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und wo sie begraben worden seien. Wer gestehe, versichert Mucyo dem Gefängnispublikum, könne damit rechnen, dass sein Fall so schnell wie möglich vor einem Gacaca-Gericht verhandelt werde. Außerdem komme er in den Genuss einer Strafmilderung, die die normalerweise vorgesehene Strafe um bis zur Hälfte verkürzen könne. Damit nicht genug. Die verkürzte Freiheitsstrafe verbüße er wiederum nur zur Hälfte im Gefängnis. Die andere Hälfte leiste er in Form gemeinnütziger Arbeit ab, indem er Häuser oder Straßen baue oder, bei entsprechender Ausbildung, im Gesundheitswesen arbeite. Während dieser Zeit wohne er selbstverständlich bei seiner Familie.

      So weit Mucyo in die Stille des Lagerraums hinein, in dem seit mittlerweile gut einer Stunde die Gefangenen den Film sehen, aufmerksam und sehr diszipliniert, nur durch die besagten Völkermordszenen zu kurzen Unmutsäußerungen oder Entrüstungsrufen hingerissen. Das ändert sich fast schlagartig, als die Vorführung sich ihrem Ende nähert. Anspannung und Konzentration weichen einer allgemeinen Empörung, die alle Gefangenen zu erfassen scheint. Am Ende kommt der Film noch einmal auf seinen Anfang zurück. Er zeigt Bilder von Arusha, von den Lebensbedingungen und der Behandlung der Angeklagten dort und lässt Gerichtsangestellte zu Wort kommen. So erklärt Amadou Dieng, der Kanzler des Gerichts, auf den Vorwurf, das Gericht kümmere sich nicht um die Sicherheit von Belastungszeugen, mehrere seien gar nach ihrer Rückkehr nach Ruanda umgebracht worden, lapidar, der Tod liege nicht in der Hand des Gerichts, jeder müsse mal sterben. Zwei Angeklagte sind zu sehen, wie sie offensichtlich gut gelaunt neben der Anklagebank stehen und zur Begrüßung ihre Verteidiger umarmen. Aufnahmen von Einrichtungen in Arusha wie der Gefängnisküche oder des Gymnastikraums gehen über zu Ausschnitten aus einem Interview mit Jean Paul Akayesu, der wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. »Ich habe hier zugenommen«, sagt ein erkennbar übergewichtiger Akayesu, »das Essen ist hier viel zu fett, ich habe jetzt eine Diät beantragt.«

      Dann ist der Film aus. Jetzt können Fragen gestellt werden, ja es sollen, bitte schön, Fragen gestellt werden. Die ganze Angelegenheit, gibt die Gefängnisleiterin zu bedenken, sei zu wichtig, als dass sie einfach nur zur Kenntnis genommen werden könne. – Eine kurze Pause, dann melden sich die ersten Gefangenen. Die Fragen beziehen sich nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, auf Arusha und die dortigen Verfahren. Die Botschaft des Films, am Ende noch einmal zugespitzt, war klar genug. Außerdem ist der Kontrast zur eigenen Situation im Gefängnis so groß, dass Verständnisfragen überflüssig wirken. Wie sagte noch ein geständiger Völkermörder in seiner kurzen, vor einem ruandischen Gericht abgegebenen Erklärung unter dem Beifall der Gefangenen: »Wir sind manipuliert worden. Man hat uns benutzt, und diejenigen, die uns benutzt haben, sind heute schon wieder oben. Ihnen geht es gut, aber wir sind hier, in diesem Gefängnis.«

      Die Fragen, die gestellt werden, beziehen sich hauptsächlich auf die gemeinnützige Arbeit und auf die Dauer der Gacaca-Verfahren. Ein Gefangener will wissen, wann die Unschuldigen freigelassen werden, ein anderer, wie die gemeinnützige Arbeit organisiert ist und ob auch bereits Verurteilte dazu herangezogen werden können. Schließlich fragt eine Frau – und während sie die Frage stellt, wird es so still, dass das Summen einer Fliege zu hören ist –, was denn mit den eigenen Toten sei, über die würde niemand reden. Sie selbst habe ihre ganze Familie im Krieg verloren. Jetzt sei sie im Gefängnis, völlig unschuldig, und die Mörder ihrer Familie liefen frei herum. »Ich möchte wissen«, sagt sie, »wer meine Familie umgebracht hat. Ich möchte, dass auch diese Leute bestraft werden.«

