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Oberschenkelknochen sind es zumeist. Dicht an dicht liegen sie, manchmal auch mehrere übereinander. Ein Kondolenzbuch lädt dazu ein, Wünsche, Gedanken, Hoffnungen zu äußern. Die Betroffenheit der Besucher ist mit den Händen zu greifen. Immer wieder der Appell »never again«. »Manchmal haben wir den Eindruck«, sagt die Frau, und der Mann nickt zustimmend, »als kämen die Menschen zu uns aus einer anderen Welt«.

      Die Kirche in Nyamata ist um einiges größer als die Kirche von Ntarama. Auf den ersten Blick sieht sie längst nicht so beschädigt aus wie die Kirche von Ntarama, wo Löcher in die Wände geschlagen wurden, damit die Mörder eindringen konnten. Im Innern jedoch sind die Spuren der Mordaktion unübersehbar. Rund um den Altar ist der Betonboden dunkel gefärbt, auch das Altartuch hat eine rostbraune Färbung. Ein wahrer Blutsee muss in der Kirche gestanden haben. Eine Ahnung von dem, was hier geschehen ist, geben auch die vielen kleinen Lichtsäulen in der Kirche. Es ist das Sonnenlicht, das durch Löcher strahlt, die von Handgranatensplittern ins Wellblechdach geschlagen wurden. Um das Töten zu beschleunigen, hatten die Täter Handgranaten in die Menge geworfen. Ausgeklügeltere Methoden des Tötens zeigen Instrumente, die in einem Nebenraum ausgestellt sind. Angespitzte Stöcke, die in Körperöffnungen gestoßen wurden, zählen da augenscheinlich noch zu den eher herkömmlichen Varianten.

      Ansonsten ist bei der Präsentation des Verbrechens der Unterschied zwischen 5000 Toten und 50 000 Toten nicht groß. Schädel und Knochen sind zu Hunderten und Tausenden ausgestellt. Einschnitte in den Knochen, Risse und Löcher in den Schädeldecken geben eine Ahnung davon, wie der dazugehörende Mensch gestorben sein muss. Bekanntere Persönlichkeiten sind vor der Kirche beigesetzt. Dort befindet sich auch das Grab von Tonia Locatelli, einer italienischen Entwicklungshelferin, die schon im März 1992 bei dem Versuch, ein Massaker an den Tutsi von Nyamata zu verhindern, getötet wurde und heute als das erste weiße Opfer des Völkermords gilt.

      Wenige Tage später dann Murambi. Nichts weist auf das hin, was hier zu sehen sein wird. Wie die Karikatur eines Hausmeisters bei einer Schulinspektion läuft ein Mann eilfertig von Tür zu Tür eines ehemaligen Schulgebäudes. Er stößt eine Tür auf, verharrt kurz und eilt, ohne das Ankommen des Besuchers abzuwarten, weiter zur nächsten Tür. Wer den ersten Raum mit ohnehin schon dunkler Vorahnung betritt, bleibt abrupt stehen. Nicht menschliche Totenschädel oder Gebeine erwarten ihn, sondern mumifizierte Leichen, die auf Brettergestellen abgelegt wurden. Etwa fünfzig pro Klassenraum. Eng nebeneinander die Erwachsenen, auf gleicher Länge übereinander die Kinder. Kleinkinder oder Babys liegen, so scheint es, bei ihren Müttern oder Vätern, da die Körper in ihrer Lage wie zueinandergehörig wirken. Einige haben noch Reste ihrer Kopfbehaarung, andere zeigen Spuren tödlicher Verletzungen, in der Regel am Kopf, der das bevorzugte Ziel von Hieb- und Schlagwaffen gewesen sein muss. Am 23. April 1994 habe das Morden in Murambi begonnen, sagt Emmanuel Murangira am Ende des Gangs, als ich zu ihm aufschließe, noch halb betäubt vom Geruch der vielen mumifizierten Leichen. Zur besseren Konservierung wurden sie mit einer kalkartigen Substanz bestreut, was ihnen nicht nur ein gespenstisches Aussehen gibt. Auch die Luft in den stickigen, von außen mit Plastikplanen abgedunkelten Klassenräumen ist ekelerregend schlecht. Es ist beinahe so, als würde sie in jede Pore eindringen und mit jedem Atemzug intensiver und gegenständlicher schmecken. »Ich bin hier für meine Frau und meine fünf Kinder«, fährt Emmanuel Murangira fort. »Nach einem tagelangen Martyrium – die Belagerer hatten die Wasserleitung zur Schule unterbrochen und keine Nahrungsmittel mehr hineingelassen –, wurden sie hier umgebracht. Zusammen mit 50 000 anderen.« Er selbst hat wie durch ein Wunder überlebt. Eine Kugel verletzte ihn an der Stirn. Für die Mörder war er wegen der Wunde, deren Spuren heute noch deutlich zu sehen sind, so sicher tot, dass nicht noch einmal geschossen oder zugeschlagen werden musste. »Vielleicht liegen meine Frau und Kinder auch auf den Gestellen. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich aber liegen sie noch in einem der Massengräber da oben«, meint Emmanuel Murangira und zeigt zum Eingang des Schulgeländes. »Ich jedenfalls gehe hier nicht mehr weg. Ich weiß, was hier geschehen ist und werde darüber reden.« Und wieder erzählt er von den Tausenden Tutsi-Flüchtlingen im Schulkomplex. Davon, dass die Behörden nur vier Polizisten zu deren Schutz abstellen wollten, von ihrer Verzweiflung und von dem Furor, mit dem die Hutu-Mörder von nah und fern sich an das Morden gemacht hätten. Sie seien jetzt (»aber noch längst nicht alle«) in Sichtweite im Gefängnis auf dem gegenüberliegenden Hügel, sie seien es auch gewesen, die die Leichen, die in den Klassenräumen zu sehen seien, hätten exhumieren müssen. »So werden sie immer an ihre Taten erinnert«, schließt Emmanuel Murangira in einem Anflug bitterer Zufriedenheit.

