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selbst), nämlich aus der Zumutung, das Zusammenleben in den vier gleichursprünglichen Beziehungsdimensionen des Selbst-, Umwelt-, Welt- und Weltursprungsverhältnisses vollziehen zu müssen. Aufgrund dessen existiert das für gemeinsames Handeln erforderliche gemeinsame Erwartungswissen (Erwartender Zuverlässigkeit von Erwartungen) stets in drei gleichursprünglichen Gestalten mit einer je unterschiedlichen Art von Inhalt:28

      Erste Gestalt: Wissen über die realen Wirkregeln im Werden unserer Umwelt29

      – und zwar einerseits unserer menschlichen Umwelt, die in das sie bedingende Im-werden-Sein der nichtmenschlichen Umwelt eingebettet ist, das heißt Wissen über die Regeln des menschlichen Zusammenlebens, also über Kultur und ihre Geschichte; und stets auch zugleich

      – andererseits Wissen über unsere nichtmenschliche Umwelt im Werden, die nur vermittelst der personalen für uns zugänglich ist, also Wissen über die nichtmenschliche Natur und ihre »Geschichte«.30

      Zweite Gestalt: Wissen über die Bedingungen des Im-werden-Seins aller überhaupt möglichen realen Gestalten menschlicher Umweltbeziehungen, also Wissen über diese unsere Welt, d. h. über den Möglichkeitsraum allen innerweltlichen Werdens in der asymmetrischen Wechselbeziehung von menschlicher Kultur und nichtmenschlicher Natur.

      Dritte Gestalt: Wissen um die Kontingenz des Realseins dieser unserer Welt im Unterschied zu möglichen anderen,31 ein Wissen also, das stets Annahmen über den Grund des Realseins dieser Welt, den Ursprung und das Ziel ihres Realseins, einschließt; und zwar Annahmen die entweder diesen Grund von der durch ihn begründeten Welt unterscheiden oder nicht (und somit das Kontingentsein dieser Welt ignorieren und sie damit de facto [u. U. unbewusst] absolut setzen). Das Aufschieben oder Vermeiden einer expliziten Entscheidung dieser Alternative ändert am Realsein der Alternative gar nichts.

      In jeder dieser inhaltlichen Bestimmtheiten wahrt das gemeinsame Wissen seine einheitliche Form als zuversichtliches Erwarten aufgrund erinnerten Bewährtseins von Erwartungen: also als praktische Gewissheit, die das gemeinsame Wollen und Wirken der Menschen, ihren gemeinsamen Ausgriff auf ihre ausstehenden Möglichkeiten, orientiert und motiviert; und dies stets in allen drei materialen Bestimmtheitsgestalten zugleich und in gegenseitiger Wechselbedingung:

      – Praktische Weltgewissheit ermöglicht dem realen Zusammenleben von Menschen die Erkenntnis seiner innerweltlichen Identität, d. h. seines unverwechselbaren Ortes in der Welt, im währenden Für-es-selbst-Gegenwärtigsein des Gewordenseins-und-im-werden-Bleibens des Menschseins, also in der »Geschichte« von menschlicher Kultur und nichtmenschlicher Natur.32

      – Praktische Gewissheit über das Umweltverhältnis-im-Werden (in der Einheit der Wechselbedingung zwischen menschlicher und außermenschlicher Umwelt) orientiert und motiviert die Wahl von Wegen (oder: »Pfaden«) des Zusammenlebens zu gewählten Zielen.

      – Praktische Gewissheit der Kontingenz des Realseins unserer Welt samt den darin eingeschlossenen verschiedenen möglichen Annahmen über seinen Ursprung und sein Ziel, also über seine reale Bestimmung (Destination), orientiert und motiviert die Zielwahl. Wobei gilt: »Ziel« ist erst derjenige Zustand menschlichen Lebens, der nicht um eines anderen, sondern um seiner selbst willen angestrebt wird, das reale non plus ultra, der unüberholbare Letztzustand menschlichen Seins, sein Eschaton. Und dessen Erwartung hängt ab von der Alternative, unter der die Annahmen über Ursprung und Ziel des Imwerden-Seins unserer Welt stehen: entweder zwischen dieser Welt und der Bedingung ihres Ursprungs zu unterscheiden oder darauf zu verzichten (also die Kontingenz dieser Welt nicht zu begreifen oder faktisch zu verleugnen). Im erstgenannten Fall kann das Eschaton nicht in dieser Welt, im zweiten nur in ihr erwartet werden.

      Soviel zu den allgemeinen Form- und Inhaltsmerkmalen des für alles menschliche Zusammenleben erforderlichen gemeinsamen Wissens. Nun zur Manifestation und Thematisierung solchen Wissens in unserer Gegenwartsgesellschaft.

