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und Erweckungsbewegung kommt Brecht zu dem Schluss:

      «Wenn man so will, könnte man das, was in weiten Teilen des kontinentalen, europäischen Protestantismus sich als Fortsetzung des Pietismus darstellt, zumindest im kontinentalen, aber wohl nicht vom angelsächsischen Horizont aus für das 19. Jahrhundert nach wie vor unter dem Obertitel Pietismus als Erweckungsbewegung und Evangelikalismus bezeichnen und sich auf diesen gemeinsamen Nenner einigen.»96 |46|

      ‹Erweckung› ist kein singuläres Ereignis des 19. Jahrhunderts.97 Immer wieder gab es in der Geschichte der christlichen Kirche Erweckungsbewegungen, doch erst im frühen 19. Jahrhundert wurde ‹Erweckung› zum Fachbegriff für «eine sich in mehreren Ländern zeigende, im Wesen antiaufklärerische Bewegung mit dem Höhepunkt um das Jahr 1830».98

      Gäbler nennt fünf Motive, die charakteristisch für die Erweckungsbewegung in all ihrer Unterschiedlichkeit sind:

      1 Das prophetische Motiv, das eine Analyse der Zeitereignisse mit der Heilsgeschichte in Verbindung bringt, dabei wird die Gegenwart als krisenhaft erfahren und beschrieben.

      2 Das biblizistische Motiv, das den Gegensatz zur historisch-kritischen Schriftauslegung betont und dezidiert antiaufklärerisch ist.

      3 Das chiliastische Motiv, das im Bewusstsein der bevorstehenden Endzeit in seiner postmillenaristischen Ausprägung, in Form von missionarischer, evangelisatorischer und karitativer Arbeit, zu unermüdlicher Arbeit für das Bauen des Gottesreiches führt.

      4 Das universalistische Motiv hängt mit dem chiliastischen Motiv insofern zusammen, als dass die Erweckten in der postmillenaristischen Tradition auf ein «universales, weltweites Gottesreich ohne nationale Barrieren und ohne konfessionelle Schranken» warten und die tatsächlich existierenden weltweiten evangelikalen Netzwerke als Zeichen dieses universalen Gottesreiches sehen.99 Dieser Universalismus kann jedoch auch in sein glattes Gegenteil, in Partikularismus oder Nationalismus umschlagen, so dass dann z.B. die Vereinigten Staaten von Amerika als Ziel der Heilsgeschichte gelten.|47| 5. Das individualistische Motiv betont die persönliche und selbständige Gotteserfahrung, die jeder Christ machen müsse. Sie ist das wesentliche Merkmal des christlichen Glaubens. Wie im Pietismus dient die persönliche Bekehrung, das persönliche Gottesverhältnis zudem als gemeinschaftsstiftendes Erkennungszeichen.

      Die Erweckungsbewegung steht in enger Beziehung zum Pietismus. Besonders die Verbindungen von Gestalten der Erweckungsbewegung wie Thomas Chalmers, Ami Bost oder Ludwig Hofacker zum Herrnhuter Pietismus sind zahlreich und bislang noch nicht intensiv erforscht. Mit dem indi­vidualistischen Motiv hing das soziale Motiv eng zusammen, das die Tradition von wissenschaftlichen, gemeinnützigen oder religiösen Gesellschaften aus dem 18. Jahrhundert fortsetzte. Mündige Christinnen und Christen schlossen sich zu Vereinen und Gesellschaften zusammen. Wie bei den aufklärerischen Sozietäten waren auch hier die Freiwilligkeit, die persönliche Überzeugung und die grundsätzliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen (zumindest vor Gott) zentral. So bestand eine fortgesetzte Kontinuität zwischen Aufklärung und Erweckung. Zugleich waren diese Zusammenschlüsse zweck­gebunden und dienten ganz bestimmten Aufgaben wie der Bibel- oder Trak­tatverbreitung oder eben der Heidenmission.

      Gäbler weist nicht allen fünf Motiven die gleiche Bedeutung zu. Zentral sind endzeitliches Bewusstsein, Erfahrungsreligion und der Sozietätsgedanke. Die von ihm verwendeten Begriffe sind sehr umfassend. Es besteht die Gefahr einer Verkürzung z.B. beim Begriff der Erfahrungsreligion.100 Jedoch geht es ihm in erster Linie darum, das Phänomen ‹Erweckung›, das sich durch seine Vielgestaltigkeit einer Beschreibung immer wieder zu entziehen sucht, mit |48| den fünf Motiven bzw. drei Hauptmotiven zufriedenstellend zu charakterisieren. Dadurch gewinnt die Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts einerseits ein eigenständiges Profil gegenüber dem Pietismus, andererseits wird deutlich, dass es ohne pietistische Traditionen und Aufklärung kein ­endzeitliches Bewusstsein gäbe, Erfahrungsreligion und Sozietätsgedanke un­denkbar wären: «Das Zusammentreffen dieser drei Motive charakterisiert die Erweckung im europäischen und im amerikanischen Protestantismus und unterscheidet sie von anderen Bewegungen.»101

      Der Begriff ‹Missionsjahrhundert› wurde 1880 von Gustav Warneck zum ersten Mal als Titel verwendet.102 In seiner Schrift Warum ist das 19. Jahrhundert ein Missionsjahrhundert? ist noch viel von der Euphorie zu spüren, die im 19. Jahrhundert zu der großen Ausbreitung protestantischer Missionsgesellschaften vor allem in England und im ganzen deutschsprachigen Raum führte.

