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Präfektur erreicht hatte, vielen Menschen das Leben. Die rettende Grenze zu Burundi war nicht weit und die relative Ruhe in der Präfektur zu einer Zeit, als in Kigali die Toten schon nach Zehntausenden gezählt wurden, verschaffte vielen die Möglichkeit zur Flucht. Doch ab dem 20. April ergoss sich der Strom der Gewalt auch über Butare. Der einzige Tutsi-Präfekt des Landes, Jean-Baptiste Habyalimana, war bereits einen Tag vorher zusammen mit anderen, die Ruhe und Frieden bewahren wollten, beseitigt worden. Danach begannen die Massaker an den Tutsi. Kein Dorf, in dem sie nicht umgebracht wurden, durchweg in großer Zahl, denn in der Präfektur Butare lebten mit zirka 130 000 weit mehr Tutsi als in den anderen Präfekturen Ruandas.76

      Ermordet wurden sie auch in Gishamvu, der Heimatgemeinde Jean Kambandas, des Premierministers während des Völkermords. Dort treffe ich acht Jahre später, im November 2002, zwei Richter des örtlichen Gacaca-Gerichts. Wie ihre Kolleginnen und Kollegen der anderen Gacaca-Gerichte waren sie von der Bevölkerung gewählt worden, zwei von über 250 000, die nach Abschluss der Pilotphase in den dann mehr als 11 000 Gacaca-Gerichten urteilen sollten. Dem Beispiel ihrer historischen Vorbilder folgend nannten sie sich Inyangamugayo, Menschen, die dem Bösen fern stehen, als weise und moralisch integer gelten und daraus ihre Autorität beziehen. Dass sie nicht am Völkermord beteiligt sein durften, verstand sich von selbst, auch dass Hutu ebenso wie Tutsi Inyangamugayo sein konnten. Entscheidend war die individuelle Vorgeschichte, ansonsten galt die Devise »Wir sind alle Ruander«.

      Meine beiden Gesprächspartner sind Hutu, in Gishamvu geboren, und wissen genau, was in den 1990er Jahren bis hin zum Völkermord in ihrer Gemeinde geschehen war. Jetzt stehen sie am Rande des Dorfplatzes und warten darauf, dass die Bevölkerung zur ersten Gacaca-Verhandlung eintrifft. Die ruandische Nationalflagge, in der Mitte des Platzes an einem Mast hochgezogen, kündigt davon, dass hier bald ein hoheitlicher Akt vollzogen wird. »Ich bin sicher, dass Gacaca die richtige Lösung ist«, meint Amadou H. »Die Menschen hier haben alles gesehen, sie wissen, wer was gemacht hat. Es liegt jetzt an ihnen, darüber zu sprechen. Sie waren vorher keine Monster und sind es jetzt auch nicht. Sie sind beeinflusst worden von denen, die den Völkermord wollten.« Sein Richterkollege Johani B. fügt hinzu: »Ja, diejenigen, die den Völkermord geplant haben, sind die wirklich Verantwortlichen, die andern waren ihre Instrumente. Doch auch als Instrumente haben sie schlimme Dinge getan und das müssen sie gestehen. Dann entscheiden wir, wie wir sie verurteilen werden. Die Strafe muss nicht unbedingt eine Gefängnisstrafe sein, viel wichtiger ist, dass wir zusammensitzen und eine Lösung finden, die von allen als gerecht empfunden wird.«77

      Bevor sie Gacaca-Richter werden konnten, mussten Amadou H. und Johani B. in einem einwöchigen Schnellkurs lernen, wie ein Gacaca-Prozess strukturiert ist, was bei der Verhandlungsführung zu beachten ist, wie ein Urteil abgefasst sein muss und natürlich: welche Strafen überhaupt verhängt werden durften und wann am besten auf eine Bestrafung verzichtet werden sollte. Der Schnellkurs für die Gacaca-Richter stand am Ende eines Programms, das zunächst die justizielle Spitze des Landes in den verschiedenen Aspekten der neuen Gacaca-Justiz unterwies, diese dann als Lehrer für Juristen niederer Instanzen und Jura-Studenten in den Abschlusssemestern einsetzte, die ihrerseits die späteren Gacaca-Richter und -Richterinnen unterrichteten. Was Gacaca war, welches Ziel es verfolgte und wie es umgesetzt werden sollte, war auf diesem Weg allen ruandischen Juristen bekannt. Denen, die es konkret anwenden sollten, waren der Inhalt einzelner Verfahrensschritte und die Erwartung, die sie an die Kooperationswilligkeit der lokalen Bevölkerung stellen durften, noch durch Zeichnungen veranschaulicht worden.78

      »Ja, wir wissen Bescheid«, erklären denn auch unisono Amadou H. und Johani B., »und die Menschen hier sind sich auch darüber im Klaren, was von ihnen erwartet wird«, sagen sie noch, bevor sie sich auf eine Bank hinter einem Tisch setzen, an dem mittlerweile schon ihre Richterkollegen Platz genommen haben. Ihnen gegenüber, in einem Abstand von etwa fünf Metern, sitzt die erste Reihe der Dorfbevölkerung, halblinks hocken die Angeklagten, drei Männer in rosafarbener Gefängniskleidung, zwischen 30 und 40 Jahren alt. Sie hatten bereits eine »Présentation« durchlaufen, öffentlich ihre Taten gestanden und haben somit auch eine Akte. Neben ihnen sitzt noch eine Frau, ebenfalls mittleren Alters, allerdings in normaler Kleidung.

