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für das Verhältnis von Christentum und Sciences nur, solange Selbstmissverständnisse auf beiden Seiten herrschen. In Wahrheit gilt diese Devise ausschließlich für das Verhältnis zu anderen Weltanschauungs- und Ethosgemeinschaften und den Institutionen ihrer Gewissheitskommunikation und -explikation (innerhalb deren sich – wiederum das Vermiedensein von Missverständnissen vorausgesetzt – dieselbe Nichtkonkurrenz zwischen ethosfundierender, nämlich zielwahlleitender Weltursprungs- und Weltzielgewissheit und wegen bleibender Regelgewissheit wiederholt) – jedenfalls sofern diese anderen Weltanschauungs- und Ethosgemeinschaften selbst pluralismusfähig sind, indem sie ihre besondere perspektivische Sicht der universalen Bedingungen des Menschseins von deren uneinholbarem, alle umfassendem Vorgegebensein und zu-verstehen-Gegebensein für sie und alle anderen Positionen unterscheidet.

      3.3 Soweit zur Präsenz der christlichen Ethosgemeinschaft und ihrer Gewissheitskommunikation auf der Ebene der gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Sie ist aber auch im Alltag präsent.

      Es ist nicht nur dogmatisch,76 sondern auch empirisch falsch,77 dass individuelles christliches Leben im Gegensatz zum Leben der Glaubensgemeinschaft oder gar unabhängig von ihm real sein könnte oder wäre. Vielmehr orientieren die Einzelnen die eigene Wahl ihrer individuellen Lebenswege jeweils an ihrer eigenen individuellen Aneignungsgestalt derjenigen Sicht der Welt und ihres Ziels, die ihnen in der Glaubensgemeinschaft als die gemeinsame zu verstehen gegeben wird. Und das geschieht vor Ort: nämlich fundamental, umfassend und auf Dauer im örtlichen Gottesdienst im Kirchenjahr:

      Von Advent bis Trinitatis bezeugt der die Wahrheit des Lebenszeugnisses Jesu für das Dauern der Gegenwart unseres Zusammenlebens als die in Selbstverwirklichung begriffene Herrschaft Gottes über seine Schöpfung; und er feiert das Aufgehen der Wahrheit dieses Evangeliums als das Licht auf dem Weg, den jeder Einzelne zu gehen hat. Art und Ziel dieses Weges bedenkt die zweite Hälfte des Kirchenjahrs: seine Eigenart als des Weges, der zuerst und zuletzt Gottes eigener Weg ist, auf dem dieser selbst noch unterwegs und im Kommen ist zu seinem Ziel: der Vollendung der geschaffenen Welt-seines-Ebenbildes, ihrem Ganz- und Fertiggewordensein. Weil auf dieses Ziel gerichtet (nämlich das Ziel des geschaffenen Ebenbildes Gottes), ist der Weg Gottes ipso facto der Weg, den jeder Mensch eigenverantwortlich mitzugehen hat: und zwar dem Ziel Gottes entgegen, das auch das objektive Ziel jedes Menschen ist: die Hineingeburt seines im Mutterschoß dieser Welt ganz- und fertiggewordenen Lebens in die Allgegenwart von Gottes ewigem Leben.78 Die befreiende Gewissheit dieses Zusammenfallens des Zieles von Welt und Mensch mit dem Ziel Gottes wird am Ewigkeitssonntag bekannt, auf den die Feier und Verkündigung des Evangeliums im Kirchenjahr zuläuft.

      Diese Teilnahme vermittelt den teilnehmenden Einzelnen ihre je individuelle Teilhabe an der praktischen Gewissheit des christlichen Glaubens und setzt sie instand, im Licht dieser Gewissheit die Wege ihres Lebens als das Erfüllen ihrer Bestimmung zu wählen und zu gehen und sie dann zu erinnern als das Erfülltsein ihrer Bestimmung. Sie können erfahren: »Dienst macht frei« in einer nicht an soziohistorische Konstellationen gebundenen Weise, und erbitten, was sie erhoffen: »zur Abendzeit« »erwünschten Lohn« zu empfangen (EG 494,6), nämlich das Urteil: »Ei, du frommer und getreuer Knecht […] geh ein zu deines Herren Freude« (Mt 25,21).