      Für Warneck, dem «Begründer eines wissenschaftlichen Ansatzes im protestantischen Missionswesen»103, war Mission zunächst einmal deutlich Gottes Wille und das barmherzigste aller Werke. Mission diene also dem Wohl der Menschheit.104 Daneben zeige sie aber auch die innere Verfasstheit einer Kirche an.105

      Auf die Frage, warum ausgerechnet das 19. Jahrhundert ein ‹Missionsjahrhundert› sei, gab Warneck zwei Antworten. Zum einen sprachen die Zahlen für sich: Die Missionsgesellschaften hatten sich enorm vermehrt, die Zahl der Mitarbeiter wie auch die Zahl der Bekehrungen war gestiegen und die Missionen waren in so vielen Ländern auf dem gesamten Erdball tätig wie nie zuvor. Zum anderen machte sich eine geistige und sittliche Hebung, d.h. eine Wiedergeburt der Völker bemerkbar und zeigte Parallelen zur erfolgreichen Mission in apostolischer und mittelalterlicher Zeit.106 Warneck stellte fest: Gott hatte im 19. Jahrhundert in der protestantischen Kirche nicht nur den Missionsgeist geweckt, sondern auch noch die Möglichkeit zur Mission geschaffen. Dies zeigte sich darin, dass das 19. Jahrhundert auch das Jahrhundert der Entdeckungen und der Erfindungen war. Er führte in diesem Zusammenhang sowohl die Entdeckungsfahrten von James Cook auf, als auch die technischen Erfindungen wie Eisenbahn oder Telegraf, durch die Reisen, Handel, Kommunikation |49| und politische Beziehungen über weite Entfernungen hinweg enorm erleichtert oder erst ermöglicht wurden. Sogar der neue protestantische bzw. englische Kolonialbesitz wurde indirekt zum Mittel missionarischer Möglichkeiten.107

      All diese Zeichen machten deutlich: Mission war für die evangeli­sche ­Kirche Pflicht, ein Versäumnis war Sünde und hatte schlimme Folgen: «Die Missionswege, die er gebahnt, fordern zu Missionsreisen auf und der Mis­sionsgeist, den er mitgetheilt, drängt zur Missionsarbeit. […] In geöffnete ­Thüren muß man eintreten. Thut man es nicht, so werden sie vielleicht wie­der geschlossen oder andere treten ein, die Gottes Werk verderben.»108 Für War­neck war die logische Konsequenz aus dieser Erkenntnis, dass alle (protestantischen) Christinnen und Christen dazu aufgerufen waren, sich für die Mission zu engagieren. So wie der Stellenwert, den die Mission in der Kirche einnahm, Auskunft über den geistlichen Zustand derselben gab, so zeigte das missionarische Engagement auch bei dem/der Einzelnen einen lebendigen, ernsthaften Glauben an. Er schloss deshalb seine Schrift mit der Versicherung, dass Mission ebenso schrift- wie zeitgemäß sei.109

      Im Jahr 1893 war von diesem euphorischen, optimistischen Aufruf zur Mitarbeit nicht mehr viel übrig. Der ehemalige Basler Missionar und Redakteur des Evangelischen Missions-Magazins, Johannes Hesse, zog unter dem Titel Das Missionsjahrhundert eine kritische Bilanz. Auch für ihn stand außer Frage, dass das 19. Jahrhundert die Zeit der protestantischen Mission war. Dann beschrieb er die zunehmende Ausdifferenzierung der Missionsmethoden und -mittel und stellte auch für die Missionsgesellschaften und den ‹Erfolg› der Mission insgesamt fest, dass sie vielgestaltig und von unterschiedlicher Qualität seien.

      «Wir glauben dennoch an den Erfolg der Mission. Allerdings nicht so wie manche unerfahrene Freunde, welche meinen, jeder Bekehrte sei ein Heiliger, alle Missionsgemeinden seien besser als die alten Christengemeinden in Europa, und wenn man nur noch ein wenig Geduld habe, so werde es bald keine Heiden mehr geben. Nein, so ist es nicht. Auch der Missionserfolg ist – allerlei Gattung, d.h. gemischter Art, und meist wird des |50| Unkrauts mehr sein als des guten Weizens, der faulen Fische mehr als der gesunden. Aber, wie gesagt, wir glauben, dass auch bei gründlicher Untersuchung und Erwägung aller Umstände sich ein grosser und schöner Missionserfolg wird nachweisen lassen.»110

      Die Ernüchterung, die hier anklingt, wurde bei Reinhold Grundemann, einem engen Mitarbeiter Warnecks, in seinem Rechenschaftsbericht über das abgelaufene Missionsjahrhundert

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