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der Befragten saßen Familienmitglieder wegen mutmaßlicher Völkermordverbrechen im Gefängnis.115 Nimmt man die Umfrage als repräsentativ an (was sie nach dem Willen ihrer konzeptionellen Planer sein sollte),116 war deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung Ruandas in ihrem engsten familiären Umfeld unmittelbarer Gewalterfahrung ausgesetzt gewesen, mehr als ein Drittel, zum Teil damit identisch,117 musste sich täglich aus der Täterperspektive zu den begangenen Verbrechen in Beziehung setzen. Ein Land in einer »kollektiven sozialen Grenzsituation« nannte dies Simon Gasibirege, ein in Ruanda bekannter Sozialpsychologe und Autor einer Studie über die Ergebnisse dieser Befragung.118

      Allerdings ist hier noch eine andere Deutung möglich. Im Befund stimmt sie mit Gasibireges überein, in der Erklärung indes unterscheidet sie sich ganz erheblich. Nicht das Unbehagen oder die Angst vor einer erneuten intensiven Auseinandersetzung mit vergangenem Leid und Abgründen menschlichen Verhaltens sind danach der Grund für die tiefer liegende Skepsis der Ruander, es ist im Gegenteil die Befürchtung, dass Verbrechen, die im Umfeld des Völkermords begangen worden sind, verschwiegen und tabuisiert werden könnten. Massaker (massacres) ist der Schlüsselbegriff. Er kann Gewalttaten von Hutu an Hutu bedeuten, die aus Sicht der Täter der landesverräterischen Sympathie mit der FPR verdächtig waren und darum getötet wurden, jedoch wegen der Definition der in der Völkermordkonvention geschützten Gruppen119 nicht als Völkermordopfer galten. Er kann aber auch Gewalttaten von FPR-Kämpfern an Hutu bedeuten, begangen im Verlauf des Bürgerkriegs oder aus Rache für den Völkermord bei der Eroberung des Landes und anschließenden Festigung der Macht. Um genau diese letztgenannten Gewalttaten geht es, wenn, wie beispielsweise im Gefängnis von Nyankenke, Hutu den gewaltsamen Tod von Familienangehörigen beklagen oder wenn in Interviews gefordert wird, die Verbrechen beider Seiten zum Verfahrensgegenstand zu machen, da andernfalls Gacaca keine versöhnende Kraft haben werde.120 Es ist gewiss auch kein Zufall, dass mit der Konkretisierung der Gacaca-Gesetzgebung wieder alte Anschuldigungen zirkulieren, die sich auf die Ermordung Unschuldiger durch die FPR beziehen, allen voran von Priestern und Bischöfen, die sich für verfolgte Tutsi eingesetzt haben.121 Das mögen Einzelstimmen gewesen sein, ihre Wirkung in einer Bevölkerung, die tief gespalten war und deren demografisch mit Abstand größter Teil in einer Mischung aus Fremdzuschreibung und entsprechend skandalisierender Eigenwahrnehmung kollektiv als Völkermordtäter galt, ist hingegen groß. Die offizielle Verheißung einer versöhnenden Justiz stieß so auf eine Gefühlslage, die mit ihren unterschiedlichen Erwartungen sowohl Enttäuschung als auch, wie schon hinsichtlich der internationalen Justiz, die Erfahrung von Rechtsanwendung als Akt der Zumutung erzeugen konnte.

      Dass jede Seite, der Staat eingeschlossen, ihre Sicht für begründet und für die letztlich einzig richtige hielt, sollte sich bald zeigen. Die Vergangenheit und die aus ihr jeweils zu lesende Erinnerung waren eben sehr präsent.

      Der Völkermord in Ruanda hat eine Vorgeschichte. Er ist nicht überraschend geschehen und auch nicht ohne Vorbereitung. Der Völkermord stellt die extreme Eskalationsstufe eines Krieges dar, in dem Vernichtungsrhetorik nicht nur auf Propaganda beschränkt war, sondern auch Eingang in normale Nachrichten gefunden hatte. Wo Tötungsbereitschaft nicht schon vorhanden war, wurde sie gezielt gefördert oder erzwungen. Ein Menschenleben galt nichts und im Vernichtungsfuror wurde, so wird berichtet, der kurze, schmerzlose Tod zu einem Privileg.122

      Mit diesen Sätzen könnte ein Tutsi Ruandas, fragte man ihn nach der Gewalt und Gewaltentwicklung gegenüber sich und seiner Bevölkerungsgruppe, seine Beobachtungen und Erfahrungen zusammenfassen. Fragte man einen Hutu Ruandas, müsste man damit rechnen, dass er Gewalt und Gewaltentwicklung gegenüber sich und anderen Hutu in ähnlichen Sätzen beschreibt. Der eine hat die Grausamkeiten des Völkermords vor Augen, die Vernichtung von Menschen jedweden Alters und Geschlechts wegen ihrer bloßen Existenz, der andere denkt an die Ermordung ganzer Dorfbevölkerungen während des Krieges. Dass die Zahl der im Völkermord Getöteten ein Mehrfaches der Kriegstoten beträgt, reduziert diese für ihn nicht zu einer beiläufigen Angelegenheit, eine Überlegung, die für den Völkermordüberlebenden eine unzulässige Gleichsetzung, den Versuch der Aufrechnung bis hin zur Annahme eines doppelten Völkermords und schlimmstenfalls die Leugnung des Völkermords bedeutet. Begriffe wie Krieg und Völkermord, aber auch Massaker, Opfer und Überlebender (rescapé) waren in Ruanda Schlüsselbegriffe im kommunikativen Gedächtnis, die, nach beiden Bevölkerungsgruppen getrennt, zu Chiffren für die Suche nach einer integrativen Geschichte, nach Selbstvergewisserung und Identität geworden waren.123

