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bleiben, wenn in die eine wie die andere Richtung nuancierter argumentiert wird, da es für Zwischentöne offensichtlich keinen Raum gibt. Guter oder böser Wille, blinde Zustimmung oder harsche Ablehnung können es allein nicht sein. So wie es deutliche Belege für einen beeindruckenden Fortschritt gibt, so gibt es ebenso deutliche Belege für zahlreiche Verbrechen, an deren Begehung der ruandische Staat beteiligt war, und sie stammen nicht nur aus der Zeit von Krieg und Völkermord, sondern auch aus dem Umfeld des letzten Präsidentschaftswahlkampfs vom August 2010 und sogar noch aus jüngster Zeit.

      Nein, es ist anzunehmen und wird sich auch als zutreffend erweisen, dass das, was diese letztlich radikale Gegensätzlichkeit in der Wahrnehmung Ruandas erklärt, eng damit zusammenhängt, welcher Gebrauch von der jüngsten Vergangenheit des Landes gemacht wird. Denn dabei geht es um einiges. Es geht um die Deutungshoheit und Bestimmung eines Narrativs nach massiver Gewalterfahrung, um den Stellenwert von Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung beim Aufbau eines Staates und bei der Befriedung einer Gesellschaft, letztlich also – und vor dem konkreten Hintergrund nicht verwunderlich – um fundamentale Fragen der Moral und, je nach Perspektive, ihrer zynischen Umkehrung, die sich gleichwohl den Anschein höchster Moralität gibt. Auf diese Weise sind Projektionsflächen entstanden, die sich weiter verfestigen und auf denen die Meinungen und Handlungen der jeweils anderen Seite zwischen falsch, verhängnisvoll und verbrecherisch angesiedelt werden. Was für die einen Ausweis gelungener Versöhnung, ist für die anderen nur billiges Politspektakel. Wo die einen wirtschaftlichen Fortschritt erkennen, sehen andere gefährliche Trugbilder.

      Eine Untersuchung über Ruanda zu schreiben, ist somit ein Unternehmen, das sich zwischen Extremen bewegt. Die Wahrheit in der oft beschworenen Mitte zu suchen, scheidet aus. Die ruandische Realität ist zu komplex und widersprüchlich, als dass einzelne ihrer Phänomene gegeneinander aufgerechnet werden könnten. Außerdem kann das, was in ihr kritikwürdig zu sein anmutet, nicht einfach durch sein Gegenteil gewissermaßen neutralisiert werden, ganz davon abgesehen, dass sich das als kritikwürdig Erscheinende unter gewissen Voraussetzungen sogar als alternativlos darstellen mag. Die Medienpolitik Ruandas beispielsweise ist selbst im afrikanischen Kontext als restriktiv zu bezeichnen. Zensur ist an der Tagesordnung, Journalisten werden verfolgt und verlassen das Land. Trotzdem klingt es durchaus nachvollziehbar, wenn die Regierung die rigiden Pressegesetze und die Kontrolle der Medien damit rechtfertigt, dass die Medien – Stichwort: Hassradio – eine Schlüsselfunktion bei der Durchführung des Völkermords gespielt hätten.

      Doch wo sinnvollerweise ein Gesamtblick auf eine Entwicklung geworfen werden sollte, ist wegen der Fülle der zu verarbeitenden Informationen die Gefahr inhaltlicher Aussagelosigkeit nicht weit, die im Ergebnis mit der Sprachlosigkeit gleichzusetzen ist, von der der bosnische Jurist Jacob Finci einmal im Gespräch berichtete. Bei Wissenschaftlern, die durch den Besuch von Schauplätzen der Massengewalt Empirie und Theorie anschaulich verbinden wollten, stellte er fest: »Diejenigen, die zu uns nach Sarajewo kamen, um mehr über den Krieg und dessen Auswirkungen zu erfahren, lassen sich«, so Finci, »in drei Gruppen unterteilen. Die erste Gruppe bleibt wenige Wochen, hat alles verstanden und kann alles erklären und ihren Publikationen ist dann auch jeder Zweifel fremd. Die zweite Gruppe bleibt länger, in der Regel einige Monate, in denen sie die vergangene Kriegsgewalt gewöhnlich unter einer bestimmten Fragestellung untersucht. Am Ende ist die Frage beantwortet, die Master- oder Doktorarbeit sieht ihrer Vollendung entgegen. Verstehens- und Erklärungsfähigkeit sind zwar nur auf einen Geschehensausschnitt beschränkt, werden aber notfalls mit der für Halbwissende typischen Vehemenz vertreten. Die dritte Gruppe von Wissenschaftsbesuchern, zahlenmäßig die kleinste, bleibt schließlich länger als ein Jahr oder kehrt immer wieder für längere Zeit zurück. Eine Publikation, die Spiegel des Aufenthalts sein könnte, erscheint dennoch nicht. Es erscheint gar nichts, weil die Fähigkeit zu schreiben abhanden gekommen ist. Das ursprüngliche Forschungsvorhaben, noch aus der Ferne formuliert, hat sich nämlich laufend infolge der wechselnden Eindrücke und des wachsenden Einblicks verändert. Was vorher noch klar gewesen ist, ist es jetzt nicht mehr. Statt Antworten entstehen ständig neue Fragen.«