      Um 11.30 Uhr beginnt die Verhandlung. Alle Anwesenden erheben sich und gedenken in einer Schweigeminute der Toten des Völkermords. Der Vorsitzende des Gacaca-Gerichts teilt mit, was Inhalt der Verhandlung sein wird, nämlich die Tatvorwürfe gegen die anwesenden Angeklagten und die Feststellung möglicher weiterer Verbrechen, die während des Völkermords im Dorfgebiet begangen wurden. Er fordert Disziplinwahrung für die Dauer der Verhandlung. Sprechen dürfe nur, wer sich vorher gemeldet habe, und das auch nur zur Sache. Ausuferndes Gerede werde er nicht akzeptieren. Im Übrigen weise er darauf hin, dass niemand die Gacaca-Verhandlung vor ihrem Ende verlassen dürfe.

      Mit einer Handbewegung erteilt er sodann dem Gerichtssekretär das Wort, der in sehr gedrängter Form die bisher bekannten Anklagen verliest: Damscène R. soll im April 1994, mit einem Gewehr bewaffnet, viele Tutsi erschossen haben. Die Tutsi waren in die Kirche von Nyumba geflüchtet, wo sie sicher zu sein glaubten. Zusammen mit anderen Tätern ist Damscène R. zur Kirche gefahren und hat das Feuer auf die Flüchtlinge eröffnet. Anasthase N. hat ein junges Mädchen geschlagen und gezwungen, ihm das Versteck seiner Familie zu zeigen. Danach hat er das Mädchen getötet. Emmanuel B. ist angeklagt, mehrere Tutsi ermordet zu haben, unter ihnen zwei Kinder, deren Leichen er in eine Latrine warf.

      Alle Anklagen werden bestätigt. Eine Frau erhebt sich – sie ist, da aus Gishamvu und am Leben, aller Wahrscheinlichkeit nach Hutu – und erzählt, wie sie Damascène N. vor der Kirche gesehen hat. Sie könne sich noch genau erinnern, wie er eine Frau erschossen habe, denn die Kugel sei haarscharf an ihrem eigenen Kopf vorbeigeflogen. Wieder eine andere Zeugin, auch sie Hutu, berichtet, dass das junge Mädchen, das Anasthase N. umgebracht habe, von diesem vor dessen Tod so geschlagen worden sei, dass es vier Zähne verloren habe. Anasthase N. sei in einer Gruppe gewesen, die Jagd auf Tutsi gemacht habe. Das bekräftigt auch eine andere Zeugin, die ihn mehrfach bei Mordaktionen gesehen haben will. Zum Beweis zeigt sie ihr stark vernarbtes rechtes Knie. »Hier hat er mich mit einer Machete verletzt. Außerdem hat er mir noch mein Geld gestohlen.« Dann melden sich noch Zeugen, die beobachtet haben, wie der dritte Angeklagte, Emmanuel B., mit den Kindern verschwunden sei. Auch er sei nicht allein gewesen. Zwei andere Männer, Jean-Pierre M. und Claude K., hätten ihn begleitet, und sie, die Zeugen, wüssten auch, dass die drei zusammen noch mehr Morde begangen hätten, an Kindern und an Erwachsenen.

      Der Sekretär notiert die Namen der eben Beschuldigten, um sie später mit den Listen Inhaftierter abgleichen zu können. Die Frau in Alltagskleidung sitzt immer noch neben den drei Angeklagten, als der Gerichts-Vorsitzende sich ihr zuwendet, ihren Namen – Agnès A. – nennt und sagt, dass sie an der Ermordung von fünf Tutsi beteiligt gewesen sein soll. Er verliest die Namen der Ermordeten – sie scheinen in Gishamvu bekannt gewesen zu sein – und fragt, wer zu einem der Fälle etwas sagen könne. Das können sehr viele. Etliche Zeugen melden sich und erzählen, was sie von den Morden wissen. Niemand jedoch beschuldigt Agnès A. Andere Namen fallen und werden wieder von dem Gerichtssekretär notiert, der von Agnès A. ist nicht darunter. »Ich bin unschuldig«, sagt sie. »Ich bin nicht mal in der Lage, rohes Fleisch zu kaufen und zuzubereiten, wie soll ich dann einen Menschen getötet haben. Was mir vorgeworfen wird, ist falsch. Ich kann schon deshalb nichts gemacht haben, weil mein rechter Arm während des Völkermords gebrochen war.«

      Vereinzelt ist zustimmendes Murmeln zu hören, das aber folgenlos bleibt. Weder wird Agnès A. freigelassen, noch ist von den Richtern ein Hinweis auf einen in dieser Sache zu treffenden Entschluss zu hören. Über vier Stunden Verhandlung in der nachmittäglichen Hitze fordern ihren Preis. Einige Richter haben erkennbar Mühe, wach zu bleiben oder konzentriert zu wirken. Überhaupt ist die Atmosphäre ganz anders, als man angesichts der zur Sprache gebrachten Tatvorwürfe vermuten sollte. Schon vor Beginn der Verhandlung findet ein reger Austausch zwischen den Angeklagten und Männern und Frauen aus der Dorfbevölkerung statt. Auch während der Verhandlung gibt es Zurufe und Gelächter, und was aus den Gesichtern der vielen spricht, die schweigend zusehen, kann nur gemutmaßt werden. Sie sitzen dort und lassen keine Gefühlsregung erkennen. Es ist, als ob sich vor ihren Augen ein Spektakel abspielt, das ein fernes Ereignis betrifft und in dem nur der Zufall darüber entscheidet,

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