      Wer von Krieg (guerre) sprach, meinte damit den Krieg, der am 1. Oktober 1990 angefangen hatte. An diesem Tag hatte der militärische Arm der FPR, die APR, das Land angegriffen. Die FPR war 1987 in Uganda gegründet worden, ihre Mitglieder waren zum größten Teil Tutsi, die dort Zuflucht gefunden hatten aus Angst vor Verfolgung in Ruanda. Ziel der FPR war es, die Rückkehr der Flüchtlinge, die zum Teil schon seit Jahrzehnten unter schwierigen Umständen in Uganda lebten, mit militärischen Mitteln zu erzwingen und auf diesem Weg zugleich das autoritäre, sich auf die Hutu-Mehrheit in Ruanda stützende Regime des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana zu beseitigen. Doch schon nach einem Monat war der Angriff der etwa 2500 FPR-Kämpfer zurückgeschlagen. Belgische, zairische und vor allem französische Militärunterstützung hatten, gepaart mit internationalem Druck, den Vormarsch gestoppt und erfolgreich eine Gegenoffensive ermöglicht. Aber die FPR hatte sich als politisch-militärischer Faktor bemerkbar gemacht und sie erwies sich in den folgenden Jahren als strategisch lernfähig und überaus diszipliniert. Kleinere Einfälle und größere Angriffe führten schließlich Anfang 1993 zu beträchtlichen Geländegewinnen entlang der Nordgrenze Ruandas und zur Einrichtung einer »befreiten Zone«.

      Die FPR war nach Ruanda zurückgekehrt und für die Staatsführung, die längst zwischen verschiedenen, sich an Radikalität überbietenden Strömungen zerrissen war, zu einem Akteur geworden, mit dem sie sich arrangieren musste. In den Friedensverhandlungen von Arusha wurde die Einsetzung einer »Übergangsregierung auf erweiterter Basis« (Gouvernement de transition à base élargie) und eines »Übergangsparlaments« (Assemblée nationale de transition) beschlossen, in dem auch die FPR vertreten sein sollte. Militär und Polizei, bislang fast ausschließlich Domänen der Hutu, sollten bis in die Offiziersränge hinein und bis zu einer 50-zu-50-Parität für Tutsi zugänglich sein. Umgesetzt werden sollten die Vereinbarungen in konstruktiver Begleitung einer aus zirka 2500 Personen bestehenden UN-Mission, die als Friedensmission deklariert war, deren Soldaten daher Waffen nur zur Selbstverteidigung einsetzen durften. Hinzu kam noch, als vertrauensbildende Maßnahme, ein Bataillon von 600 FPR-Soldaten in der Hauptstadt Kigali, dessen Aufgabe es war, für den Schutz der künftigen FPR-Minister und -Abgeordneten zu sorgen.124

      Das war die Situation um die Jahreswende 1993/1994. Darüber im Rückblick aus der Perspektive des Jahres 2002 sprechend, hieß für FPR-nahe ruandische Tutsi, den Krieg als alternativlosen Auftakt zur Befreiung des Landes von einem völkermörderischen Regime wahrzunehmen. Er war, nach jahrzehntelanger Unterdrückung, der erste Schritt zu dessen Überwindung. Dass dazu Gewalt angewandt und Leid zugefügt wurde, ging auf und verschwand in der späteren Gewalterfahrung während des Völkermords, der genau wegen dieser Gewaltintensität als etwas anderes, vom Krieg Losgelöstes verstanden werden musste.

      Für Hutu hingegen, vor allem für solche, die im Norden des Landes längs der ruandisch-ugandischen Grenze lebten, war der Krieg ein Symbol für Tod und Vertreibung. Überfälle auf Dörfer und Städte, die Ermordung auch von Frauen und Kindern mit Macheten und Feldhacken, die Eliminierung von Personen, die als »intellektuell« galten (Bürgermeister, Lehrer, Beamte), schufen ein Klima der Angst, ja der Panik.125 Bewohner ganzer Gemeinden mit dem Bürgermeister und den Verwaltungsbeamten an der Spitze flohen, um nach dem Rückzug der FPR in ihre Dörfer zurückzukehren und 1993 aus der dann »befreiten Zone« erneut zu fliehen. Fast eine Million Flüchtlinge, mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung von damals zirka 7,5 Millionen, hatte in mehreren Lagern gut 60 Kilometer nördlich von Kigali Zuflucht gefunden. Wer die Situation dort beschreiben wollte, sollte sich später auf Roméo Dallaire berufen können, der seine Eindrücke vom August 1993, kurz nach seiner Ankunft in Ruanda als Leiter der UN-Friedensmission,

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