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überprüfbarer Wahrscheinlichkeiten und nicht um Spekulationen oder fake news beruhen. Diese Sehnsucht nach der Wahrheit begleitet die Menschheit von Anbeginn an, und es ist ebenso von Anfang an klar, dass die Antworten von der jeweiligen sozialen Teilnahme abhängen. Von diesem Standpunkt aus wird gefragt, aus welcher Bevorzugung oder Benachteiligung eines Seelenanteiles jemand spricht, wie dadurch seine Erkenntnisinteressen geprägt werden und in welche Richtung es die Akteure drängt. Schließlich ist auch die Frage immer wesentlich, ob die Überlegungen nur theoretisch sind oder auch in Handlungen umgesetzt werden können, in welcher Reichweite, bis wann und mit wessen Hilfe.

      Trotz all dieser Standpunktfragen bleibt die menschliche Wahrnehmung voll blinder Flecken. Der Kontext, in den Menschen hineingeboren werden, ist für sie immer schon ein Raum selbstverständlicher Wirklichkeit und Wahrheit. Ein Heraustreten aus vorgegebenen Handlungen, ein Beobachten mit neutralen oder zumindest multi-perspektivischen Ansätzen, bedeutet in der Regel einen Übergang in das wissenschaftliche Beobachten und Denken. Am Ursprung unseres heutigen Verständnisses der Wechselspiele zwischen Autorität und Individualität steht eine geistige Bewegung, die den Menschen selbst in ein Recht setzt, in sein Menschenrecht und seine Aufklärung, die die äußere Vorherrschaft der weltlichen oder göttlichen Herren bricht. Mit der Neuzeit geht der Mensch einen Vertrag mit der Gesellschaft ein, in dem er von der Gesellschaft zwar seine Freiheit erhält, sich aber zugleich stillschweigend verpflichtet, anderen Menschen und der Gesellschaft insgesamt nichts anzutun, eine Verpflichtung, die ihn selbst schützen soll. Vor dieser Voraussetzung kann dem Individuum deutlich mehr Spielraum in seinen Handlungen zugebilligt werden, als es die Unterordnung unter Adel und Kirche bis zum Ende des Mittelalters vorgesehen hatte. In diesem Spannungsverhältnis von Autorität und Individualität ist der neuzeitliche Mensch situiert. Hier entsteht ein neuer Denk- und Vorstellungsraum, in dem wir bis heute viele Themen, auch die Nachhaltigkeit, als sinnvoll, möglich oder wichtig beurteilen.

      Der Begriff der Natur gewinnt zudem an Bedeutung. Mit dem Beginn der Aufklärung und der Loslösung von mittelalterlichen Denkstrukturen wurde der Begriff der Natur und eines angenommenen Naturzustandes zentral und stellte einen direkten Angriff auf Religion und Kirche dar. In der Religion wird die Vernunft durch den Glauben eingegrenzt und ermöglicht, nur derjenige, der glaubt, kann in diesem Sinne verstehen. Die Aufklärung hingegen will aufdecken, was vor dem Glauben oder der Herrschaft steht, welche Wahrheiten sich eröffnen, wenn die Verhältnisse nicht durch die Brille der Dogmatik oder des Glaubens als bloße Wunder betrachtet werden, wenn sie nicht allein durch politische Herrschaftswünsche bestimmt sind.

      In der Moderne nimmt vor diesem Hintergrund die Bedeutung rationaler Begründungen umfassend zu, die wahrnehmenden und selbstbewussten Fähigkeiten der Menschen sind aufgrund der Vermehrung produktiver Tätigkeiten angewachsen. Die Bilder von Welt verschieben sich: Die antike Polis und selbst noch die mittelalterliche Stadt versuchten sich vor ihren Feinden durch Stadtmauern zu schützen; wir erleben dieses Bild einer Weltordnung heute nur noch als Denkmal, als Möglichkeit des Beschauens von Ruinen. Wir wissen, warum es Stadtmauern gab. Begrenzungen nach außen mussten fest und solide sein, um Menschen zu schützen. Doch wissen wir auch, was die Mauern überflüssig machte? Die Vorstellung eines solchen Schutzraums, der zugleich Geborgenheit und Abgrenzung bedeutet, die konkrete Erfahrung, sich hinter den dicken Stadtmauern gegen die Willkür fremder Eindringlinge behaupten zu müssen, verwandelt sich seit der Moderne in ein Wissen über die Menschen und die Natur. Im Zeitalter von Artillerie und Bomben helfen nur Vertrags- und Rechtsverhältnisse zwischen Menschen und Nationen, um die nicht mehr so direkt sichtbaren Grenzen zu befestigen. Wie jedes Recht können auch sie gebrochen werden. Aber der grundsätzliche Wandel, der sich ereignet hat, bedeutet seither die Welt und die Natur als einen Vertragszustand zu begreifen.

       Die moderne Kriegserklärung an Mensch und Natur

      Kaum ein anderer hat in der frühbürgerlichen Gesellschaft die Möglichkeit, ja vielmehr die Notwendigkeit des Verdrehens von Rechtsverhältnissen zum eigenen Vorteil so deutlich beschrieben wie Niccolo Machiavelli. Er stellte die Macht, die reale Politik, an die Seite der idealen und oft idealisierten Verträge: Er legte seine Ansichten vor allem in der Schrift Der Fürst nieder, fundierte sie aber besonders durch Studien über die römische Geschichte, um die Regeln ausfindig zu machen, durch die die Menschen von jeher beherrscht werden und sich beherrschen lassen. Dieses Wissen begleitet uns seither, auch wenn wir niemals seine Schrift gelesen haben mögen. An die Stelle konkreter Stadtmauern und Schutzwälle ist ein Wissen getreten, das als menschliche Erfahrung tradiert wird.