      Der Erste, der auf Seiten der Staatsvertreter das Wort ergreift, ist der Gacaca-Beauftragte der Provinz. Das wichtigste Ziel von Gacaca sei es, herauszufinden, wer schuldig und wer unschuldig sei, erklärt er. Wenn alle sich beteiligten, könne das schnell gehen. Um die große Zahl von Häftlingen in den Gefängnissen zu verringern, unter denen, wie er wisse, auch viele Unschuldige seien, gebe es kein besseres Mittel als Gacaca, das müsse man einfach verstehen. Nach ihm skizziert der Vertreter des Justizministeriums noch einmal in groben Zügen das System der gemeinnützigen Arbeit, die Möglichkeit der Strafmilderung bei frühzeitigem Geständnis sowie die Art und Umstände der zu erledigenden gemeinnützigen Arbeiten. An die Gefangene gewandt, die im Namen ihrer eigenen Toten Gerechtigkeit gefordert hatte, fährt er fort: »In der Tat hat es während der Befreiung des Landes von dem völkermörderischen Regime Morde gegeben, die von Angehörigen der Befreiungsarmee begangen wurden. Das ist sehr bedauerlich, kann aber nicht im Entferntesten mit dem Völkermord gleichgesetzt werden. Wenn einzelnen Soldaten angesichts der Gräuel, die sie auf dem Vormarsch sehen mussten, die Nerven durchgegangen sind und sie die Täter oder vermeintlichen Täter getötet haben, ist das etwas völlig anderes als die kaltblütige Ermordung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Natürlich werden auch die Täter dieser vereinzelten Vergeltungsaktionen zur Verantwortung gezogen werden, allerdings nicht vor Gacaca-Gerichten. Die sind nur für die Bestrafung der Völkermordtäter zuständig. Die anderen Täter – und ich sage noch einmal: es handelt sich nur um Ausnahmefälle –, werden, weil sie Soldaten der Befreiungsarmee waren, vor ein Militärgericht gestellt und, sofern schuldig, bestraft.«

      In der zweiten Fragerunde fragt zunächst wieder eine Gefangene, und zwar in den ansteigenden Applaus ihrer Mitgefangenen hinein, ob diejenigen, die zu Unrecht inhaftiert worden seien, eine Entschädigung erhielten. Eine andere Gefangene weist darauf hin, dass viele alles verloren hätten. Ihr Eigentum sei beschlagnahmt worden, in ihren Häusern wohnten andere Menschen – wie solle da die Freiheit aussehen? Eine ältere Gefangene meint, sie sei jetzt schon acht Jahre im Gefängnis. Sie wolle nicht im Gefängnis sterben. Die Alten sollten als Erste freigelassen werden. Viele, auch sie selbst, seien grundlos ins Gefängnis geworfen worden, oft direkt aus den Flüchtlingslagern. Gacaca solle daher bald beginnen, es sei wirklich dringend. Diesen Wunsch äußert auch die nächste Gefangene, die sich zu Wort meldet. Nicht nur viele Alte, auch viele Kinder und Jugendliche seien noch in den Gefängnissen, ergänzt sie. Die aber bekämen dort keine schulische Ausbildung, sie säßen die Zeit nur ab, was für die Betroffenen wie für die Zukunft des Landes ein unerträglicher und gefährlicher Zustand sei.

      Nun ist es der Vertreter des Justizministeriums, der als Erster antwortet. Die Einrichtung der Gacaca-Justiz sei ein schwieriges und daher langwieriges Unterfangen, sagt er. Er geht auf den Aufbau der Gerichte ein, auf die Rolle der Richter und die verschiedenen Verfahrensstufen. »Gerechtigkeit herzustellen ist nun mal nicht einfach. Auf allen Ebenen müssen viele aktiv werden, damit das Ziel erreicht werden kann. Willkür, zum Beispiel in Form von Beschlagnahmungen ohne rechtliche Grundlage, darf es dabei nicht geben. Die Gesetze gelten für alle, ausnahmslos.« Der Gacaca-Vertreter der Provinz wendet sich direkt an die älteren Gefangenen und antwortet auf ihre Fragen mit einer Gegenfrage. Ob sie denn wirklich glaubten, dass die alten und die jungen Gefangenen einfach so freigelassen werden könnten. »Du und du und du«, er zeigt auf zwei ältere und einen jüngeren Gefangenen, »ihr seid auch zu eurer eigenen Sicherheit hier. Viele Überlebende oder Angehörige von Opfern wollen sich rächen. Wenn wir euch freiließen, ohne dass eure Unschuld feststeht, wärt ihr in Gefahr, und das wollen wir vermeiden. Ich weiß, es ist schwierig, die eigene Unschuld zu beweisen, weil es oft keine Zeugen gibt. Aber wir werden für jeden Häftling eine Akte anlegen und so, systematisch, die Wahrheit herausbekommen.«

      Mit diesen Worten endet nach etwa zwei Stunden die Veranstaltung. Die Gefangenen klatschen höflich, als die Gefängnisleiterin sich bei den Staatsvertretern für deren Kommen bedankt, und verlassen den Lagerraum. Die meisten schweigen, einige fragen sich leise murmelnd, wann die angekündigten Verfahren endlich anfangen. Den zwei Faltblättern, die draußen verteilt werden, eines über die Vorteile von Geständnissen, ein anderes, das mit Zeichnungen und szenischen Darstellungen versehen ist, über die verschiedenen Phasen eines Gacaca-Verfahrens, wird kaum Beachtung geschenkt. Gleichgültig werden sie entgegengenommen. Die Gefängnisleiterin bedankt sich bei mir für mein Interesse an der Aufarbeitung des Völkermords. Jederzeit könne ich wiederkommen, Erfahrungen aus Deutschland seien willkommen. Auf meine letzte Frage, wie viele Gefangene denn schon gestanden hätten, erwidert sie, dass bis jetzt noch kein Gefangener gestanden habe. »Ich verstehe das auch nicht, es können doch nicht alle unschuldig sein«, sagt sie noch.

      Vermutlich hat die Gefängnisleiterin recht. Dass keine Gefangene, kein Gefangener eine Tat, die verbrecherisch sein kann, begangen haben soll, ist eher unwahrscheinlich.

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