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Versuche, massenhaftem, schlimmstem Unrecht mit den Mitteln des Rechts zu begegnen – beginnend mit den Verfahren vor den internationalen Militärtribunalen von Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg, fortgesetzt 1993 mit der Einsetzung des Ad-hoc-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien und später dann durch gemischte, internationalisierte Gerichte27 – schienen mir Grund genug für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema. Dass in diesem Kontext auch die Rechtsprechung des zweiten vom UN-Sicherheitsrat eingesetzten Ad-hoc-Tribunals, das seit 1994 speziell für Ruanda zuständig war, berücksichtigt werden würde, verstand sich von selbst. Doch im Fokus meines Blicks auf die post-genozidale Entwicklung Ruandas sollte die Justiz des Landes stehen, allen voran die Gacaca-Justiz. Das würde bedeuten, mit Anwälten, Staatsanwälten und Richtern zu sprechen, Politiker und Militärs aufzusuchen und natürlich Täter sowie Opfer und darüber hinaus viele Menschen unterschiedlicher sozialer Stellung und Herkunft zu Wort kommen zu lassen. Dass das nicht immer einfach sein würde, zumal wenn weiße Hautfarbe und rundum abgesicherter Lebensmodus auf sehr großes Leid und materielles Elend stoßen würden, ahnte ich und sollte doch etliche Male von der Heftigkeit des Kontrasts überrascht werden. Kompensieren wollte und konnte ich das durch meine Überzeugung von einem legitimen Umgang mit den mir noch fernen Verbrechen, eine Überzeugung, die sich bereits durch einige der eben dargestellten Überlegungen gefestigt hatte, für die jedoch im Juni 2002 allein schon ausgereicht hätte, dass zum 1. Juli desselben Jahres ein ständiger internationaler Strafgerichtshof seine Arbeit aufnehmen sollte und einen Tag vorher, am 30. Juni, in Deutschland nach dem Vorbild anderer Länder ein Völkerstrafgesetzbuch in Kraft treten würde,28 das die Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu einem nationalen Anliegen machte.

      Die Feststellung, dass auch nach größtem Unglück das Leben weitergeht, ist banal, aber von beträchtlicher Tragweite. Das Leid der Opfer29 kann noch so groß, das Verbrechen der Täter noch so abscheulich sein, für beide gibt es, wenn auch sicherlich keinen Alltag im üblichen Wortsinn mehr, so doch ein Gefüge von alltäglichen Abläufen, Erwartungen und Zwängen, denen sie sich nicht oder allenfalls durch Flucht aus dem eigenen Leben entziehen können. Aber das Leben, das weitergelebt wird, bedarf, damit es in Würde weitergelebt werden kann, gewisser Voraussetzungen, die von dritter Seite erbracht werden müssen. Da ist zunächst die Unterstützung in der individuellen Sphäre der Betroffenen zur Linderung ihrer psychischen oder physischen Verletzungen. Auf diesen Aspekt soll jetzt noch nicht eingegangen werden. Dann ist da die Unterstützung, die Gesellschaften, einzelne Staaten oder die Staatengemeinschaft zu leisten imstande sind. Sie bildet sozusagen das Fundament, auf dem die individuelle Unterstützung praktiziert werden kann. Über diverse Aktivitäten gibt sie den Rahmen vor, der über die Wahrnehmung von Tätern und Opfern entscheidet, mithin letztlich darüber, wie sich eine Gesellschaft ihrer annimmt und die eigene soziale Zukunft organisiert.

      Eine dieser Aktivitäten, zeitweilig die wohl wichtigste, ist die justizielle. Nicht nur dass bei ihr als Reaktionsform auf geschehenes Unrecht Legalität und Legitimität zusammenlaufen, sie begründet über die Verhandlung der Tat auch ein Narrativ, das die gerichtlich festgestellte Wahrheit enthält. Dass sich das Narrativ vielleicht später ändern wird, ist erfahrungsgemäß nicht auszuschließen. Erst aber ist es in der Welt und mit ihm eine Wahrheit, die, wie es vor Gericht sein sollte, dem Streben nach Gerechtigkeit entspringt und zugleich Befriedigung und Frieden schaffen soll.

      Wie kommt das Gericht zu dieser Wahrheit? Indem es versucht, den Sachverhalt, der Gegenstand des Verfahrens ist, wahrheitsgemäß zu klären, müsste die nahe liegende Antwort lauten. Schließlich ist es Aufgabe eines Gerichts, ein schuldangemessenes Urteil zu sprechen, wozu eben untrennbar gehört, über Beweismittel herauszufinden, was tatsächlich geschehen ist, und zwar so, dass das Ergebnis unabhängig von der subjektiven Betroffenheit der Beteiligten bestehen bleibt, von der Anklage oder der Verteidigung eingelegte Rechtsmittel also nicht greifen. Allerdings beschreibt diese Antwort ein Ziel, das umso schwerer zu erreichen ist, je stärker sich die Taten von der »normalen« Kriminalität unterscheiden. Wo der Täter allein der Gesellschaft gegenübersteht, ist die Tätigkeit von Gerichten in weitaus größerem Maße von externer sozialer Zustimmung getragen als dort, wo der Täter in Übereinstimmung mit großen Teilen der Gesellschaft oder im Auftrag von deren Führung gehandelt hat. Was im ersten Fall gewöhnlich problemlos als wahr und als tragfähige Grundlage für einen Richterspruch anerkannt wird, ist im zweiten leicht Gegenstand von Kontroversen und Ablehnung, eben weil der Normbruch (weitgehend) konsensuell begangen wurde und die Betroffenheit darum groß ist. Einige Beispiele aus der Geschichte mögen dies verdeutlichen, bevor wir uns vor diesem Erfahrungshorizont wieder Ruanda zuwenden:

