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den langen Bürgerkrieg.

      Wir rochen das Lager, noch bevor wir es sahen, eine giftige Mischung aus Fäkalien, Urin, Erbrochenem und Tod. Ein Wald aus blauen Plastikbahnen bedeckte eine ganze Hügelseite, wo 60 000 Vertriebene […] auf wenigen Quadratkilometern zusammengepfercht lebten. Als wir hielten und aus unseren Fahrzeugen stiegen, umschwärmten uns dichte Wolken von Fliegen, die an unseren Augen und Mündern kleben blieben und in unsere Ohren und Nasen krochen. Es war kaum möglich, sich bei dem Gestank nicht zu erbrechen, aber der Fliegen wegen konnten wir auch nicht durch den Mund atmen. Eine junge belgische Mitarbeiterin des Roten Kreuzes erblickte uns und unterbrach ihre Arbeit, um uns durchs Lager zu führen. Die Flüchtlinge kauerten um kleine offene Feuer zusammen, eine stille, geisterhafte Menge, die uns träge mit den Augen folgte, während wir behutsam unseren Weg durch den Schmutz des Lagers suchten. […]

      Die Szene war erschütternd, es war das erste Mal, dass ich solches Leid sah, ohne dass es durch die künstliche Linse des Fernsehens gefiltert wurde. Am schockierendsten von allem war der Anblick einer alten Frau, die allein dalag und ruhig den Tod erwartete. Sie mochte nicht mehr als ein dutzend Kilo wiegen. Schmerz und Verzweiflung durchfurchten jede Linie ihres Gesichts. Sie lag inmitten der Überreste ihres Schutzzeltes, das bereits seiner Plastikplane und aller persönlichen Dinge beraubt war. In der erbarmungslosen Welt des Camps war sie bereits abgeschrieben, ihre kärglichen Besitztümer hatten die gesünderen Nachbarn unter sich aufgeteilt.«126

      Das Gefühl von Angst und Panik, so würde der gedachte Vertreter der Hutu-Bevölkerung fortfahren, dauerte an, als der Krieg am Abend des 6. April 1994 in eine Phase bis dahin nicht gekannter Intensität trat. Das Gefühl erfasste weniger die Täter der Morde an den Tutsi und ihre Unterstützer, die vor den vorrückenden FPR-Kämpfern flohen und dabei noch genügend Zeit fanden, immer neue Massenmorde zu begehen. Vielmehr waren es Hutu, die nicht am Krieg teilgenommen und sogar Tutsi gerettet hatten, die um ihr Leben fürchten mussten und manchmal auch noch um das der von ihnen Geretteten. Nicht selten nämlich hätten die Eroberer des Landes die im Vertrauen auf ihre Unschuld in ihren Dörfern Gebliebenen zu Versammlungen befohlen, um ihnen die Grundzüge der neuen Politik bekannt zu geben. Statt Worte seien jedoch Schüsse gefallen, so lange, bis niemand mehr gelebt habe. Hunderte, je nach Größe des Dorfes auch über tausend Tote habe es so gegeben. Kwitaba inama (dem Ruf einer Versammlung Folge leisten) sei in Wirklichkeit kwitaba imana (dem Ruf Gottes folgen) gewesen, hieß es in bitterem allerschwärzesten Humor noch Jahre später.127

      Die Überlebenden beziehungsweise diejenigen, die ihren Erzählungen Glauben schenkten, hatten keinen Zweifel: Das waren Massaker, die nicht ungesühnt bleiben durften. Nur waren jetzt die Täter Tutsi und nicht Hutu, wie bei den Massakern an den tatsächlichen oder vermeintlichen Oppositionellen des Habyarimana-Regimes während des Völkermordes. Wenn also in Ruanda der Begriff »Massaker« fiel, weckte er Assoziationen, die alles andere als deckungsgleich waren. Wohl war in dieser Phase die Opfergruppe identisch, Täter und Tatumstände waren es jedoch nicht. Wo in einem Fall die Täter unter den späteren Siegern des Krieges gesucht werden mussten (das war bekanntlich die Tutsi-dominierte APR), gehörten sie im andern zur Gruppe derer, die die Verbrechen in der Spätphase des Krieges, das heißt im Kontext des Völkermords und sozusagen zu dessen vereinfachter Durchführung begangen hatten (die Morde der Hutu-Extremisten an den sogenannten »gemäßigten Hutu«/(Hutu modérés). Tutsi als Täter, Hutu als Täter, und in beiden Fällen Hutu als Opfer, das dürfe nicht vergessen oder durch die fortwährende, unausgesprochen kollektiv gemeinte Anklage der Hutu wegen der Völkermordverbrechen verdrängt werden.128

      In den Augen der meisten ruandischen Tutsi war dies jedoch eine faktisch und moralisch unzulässige Aufrechnung von Unrecht beziehungsweise der zweifelhafte Versuch einer solchen durch die Behauptung von Unrecht. Ihre Geschichte im Ruanda nach der Unabhängigkeit sei eine Geschichte von Verfolgung und Pogromen gewesen, vor dem Krieg genauso wie nach dessen Beginn,129 was ihn deutlich zu einer Art Durchgangsstation auf dem Weg zur Befreiung gemacht habe. Ihre Zuspitzung habe die Gewalt, so würde der gedachte Vertreter der Tutsi-Bevölkerung weiter ausführen, in den unzähligen Mordaktionen erfahren, die sich zuerst gegen einzelne Personen und dann, vom Baby bis zum Greis, gegen ganze Familien gerichtet hätten. Es habe regelrechte Menschenjagden gegeben, Morden sei zu einer Arbeitstätigkeit geworden, unterbrochen von Pausen und Nachtruhe. Langjährige Freunde seien zu Todfeinden geworden, Ehemänner hätten ihre Ehefrauen getötet und Mütter ihre Kinder. Und auch hier könnte die Zeugenschaft Roméo Dallaires bemüht130 oder auf einen der wenigen anderen nichtruandischen und somit der Parteinahme weniger verdächtigen Beobachter des Völkermords verwiesen werden, dessen Bericht von einem kleinen Geschehensausschnitt noch heute das Erschrecken verrät, das ihn damals befiel:

