen näher rücken soll, so ist tatsächlich festzustellen, dass die Welt in den zurückliegenden Jahrzehnten friedlicher geworden ist. Gefühlt mag es eine Zunahme an Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen gegeben haben, faktisch ist jedoch die Zahl zwischenstaatlicher und innerstaatlicher bewaffneter Konflikte teilweise deutlich zurückgegangen.10

      Da somit alle Folgerungen der Kant’schen Beobachtung eingetreten sind, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass aus aktueller Sicht auch die Voraussetzung zutreffend sein muss: eine Rechtsverletzung an einem Platz der Erde wird an allen gefühlt. Der Terminus »Rechtsverletzung« stellt dabei klar, dass Voyeurismus als alleiniges Motiv für die Entstehung des Gefühls ausscheidet (die menschliche Natur sollte nicht zu sehr überfordert werden). Es muss auch ein Recht verletzt worden sein, das als fundamental empfunden wird, und zwar als so fundamental, dass sich über alle Kulturgrenzen hinweg mühelos die Überzeugung bildet »Hier ist etwas geschehen, was nicht hätte geschehen dürfen«. Ins materielle Recht übertragen bedeutet das: Verbrechen sind begangen worden, die die normativen Grundfesten der Welt erschüttern, die aufgrund ihrer Schwere jeden Menschen betreffen und darum, wie es in der Präambel zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs heißt, »die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren«.11 Die Art dieser Verbrechen ergibt sich aus der Auflistung im Römischen Statut (Artikel 5), es sind das Verbrechen des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen des Angriffskrieges.

      Damit kann an dieser Stelle festgehalten werden: Der aktuelle Rechtszustand scheint die Beobachtung Kants zu beglaubigen. Deren Plausibilität ist derart, dass nicht erkennbar ist, mit welchen durchschlagenden Argumenten (die hauptsächlich der Schule des politischen Realismus entstammen) sie angegriffen und beseitigt werden kann.12 Die Existenz machtpolitischer Realitäten und fragwürdiger Allianzen ändert nichts daran, dass es weltweit einen Mindestbestand gemeinsamer Rechtsüberzeugungen mit einem strafbewehrten Schutz gibt. Von den 193 UN-Mitgliedstaaten sind 124 dem Römischen Statut beigetreten, weitere 28 haben das Statut unterzeichnet, stimmen folglich seinem Inhalt zu und planen einen Beitritt. Und die 41 Staaten, die das Statut bislang noch ablehnen (Stand: März 2016), verweisen zur Begründung nicht etwa auf ihre Opposition gegen den bestimmten Taten unterstellten Unrechtshalt, sondern sie befürchten eine zu große Beschneidung ihrer nationalen Souveränität, sollten eigene Staatsangehörige vor dem Internationalen Strafgerichtshof erscheinen müssen. Im Ergebnis heißt das, de lege lata machen das Völkerrecht und, dadurch beeinflusst, das einzelstaatliche Recht massive Rechtsverletzungen »an allen Plätzen« der Welt fühlbar.

      Wie aber kann das, was theoretisch möglich ist, in die Praxis umgesetzt werden? Wie – und mit welcher Folge – kann und soll eine Rechtsverletzung von der internationalen öffentlichen Meinung wahrgenommen werden? Was sind also, um die Überschrift dieses Abschnitts noch einmal aufzugreifen, Formen des legitimen Umgangs mit fernen Verbrechen?

      Eine nahe liegende Antwort dürfte lauten: Sie müssen zunächst einmal publik gemacht werden. Ohne Informationen über das Geschehene ist dessen Einordnung und Bewertung nicht möglich. Ein klassisches und vielleicht auch erstes Beispiel hierfür ist die Berichterstattung des britischen Korrespondenten William Howard Russell von den größeren Kriegsschauplätzen des 19. Jahrhunderts. In die zeitgenössische Berichterstattung, die, militärischen oder patriotischen

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