      Dass die sogenannten Hauptkriegsverbrecher NS-Deutschlands sich 1945/46 für ihre Taten vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verantworten mussten, stieß auch in Deutschland auf breite Zustimmung. Doch schon die Nachfolgeprozesse gegen weitere Repräsentanten des NS-Systems riefen Abwehrreaktionen hervor, die sich in der Breite und Tiefe noch ganz erheblich verstärkten, als auch die vielen kleinen Täter, Unterstützer und Mitläufer in den Fokus der Justiz gerieten. Nach eigener Überzeugung und getragen von einer allgemeinen Stimmung waren nicht sie schuld an den NS-Verbrechen, allenfalls waren sie seit 1933 respektive 1939 auf unglückliche Weise in die deutsche Geschichte verstrickt, eher noch irregeleitet worden, und, wenn sie sich ihre eigenen Verluste vergegenwärtigten, eigentlich auch Opfer.30 Mehr als zehn Jahre sollte es dauern,31 bis die Wahrheit über die Dimension der NS-Verbrechen sich durchzusetzen begann, bis deutsche Gerichte, sich stützend auf historiografische Forschung, sie aber teilweise auch weiter befördernd, das richtige Täter-Opfer-Verhältnis unmissverständlich machten. In den folgenden Jahrzehnten wurde das von Deutschen und im deutschen Namen begangene Unrecht schließlich zu einer fest etablierten Wahrheit. Die Vorstellung von den begangenen Verbrechen wurde so konkret und das moralische Unwerturteil so eindeutig, dass die Thematisierung der durchaus auch vorhandenen eigenen Leiderfahrungen als ungehörig und Versuch einer Relativierung oder Aufrechnung empfunden wurde.32 Es sollte noch einige Zeit dauern, bis die Tatsache, dass auch Deutsche Opfer von Bombenkrieg, Vertreibungen und Vergewaltigungen geworden waren, erwähnt werden konnte, ohne den Verdacht eines unanständigen Geschichtsrevisionismus aufkommen zu lassen.33 Neben der dominanten Wahrheit deutscher Verbrechen hat seitdem auch die sekundäre Wahrheit alliierter deutscher Opfer ihren Platz.

      Einen völlig anderen Weg beschritt das post-franquistische Spanien. Als General Francisco Franco im November 1975 starb, wurde die schon Monate zuvor in einem Klima großer Anspannung diskutierte Frage akut, wie das Land mit 40 Jahren Diktatur und, den Bürgerkrieg 1936 bis 1939 eingeschlossen, Hunderttausenden von Toten umgehen sollte. Die Anhänger des Diktators und Nutznießer seines Regimes setzten auf den Fortbestand der politischen Ordnung und ihrer rechtlichen Unantastbarkeit, während die schnell erstarkende demokratische Opposition den Bruch (la ruptura) mit der Vergangenheit forderte. Beide Positionen waren in ihrer apodiktischen Formulierung unvereinbar und hätten, wie gemäßigte Kräfte in den jeweiligen Lagern erkannten, Spanien in einen Strudel der Gewalt gezogen, der aller Wahrscheinlichkeit nach in einen neuen Bürgerkrieg geführt hätte. Die gemäßigten Kräfte des franquistischen Establishments und einflussreiche Teile der Opposition verständigten sich daher darauf, Konsensfindung und nicht ideologische Maximalforderungen zur Richtschnur der neuen Politik zu machen.34 Basierend auf dem Topos des Bürgerkriegs als eines tragischen »Bruderkriegs« (guerra fratricida) entwickelten sie das Narrativ einer beiderseitigen Verstrickung in Gewalt und Schuld, die, um nicht zu einer gefährlichen Hypothek für die Zukunft des Landes zu werden, in die Vergangenheit verbannt werden müsse. Ein virtueller »Pakt des Vergessens« (pacto del olvido) markierte Schlussstrich und Neubeginn.35 Amnestiegesetze sicherten den Übergang zur Demokratie, der, abgesehen von kleineren Erschütterungen, erfolgreich verlief. Dass nicht ein einziger Täter franquistischer oder republikanischer Verbrechen vor Gericht gestellt wurde und die folgenden fast vier Jahrzehnte Franco-Diktatur ein Kapitel in der spanischen Geschichte waren, das tunlichst geschlossen bleiben sollte, gefährdete zu keinem Zeitpunkt ernsthaft die Herausbildung und Konsolidierung demokratischer Strukturen in Spanien.36 Sieger und Besiegte verzichteten auf die juristische Feststellung ihrer Wahrheit, und auch alle außerjuridischen

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