      »Gerüchte von grauenvollen Massakern zirkulierten schon seit dem frühen Morgen. Gegen 11 Uhr kam mein Kollege dann völlig aufgelöst und schockiert bei mir zu Hause vorbei und berichtete von vielen hundert Leichen auf den Straßen hin zur Präfektur und nach Nyabidahe sowie von mehreren hundert abgeschlachteten Flüchtlingen in der Sekundarschule von Nyamishaba. Er schätzte spontan, daß etwa die Hälfte der Wohnbevölkerung von Nyabidahe und dem Wohnzentrum von Cyumbati umgebracht worden sei, wenn man den hohen Tutsi-Anteil zugrundelege. Er bat mich zu versuchen, einige noch (über-) lebende Kinder unter den Leichenbergen der Schule herauszuholen. Nach kurzer Rücksprache mit meiner Frau fuhr ich mit Freiwilligen des Roten Kreuzes in der Krankenhausambulanz los: Vor Ort führte uns ein Verwaltungsangestellter der Schule durch ein grauenvolles Szenario: Im Hof und auf den Außengängen vor den Schlafräumen lagen mehrere hundert Leichen, überwiegend von Frauen und Kindern. Wenige Männerleichen lagen auf einer Böschung vor den Schlafgebäuden (Verteidigungs- oder Fluchtversuch?). Fast alle hatten zentimetertiefe Machetenschnittwunden im Nacken oder auf dem aufgeplatzten Schädel, einige auch auf Gliedmaßen und Rumpf. Die meisten waren schon in Totenstarre vom Vorabend, doch einige waren noch halbwarm und beweglich, das heißt, sie waren erst vor Stunden nach langsamem Verbluten qualvoll gestorben. Unter all den Leichen fanden wir nur zwei unverletzte Kleinkinder und fünf schwerverletzte Kinder, deren tiefe Wunden verkrustet offenstanden. Einer konnte sogar trotz der tiefen Nackenwunden noch seinen Kopf hochhalten und gehen. Nach eiliger Besichtigung mehrere Lehrerwohnungen, wo wir ebenfalls zahlreiche Leichen drinnen und draußen vorfanden, flüchtete unsere nun voll beladene Ambulanz wieder zum Krankenhaus zurück. Einige Frauen mit Kindern, die in einem anderen Wohnhaus verschont worden waren, mussten wir zurücklassen, da sie nicht auf dem Weg zum Krankenhaus vorauszugehen wagten. Am Eingang zur Schule saßen drei gelangweilt wirkende Schüler aus Byumba mit Machete, die ›Wache hielten‹.«131

      So oder so ähnlich hat es sich zwischen April und Juli 1994 zigtausendfach in Ruanda zugetragen. Und es war vor allem die Zahl der Opfer und die angestrebte Vollständigkeit der Vernichtung, die als Nachweis des erlittenen Unrechts zählten. Dass hier der Völkermord als das größere Verbrechen galt, stand daher allgemein132 und nicht nur für die Überlebenden – und als solche wurden nur die Opfer des Völkermords bezeichnet – außer Zweifel. Massaker, so sie denn überhaupt glaubhaft mitgeteilt werden konnten, waren dem Völkermord zeitlich vorgelagert oder dessen Begleiterscheinung, jedenfalls Verbrechen, die in der Tatschwere hinter denen des Völkermords rangierten. Allerdings betrafen sie die große Mehrheit der Bevölkerung, wurden untereinander kommuniziert und prägten Selbstbild und Erwartung. Demgegenüber standen Selbstbild und Erwartung der Bevölkerungsminderheit, über die Landesgrenzen hinaus unterstützt von der assoziativen Kraft des Genozidbegriffs und gefördert von einer Regierung, deren stärkste Kraft – die FPR – sich die Beendigung des Völkermords auf die Fahnen schrieb.

      Natürlich gab es auch eine ganze Reihe von Versuchen, die Distanz oder Kluft zwischen beiden Seiten zu überbrücken: Hutu-Politiker, die in Opposition zum Habyarimana-Regime gestanden hatten und in die Übergangsregierung eingetreten waren, sogar Offiziere der früheren Armee Forces Armées Rwandaises (FAR), die, obwohl notwendigerweise Hutu (kein Tutsi konnte in der Habyarimana-Armee Offizier werden), in der Rwandan Patriotic Army und den neuen Rwanda Defense Forces (RDF)133 Dienst tun wollten und auch übernommen worden waren. Oder aber Tutsi, die nicht der FPR beitraten, sondern zusammen mit Hutu in den alten Oppositionsparteien blieben, oder Überlebende des Völkermords, die sich um den Erhalt des Friedens willen eine nicht militärisch erzwungene Rückkehr der Flüchtlinge gewünscht hatten und von der

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