      Nach Machiavelli gibt es in der Geschichte Zeiten, die eine Entstehung von Monarchie und Diktatur eher begünstigen, dann wieder Epochen mit stärker demokratischem Zuschnitt. Dass dies so ist, liegt an den Menschen selbst, denn ihre Leidenschaften bedingen mit psychologischer Notwendigkeit all die Handlungen, die dann als Geschichte erscheinen. Machiavelli fokussiert sich hierbei auf die sichtbaren Wirkungen und gibt einen Erfahrungsbericht. Für ihn gibt es keinen ewigen Staat, keine ewigen Mauern oder haltbare Grenzen, denn alles ist durch den Kampf aller gegen alle bestimmt. Jede Ideologie, die uns die Welt erklären will, ist bloß ein Instrument dieses Kampfes. Selbst die wirklichen Handlungen sind unabhängig von ihrer Rechtfertigung immer Kampfansagen: erst handeln, dann rechtfertigen. Lügen und Verbrechen allerlei Art werden nach folgenden Mustern empfohlen und gerechtfertigt: Tue es nicht, wenn die Übermacht zu groß ist. Ist sie nicht zu groß, dann tue es und entschuldige dich. Wenn es gar nicht anders geht, tue es und leugne die Tat. In jedem Falle: Tue es und bereue es nicht, denn was du nicht tust, das tut ein anderer.

      Machiavelli ist ein Denker, der für den Kampf zur Gründung der Moderne ebenso taugt wie für die Gegenwart. Schauen wir auf den Kampf um Nachhaltigkeit, dann scheinen besonders Umweltsünden nach dem Muster von Machiavelli immer noch gut zu funktionieren. Nehmen wir das Beispiel Glyphosat. Tue es nicht, wenn die Regulierungen stark zunehmen oder hohe Geldstrafen eingeführt werden. Entschuldige dich durch Entschädigungen, die du zugleich für unberechtigt erklärst. Leugne den Schaden und mache weiter, bis es gar nicht mehr anders geht.12

      Mit Machiavelli gewinnen wir eine gänzlich neue Auffassung über die Autorität. Der Wert einer Herrschaft wird nicht mehr an ihrer Gerechtigkeit, sondern an ihrem Nutzen gemessen. Seine Ansichten passen allen, die nur am Zweck interessiert sind, solchen, die im Kapitalismus und in der Machtpolitik immer nur für die eigene Sache einstehen. Für Machiavelli sollte Gewalt nicht nach dem Maßstab des Guten oder Bösen gemessen, sondern vorrangig nach ihrem Erfolg beurteilt werden. Auch wenn Machiavelli dies nur bezogen auf die menschlichen Leidenschaften, die er als Basis der kämpfenden Antriebe vermutet, diskutiert, so wird seither immer klarer, dass dies eine Gesamtkonzeption der Lebensweise des Menschen in der Moderne wird, deren ökonomischen Anteil ich ausführlich im zweiten Band erörtern werde. Hier genügt es zu sagen, dass der Mensch seither als des Menschen Wolf erscheint.13 Bei Machiavelli ist dabei der Gedanke einer ewigen Wiederkehr des Gleichen angesprochen, ein Gedanke, der bei Nietzsche später zentral werden wird. Nietzsche beschreibt im Zarathustra den Menschen als ein Seil, das über einen Abgrund gespannt ist. Auf diesem Seil tanzt der Mensch und fürchtet sich, in die Tiefe zu stürzen. Dabei ist er selbst zugleich das Seil, auf dem er tanzt. Kaum besser kann die Nachhaltigkeitsfalle in ein Bild verwandelt werden. Wir tanzen auf dem Seil und fürchten die Tiefe, tun gar so, als sei da kein Abgrund, sondern das Seil ein Grund. Was wir stets vergessen ist dies: Dass wir es sind, dieses Seil, und dass wir uns vor dem drohenden Abgrund unter uns nur retten können, indem wir hinabblicken und ihn ansehen – so wie er ist – und mit der Arbeit beginnen.

      Mag man viel über Machiavelli – seine Bloßlegung der Mechanismen und Einsatzmittel von Herrschaft und Gewalt – gestritten haben (vgl. Cassirer 1985, 153 ff.), die geschichtsphilosophische Konsequenz scheint kaum noch hintergehbar (vgl. Horkheimer 1936), denn in ihrer Realität ist sie seither überall zu spüren: In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Freiheit gegenüber der Tradition gewachsen, es ist nun denkbar und unter strategischem Gesichtspunkt sogar sinnvoll, die Pfade der Tugend zu verlassen und alle Taten zu legitimieren, wenn nur ein Nutzen für die Akteure dabei herausspringt. Zwar toleriert man solcherlei Handlungen vielleicht nicht gern innerhalb der eigenen Familie, aber wer den Staat betrügt oder irgendjemanden schädigt, der ohnehin genug Reichtümer

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