      Der Gottesdienst ist aber auch cultus publicus, öffentlich präsent und für unterschiedliche Weisen teilnehmender Erfahrung zugänglich. Auch in der Gegenwartsgesellschaft artikuliert er also auf deren »agora« und an die Adresse von deren Meinungsführern die biblische Sicht des Menschseins in ihrer christlich präzisierten alteuropäischen Gestalt und bezeugt in der Öffentlichkeit assertorisch,79

      – dass zu unserem gemeinsamen Erwartungswissen über technisch-orientierende, wegewahlleitende Scienceprodukte hinaus auch eine praktisch gewisse zielwahlleitende Sicht der Welt und ihres Eschatons hinzugehört,

      – dass also der Weg das Ziel nicht ist, sondern ein Ziel hat – eines, das nicht in der Welt, sondern von ihr erreicht wird, somit (metaphorisch geredet) nicht »vorne«, sondern »oben« liegt,

      – dass der nachhaltige Umgang mit unserem Zusammenleben, der es nicht unnötig verkürzt, erst durch Orientierung an dieser vorgegebenen Bestimmung von Welt und Leben erreicht wird,80 und

      – dass also auch die Wissensgesellschaft der Gegenwart, wie jede frühere und spätere, Aufklärung nie hinter, sondern stets vor sich hat – Aufklärung über ihre Bestimmung.

      Soweit meine angekündigten Vorschläge. Ob sie akzeptabel sind oder nicht, ist zu prüfen. Die dafür erforderliche Diskussion braucht ihre Zeit und beteiligt alle Fächer der Theologie. Sollte sich ergeben, dass die Dinge anders liegen als skizziert – vielleicht sogar günstiger –, sage ich nur: »Um so besser!«81

II FACHGRUPPEN-VORTRÄGE

       ALTES TESTAMENT

       Fremde Völker in der Prophetie des Alten Orients

       Jonathan Stökl

      Die alttestamentlichen Fremdvölkerorakel sind ein bekanntes Thema innerhalb der alttestamentlichen Forschung. In der altorientalistischen und vergleichenden Forschung allerdings sind »fremde« Völker bisher kein bedeutendes Thema. Dieser Aufsatz nimmt es sich zur Aufgabe, die Position fremder Völker in der altorientalischen Prophetie zu erhellen.1

      Der größte Teil altorientalischer Texte prophetischen Inhalts ist bekanntlich in zwei Korpora zu uns gekommen. Das ältere der beiden ist Teil des königlichen Archivs der altbabylonischen Stadt Mari, aus der Mitte des 18. Jahrhunderts v. Chr. am mittleren Euphrat.2 Das zweite größere Korpus stammt aus den Staatsarchiven des neuassyrischen Reiches aus Ninive im 7. Jahrhundert v. Chr.3 Darüber hinaus gibt es noch eine Handvoll weiterer Texte, sowohl aus altbabylonischer Zeit als auch neuassyrischer Zeit, sowie einige Hinweise auf die Existenz von Propheten, sowohl in mittelassyrischer wie auch neubabylonischer Zeit. Darüber hinaus existieren auch noch einige wenige transjordanische Inschriften aus der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr. sowie ein althebräischer Brief aus Lachisch.4

      In den folgenden Seiten werde ich einen ersten Überblick über das Material zu fremden Völker liefern, das Material ordnen, sowie einige, wie ich meine, interessante Beobachtungen anführen, die im Kontrast sowohl zu anderen altorientalischen Text- und Bildertraditionen als auch zu Traditionen, die in der Bibel stark vertreten sind, stehen.

      Fremde Völker werden in altorientalischen Texten meist als Bedrohung dargestellt, als Vertreter des Chaos, die es zu besiegen gilt, um den Kosmos zu erhalten, oder aber als schwach und hilflos.5 Vor dem Hintergrund der sehr heterogenen Gesellschaften Mesopotamiens, besonders im ersten Jahrtausend v. Chr. ist dies an sich schon bemerkenswert, da es eben nicht die tägliche Erfahrung der Menschen und Autoren widerspiegelt. Dabei spielen fremde Völker in den altorientalischen Texten prophetischen Inhalts eine nur untergeordnete Rolle. Innenpolitische Themen und praktisch-theologische Fragen dominieren die erhaltenen Texte.6 Es gibt hierzu allerdings einige bemerkenswerte Ausnahmen, mit denen wir uns unten näher beschäftigen wollen. Die Götterkampftradition schwingt dabei an entscheidenden Stellen mit, ist aber auch nicht übermäßig vertreten.

      Bevor wir uns mit den Texten selber befassen, möchte ich noch einige Vorbemerkungen zu den Begriffen »fremdes Volk« und »Fremdvölkerspruch« machen. Der Begriff ist in der alttestamentlichen Wissenschaft aus historischen Gründen – vor allem in der Prophetenforschung – wohlbekannt. Als stehender Ausdruck ist er im Alten Testament eher selten. Aber durch die sogenannten Fremdvölkersprüche – auf Englisch noch genauer: »oracles against the nations« – ist er in der Forschung breit belegt. In einer Zeit, in der nationale und nationalistische Kräfte in der gesamten westlichen Welt, mit zum Teil erschreckenden Konsequenzen, wieder erstarken, sollten wir uns bewusst sein, dass das Wort »Volk« nicht unbelastet ist und zudem keine natürlich gegebene Einheit beschreibt. Zudem ist historisch die Abgrenzung von »fremden« Völkern häufig

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