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der ein unbestreitbar sinnvolles Ziel durchaus auch kompromisslos durchzusetzen versucht, und einer Politik, die jede Kritik mit dem Hinweis auf den Völkermord und seine imperativen Lehren zum Schweigen bringt, um zuallererst den eigenen Herrschaftsanspruch zu sichern? Da, wo Machtpolitik zu Willkür und Unterdrückung wird, könnte man sagen, wo Transitional Justice ein Deckmantel ist zur Kaschierung von Interessen, die notfalls mit Gewalt – und nicht nur der justiziellen – durchgedrückt werden, wo also, in anderen Worten, die Vergangenheit ohne Rücksicht auf ihre Opfer instrumentalisiert wird.

      Eben dies geschah in Ruanda, und es geschieht dort bis heute. Nicht in einer Weise, die es sofort auffällig gemacht hätte oder die sich im täglichen Leben immer noch unmittelbar bemerkbar macht. Die Verantwortlichen in Ruanda wissen, dass die Entwicklung des Landes, dessen Name und Lage vormals nur vergleichsweise wenigen bekannt war und das heute gleichwohl eindeutige Assoziationen weckt, aufmerksam verfolgt wird, weit aufmerksamer jedenfalls als die anderer Länder der Region. Die Verantwortlichen wissen auch, dass Ruanda zu einer Art Testfall für die Entwicklungsfähigkeit subsaharischer Staaten geworden ist: weg von Diktatur, Gewalt und Krieg, hin zu Demokratie, Rechtsstaat und Frieden. Diese Erwartungen bedienen sie mit großem Erfolg. Nicht nur rege Bautätigkeiten und zahlreiche Investitionsprogramme, auch Hinweistafeln und Plakate, die bis in die letzten Winkel des Landes hinein von Einheit und Versöhnung künden, sind augenfällige Zeugen eines Aufbruchs, der nahezu Bilderbuchcharakter hat.

      Es gibt allerdings auch ein anderes Ruanda. Es ist das Ruanda, das sich dem ausländischen Besucher erst nach einiger Zeit zu erschließen beginnt. Und dieses Ruanda ähnelt sehr der bereits erwähnten zweiten Seite dieses Landes, nur dass sich die Gewalt weitaus subtiler vollzieht. Die Repression funktioniert lautlos, die Werkzeuge sind oft genug gezeigt worden, jede Ruanderin und jeder Ruander kennt sie und weiß, dass ein Aufbegehren zwecklos ist. Umso leichter fällt es der Staatsmacht, die dunkle Seite des Regimes unsichtbar zu machen. Die an europäischen oder nordamerikanischen Universitäten geschulte Rhetorik ihrer Repräsentanten in Sachen Entwicklung, Selbstbestimmung und Menschenrechte, deren eisenharte und doch einnehmende Argumentationsweise und der, bei wachsendem Widerspruch zu internationalen Rechtsstandards, zuverlässige Verweis auf die gemeinschaftsbildende ruandische Tradition lassen den Eindruck entstehen, in einem Land zu sein, das selbstbewusst und mit der gebotenen Energie auf dem Weg in eine bessere Zukunft ist.

      Wer wollte da an Gewalt und Unterdrückung denken? Wer es dennoch tat, wurde umgehend korrigiert. Weil der Völkermord Ruanda als ein Beispiel für Zivilisationsversagen in die Menschheitsgeschichte eingeschrieben habe, hieß es dann sinngemäß, stünde es Vertretern dieser Zivilisation, die Menschenrechte und deren Schutz in fein ziselierter Ausprägung auf ihre Fahnen geschrieben hätten, nicht an, den Leidtragenden dieses Versagens Vorwürfe zu machen. Ermutigende Begleitung beim Staatsaufbau sei angeraten, ansonsten Zurückhaltung die angemessene Reaktion.

      Als ich im Frühsommer 2002 erstmals nach Ruanda reiste, bedurfte es dieses Rats nicht. Das Verbrechen war, so dachte ich, zu groß und zu eindeutig. Gut und Böse waren klar getrennt. Täter waren Täter, und Opfer waren Opfer. Dazu gab es noch die Perspektive einer Vergangenheitsaufarbeitung, die traditionelle ruandische Werte mit der Lösung eines gewaltigen innergesellschaftlichen Konflikts zu verbinden versprach. Getragen von gesamtgesellschaftlicher Ermutigung sollten Täter und Opfer friedlich, ja baldmöglichst versöhnt zusammenleben. Das verdiente einfach ein besonderes, wohlwollendes Interesse, umso mehr als es, wie im ersten Teil des Buchs dargestellt, ein von seinem Umfang und von seiner Intensität her betriebenes Vorhaben war, das im Vergleich mit den Erfahrungen anderer Länder seinesgleichen suchte. Wie zu sehen sein wird, waren die Hoffnungen, die an Gacaca geknüpft wurden, trotz einiger Bedenken auf Seiten der Opfer riesig. Gerechtigkeit sollte stattfinden und über den Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung eine Geschichte des Landes geschrieben werden, in der sich möglichst viele Ruanderinnen und Ruander wiederfinden und die darum ein umso solideres Fundament für das künftige Zusammenleben abgeben würde.