      Erinnern. Erinnerung. Worte, die in Ruanda in vielen Gesprächen fallen und an vielen Orten visualisiert werden. Nicht nur in größeren Städten oder an den Hauptschauplätzen des Völkermords, auch in kleineren Dörfern und an den vielen kleinen Plätzen, wo Menschen umgebracht wurden. Ein kurzer Halt nur an einem der Kreuze oder Gedenksteine, an einer handbeschriebenen Holztafel oder einer Steinplatte, die ein Massengrab abdeckt, und schon kommen eine Frau oder ein Mann herbeigelaufen und erklären, was dort 1994 geschehen ist, wie vieler Toter an dieser Stelle gedacht wird und wie wichtig diese Form der Erinnerung ist, als Mahnung an die vielen noch unentdeckten Täter und als Aufruf, künftig wachsam zu sein. Das steht zwar so oder so ähnlich oft auch auf den Tafeln an den Gedenkstätten, zusätzlich zu Kinyarwanda meist in Französisch oder Englisch, aber mündlich bekräftigt scheint es Information und Botschaft in besonderer Weise zu beglaubigen, ganz so, wie es das Selbstverständnis der landesweit größten Opferorganisation Ibuka (Erinnere dich!) einfordert. »Welch’ bessere Antwort auf den Schrecken der Verbrechen gibt es in der heutigen Welt, als unbeirrbar davon Zeugnis abzulegen«, lautet eine ihrer Handlungsempfehlungen, nachzulesen auf dem Eingangstor zu einem Gedenkort an der Straße von Kigali nach Nyamata und Ntarama.1

      Die Erinnerung an den Völkermord und das Sprechen über die Massaker sind jedoch, das wird schnell klar, nicht auf die Vergegenwärtigung der Vergangenheit beschränkt. Es geht nicht nur um die Sammlung und Bewahrung von Informationen, um Manifestationen der Betroffenheit und guten Absicht, also um das Gedenken an sich, damit das, was allgemein als Lernen aus der Geschichte bezeichnet wird, überhaupt möglich wird. Die verschiedenen Formen der Erinnerung sind vielmehr auch und vor allem ein Vehikel, um die Täter des Völkermords strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu können. Immer zahlreicher werden die am Straßenrand aufgestellten Tafeln, die in großen Lettern von der Gacaca-Justiz künden. Selbst in entlegenen Regionen sind sie anzutreffen und fallen auch sofort auf, da sie ihre Botschaft auf mehreren Quadratmetern verkünden. Auf einem Hintergrund, der an den Völkermord und dessen Folgen erinnert – neben den Großaufnahmen einer Frau und eines Mannes, deren Gesichtsausdruck und Haltung tiefste Erschütterung und Verzweiflung zeigen, sind links ein brennendes Haus, vor dem ein mit einer Machete bewaffneter Mann steht, und rechts Szenen aus Gerichtsverhandlungen sowie zwei Frauen zu sehen, die bei der Feldarbeit sind und in einer Mischung aus Angst und Scham ihre Blicke auf etwas richten, das in der Nähe auf dem Boden liegen muss – ist zu lesen: »Gacaca-Gerichte«. Darunter: »Die Wahrheit heilt. Wenn wir gestehen, was wir getan haben, wenn wir sagen, was wir gesehen haben, wird das unsere Wunden schließen.«

      Geplant ist, dass über eine landesweite Reaktivierung der traditionellen Gacaca-Justiz die justizielle Aufarbeitung des Völkermords beschleunigt werden soll. Es heißt, dass über 120 000 Völkermordverdächtige in den Gefängnissen Ruandas sitzen, unter größtenteils entsetzlichen Haftbedingungen. Die ordentliche Justiz des Landes ist überfordert. »Zwischen 1000 und 1500 Verfahren kann sie im Jahr durchführen«, erklärt mir Jean de Dieu Mucyo, der Justizminister, »und der Internationale Strafgerichtshof in Arusha befasst sich nur mit den Organisatoren des Völkermords, nicht mit den vielen anderen Tätern«, ergänzt er noch. Bis zum Herbst 2002 sollen in zwei Etappen gut 700 Gacaca-Gerichte geschaffen werden. Sind die Erfahrungen, die in den Pilotverfahren, die der Informationsbeschaffung und Sachverhaltsklärung dienen und noch nicht mit einem Urteil enden sollen, ermutigend, soll ihre Zahl so erhöht werden, dass es bis hinunter zur untersten Verwaltungseinheit, der Zelle, je ein Gericht gibt. Das wären dann über 10 000 Gacaca-Gerichte. »Wichtig ist«, so noch einmal Mucyo, »dass wir uns mit unserer traurigen Vergangenheit in einer Weise auseinandersetzen können, die zu unserer Kultur gehört, die den Menschen in Ruanda etwas sagt. Sonst wird es keine Versöhnung geben.«2

      Einen ersten konkreten Eindruck von dem ruandischen

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