      Das vorliegende Buch ist das Resultat einer langjährigen Beschäftigung mit Ruanda. Sie begann 2002, als sich das Land anschickte, sich mit Hilfe der Gacaca-Justiz2 intensiv seiner jüngsten Vergangenheit zuzuwenden, als die politische Übergangszeit zu Ende ging und Vorbereitungen getroffen wurden für die Annahme einer neuen Verfassung und für die Durchführung von Präsidentschafts- sowie Parlamentswahlen, den ersten Wahlen, die, wie die neue Verfassung versprach, frei und gleich sein sollten. Sie endete zunächst 2012 mit dem offiziellen Abschluss der Gacaca-Justiz, geht dann aber noch kursorisch auf die Entwicklung bis 2015 ein. Zu diesem Zeitpunkt ist die Untersuchung schon lange nicht mehr nur auf Ruanda bezogen, sondern nimmt auch dessen Verhältnis zum großen Nachbarn Kongo und die Situation in den Grenzregionen in den Blick. Dazwischen liegen weitere Stationen der Untersuchung, die sich auf die verschiedenen Phasen der juristischen Aufarbeitung des Völkermords vor allem durch die Gacaca-Gerichte beziehen, auf eine tiefgreifende Verwaltungsreform, die forcierte Öffnung des Landes für ausländische Investitionen, das hohe Wirtschaftswachstum, aber auch auf Putschversuche, die Ausschaltung von Regimegegnern, eine allgemeine Verschärfung des innenpolitischen Klimas, erneute Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sowie offene und verdeckte Militäroperationen in der Demokratischen Republik Kongo. Und dazwischen liegt auch die Rezeption einer beständig steigenden Wahrnehmung des Landes durch Medien und Literatur. Die Versuche Ruandas und seiner Bevölkerung, aus dem Schatten der gewaltgeprägten Vergangenheit zu treten, boten reichlich Stoff für Artikel, Filme und Reportagen, und die Zahl der Bücher, Fachpublikationen und Romane, die vornehmlich in Europa und Nordamerika erschienen sind, ist kaum noch zu überblicken.

      Wenn im Folgenden auf alle diese Entwicklungen eingegangen wird, spiegelt sich darin die Weiterung des Untersuchungsansatzes, die nicht geplant war. Es sollte zunächst um Gacaca gehen und um die Frage, ob und inwieweit sie eine sinnvolle Variante der Transitional Justice ist. Dass dabei auch historische Abläufe zu berücksichtigen sein würden, erschien angesichts der bekannten Vorgeschichte des Völkermords als selbstverständlich, nicht aber, in welchem Ausmaß darüber hinaus das Augenmerk auf Aspekte gelegt werden musste, die normalerweise weit ab von der Justiz anzusiedeln sind. Als eine von drei klassischen Staatsgewalten steht sie überall dort, wo es Gewaltenteilung gibt, in einer Wechselbeziehung zu den übrigen Gewalten. Insofern stellt Ruanda keine Ausnahme dar. Auffallend ist dort jedoch, wie sehr die Justiz – allen voran die Gacaca-Justiz – als Aushängeschild eines neuen Ruanda präsentiert wird, eines Ruanda, das entschlossen die Lehren aus der Vergangenheit zieht und mit gleicher Entschlossenheit die Herausforderungen der Zukunft annimmt. Alles wird umgestaltet – Verwaltung, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft – und immer ist es die Justiz, die den Legitimationsrahmen liefert. Wer ihre Botschaften verstehen will, sollte den außerjustiziellen Bereich kennen. Und wer diesen kennt, weiß, warum die ruandische Justiz so funktioniert, wie sie funktioniert.

      Ausgangs- und Zielpunkt ist immer und überall der Völkermord. Die Tatsache, dass er geschehen konnte und von den Konstrukteuren eines neuen Ruanda beendet wurde, erlaubt keine kritischen Nachfragen. Das ist zunächst überaus verständlich. Immerhin geht es um mehrhunderttausendfachen, insgesamt sogar um millionenfachen Mord. Es geht um Überlebende, die nicht aus der Endlosschleife der Gewalt in ihren Köpfen herauskommen und deren Traumatisierung sich auf das soziale Umfeld überträgt. Es geht um Täter, die das »Weiterleben« allein für sich fordern und wieder ihren Platz in der ruandischen Gesellschaft beanspruchen. Und es geht um die unaufhörlich praktizierte Umkehrung von Täter und Opfer, nicht etwa aus politischem Kalkül, sondern aus Überzeugung und mit großem Skandalisierungspotenzial. Dass das Land mit etwa 26 000 km2 zu den kleinsten Afrikas gehört und zugleich mit über 400 Einwohnern pro Quadratkilometer die zweithöchste Bevölkerungsdichte des Kontinents hat (nur in Mauritius leben mehr Menschen auf dem Quadratkilometer), befördert noch die Entstehung und Intensivierung widersprüchlicher Emotionen. Wo Nachrichten und Gerüchte im Nu von Nord nach Süd oder von West nach Ost durch das Land eilen und jeweils eigene Wahrheiten schaffen, ist immer wieder Raum für Grundsätzliches, das umso apodiktischer vertreten wird, je bedeutungsvoller sein Erörterungsgegenstand erscheint. Und was kann bedeutungsvoller sein als die Frage von Leben und Tod, wie sie in einem Völkermord und dem Umgang damit allgegenwärtig ist. Sie lässt niemanden gleichgültig und fordert den Staat, Vorkehrungen zu treffen, um den

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