      Es sollte jedoch nicht lange dauern, bis deutlich wurde, dass das Drehbuch für diese Geschichte nicht von den Ruanderinnen und Ruandern selbst geschrieben werden würde. Es waren die neuen Machthaber, die das Drehbuch verfassten. Die meisten von ihnen hatten den größten Teil ihres Lebens im Exil in der anglophonen Nachbarschaft Ruandas (Uganda, Tansania) verbracht und ziemlich klare Vorstellungen davon, was nun geschehen sollte und vor allem, wie sie es erreichen wollten. Eine Vorahnung davon erhielt ich bereits während der ersten Gacaca-Pilotverfahren, die ich besuchte. Es bestand auf offizieller Seite eine klare Vorgabe, was verhandelt werden sollte. Wenn auch das anzuwendende Recht so formuliert war, dass es allgemein und ohne Beschränkung auf eine Tätergruppe galt, ließen Gacaca-Beauftragte des Staates doch keine Zweifel daran, dass nur Völkermordverbrechen angeklagt werden würden, Verbrechen von Hutu an Tutsi also. Umgekehrte Verbrechenskonstellationen, das heißt Verbrechen von Tutsi an Hutu, während und nach der Eroberung des Landes und der Beendigung des Völkermords begangen, gehörten logischerweise nicht dazu. Noch sagten die Beauftragten das nicht laut und bestimmt. Die weit verbreitete Hoffnung, mit der die Menschen in Ruanda der justiziellen Beschäftigung mit Krieg und Völkermord entgegensahen, sollte nicht zu sehr erschüttert werden.

      Diese Zurückhaltung gab es 2003 und endgültig 2004 nicht mehr. Wie ich im zweiten Teil des Buchs darstellen werde, sind die neue Verfassung sowie die Wahlen des Jahres 2003 und deren Ergebnisse ein unmissverständlicher Hinweis auf den Willen der neuen Führung, die Macht nicht aus den Händen zu geben. Die Selbstlegitimierung duldete keinen Widerspruch, erst recht nicht nachdem 2004 der zehnte Gedenktag an den Völkermord begangen worden war. Inmitten weltweiter Aufmerksamkeit (nicht allerdings in entsprechend repräsentativer Anwesenheit) beanspruchten dort die Führer des neuen Ruanda die alleinige Herrschaft über Inhalt und Vermächtnis der ruandischen Geschichte. Sie erinnerten an die jahrzehntelange Demütigung und Verfolgung der Tutsi, erklärten die Notwendigkeit des organisierten Widerstands gegen das Unterdrückungsregime der Hutu, beklagten die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem Völkermord in Ruanda und forderten auf zu Einheit, Wachsamkeit und Stärke als Garantien für ein friedliches Ruanda. Das zu erkennen und zur Richtschnur künftigen Handelns zu machen, sei, so die Führer des neuen Ruanda in ausnahmslos jeder Ansprache, die Verpflichtung der Zukunft. Und wer könne diese Verpflichtung besser und glaubwürdiger übernehmen als diese Führer selbst, die sich mit ihren Soldaten als Einzige dem Wüten der Völkermörder entgegengeworfen hätten, war die mitklingende zusätzliche Botschaft. Es war unüberhörbar: Ein Narrativ wurde konturiert und inhaltlich sowie personell besetzt.

      Dann, einige Monate später, las ich im Buch von Roméo Dallaire über seine Zeit als Kommandeur der UN-Friedensmission in Ruanda (1993–1994) eine Passage, in der er die Rückkehr von Tutsi aus der Diaspora im Spätsommer 1994 beschreibt. Er sieht viele hässliche Szenen, als die Rückkehrer in Kigali Hutu aus ihren Häusern vertreiben, um sie widerrechtlich in Besitz zu nehmen. Niemand schreitet dagegen ein. Dallaire wörtlich, unter dem Eindruck dieser Bilder: »Mir stellte sich unversehens die bittere Frage, ob der Feldzug und der Völkermord nicht orchestriert worden waren, um den Weg frei zu machen für eine Rückkehr Ruandas zum Status quo vor 1959, wo die Tutsi allein das Sagen gehabt hatten. Zehn Jahre später wollen diese beunruhigenden Fragen in mir noch immer keine Ruhe geben, besonders im Lichte dessen, war seither in der Region geschehen ist.«3

      Ein ungeheurer Gedanke, und einer, der wohl mehrmals gelesen werden muss, wenn er ganz begriffen werden will. Diejenigen, die sich als die Befreier des Landes von einem völkermörderischen Hutu-Regime präsentieren und daraus den unbedingten moralischen Anspruch für die Gestaltung seiner Zukunft herleiten, sollen Krieg und Massenmord willentlich herbeigeführt haben? Sie sollen aus reinem Machtinteresse gehandelt haben und dabei buchstäblich über Leichen gegangen sein? Ist also das offizielle Wehklagen über die vielen Opfer und über die selbstsüchtige Arroganz des Westens nichts als eine zynische Inszenierung? – Ein schwer erträglicher Gedanke, selbst wenn man schon den einen oder anderen Blick in die Untiefen menschlichen Verhaltens geworfen hat.

      Doch Roméo Dallaire ist nicht irgendwer. Über ein Jahr lang war der Kanadier vor Ort und hat sich ein Bild machen können von den handelnden Personen und ihren Motiven. Bei ihm liefen alle Informationen zusammen. Er traf sich mit Vertretern der extremistischen Hutu-Regierung und mit Militärs, für die die Zukunft Ruandas nur ohne Tutsi denkbar war. Er traf sich

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