      2.2 Diese Gesellschaft weist – nach dem Übergang aus der Statik einer agrarischen Ordnung zur Dynamik einer städtisch-bürgerlichen – vier Grundzüge auf:

      – Ausdifferenzierung aller Grundfunktionsbereiche gegeneinander und intern,

      – damit verbunden: zunehmende Freisetzung der Individuen,

      – radikale Ersetzung jeder (quasi)ständischen Statussicherung durch uneingeschränkte Statuskonkurrenz (Konkurrenz um Gestaltungsmacht, Ansehen, Lebensstandard), die ihrerseits viertens

      – keineswegs ausschließt, sondern gerade hervorbringt: große Ungleichverteilungen von Entscheidungsmacht, die aber nur in Konkurrenz behauptet werden kann.33

      Diese Gestalt der Ordnung des Zusammenlebens ist in den westeuropäischen Ländern sowie den Ländern Nordamerikas und Australiens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreicht; alle seitherigen Weiterentwicklungen – bedingt durch die Resultate des gewaltsamen Austrags der imperialistischen Konkurrenz in zwei Weltkriegen, enorme technologische Fortschritte und den Aufstieg von »Wissenschaft« zu Weltanschauung – bewegen sich auf dem Grundriss dieser (notabene: selbst geschichtlich gewordenen) Ordnungsgestalt und variieren sie.34

      Als Exemplar dieser Gesellschaft habe ich diejenige der BRD vor Augen, den meisten von uns als unsere eigene Gegenwartsgesellschaft vertraut. Als Exemplar weist sie Züge auf, die in ähnlicher Weise auch andere westliche Gesellschaften aufweisen (aber soweit ich sehe nicht alle europäischen Gesellschaften im geographischen Sinne, nämlich wohl zumindest nicht die russische, in der die Erfahrung und Verarbeitung einer bürgerlichen Revolution fehlt).35

      Was wird nun in dieser Gegenwartsgesellschaft als »Wissen« thematisiert und kommuniziert?

      Jedenfalls – in der überwiegenden und maßgeblichen Mehrheit – nicht mehr das Ganze der soeben beschriebenen Triade von praktischer Gewissheit mit artverschiedenem Gegenstand und Inhalt.

      Vielmehr manifestiert schon Kants einflussreiche, weitwirkende Unterscheidung der Frage nach dem möglichen Wissen von der nach dem gebotenen Tun und der nach dem erlaubten Hoffen36 eine Engführung der Rede von »Wissen« auf nur noch ein Element jener Triade, nämlich auf das gewisse Erwarten bezüglich unseres Umweltverhältnisses-im-Werden; und diese Engführung ist heute zu einer in der Öffentlichkeit dominanten Selbstverständlichkeit geworden. Sogar in verschärfter Form: Denn erstens kommt schon das Erwartungswissen über die Regelmäßigkeiten im Werden unseres Umweltverhältnisses überhaupt nur noch zur Hälfte unstrittig als »Wissen« in Betracht, nämlich vollkommen unstrittig nur noch als das die nichtmenschliche Natur betreffende »natur«-wissenschaftliche Wissen – dann freilich auch als Beschreibung unserer menschlichen Mitwelt im Werden, also »kultur«-wissenschaftliches (oder: »geistes«-wissenschaftliches) Wissen, aber dies eben als »Wissen« nur, sofern auch hier dem naturwissenschaftlichen Vorbild des Datensammelns und Bildens von erklärungs- und prognosekräftigen Modellen gefolgt wird (Wirtschaftswissenschaft, Politologie, Pädagogik, Psychologie)37 oder ihm zugearbeitet (Geschichtswissenschaft).38 Auch die sogenannten »Geistes«-wissenschaften, die reflexiv das Zusammenleben von menschlichen, leibhaft-innerweltlichen Personen, seine durch kommuniziertes Gewisssein gesteuerten Ordnungsgestalten und Hervorbringungen, auf den ihnen konstitutiv zu eigenen »Sinn« hin befragen, vermochten ihren Status als Wissenschaften seit Eröffnung dieser Debatte durch Dilthey39 und Wortführer des südwestdeutschen Neukantianismus40 nur dadurch zur Anerkennung zu bringen, dass sie auch sich selbst als »Erfahrungs«-wissenschaften zu beschreiben und zu betreiben suchten. Freilich, ohne dass sie dabei zu einer unmissverständlichen Kritik und Überwindung des enggeführten Kantschen Verständnisses von »Erfahrung« zu gelangen vermochten.41

      Jedenfalls ist in unserer Öffentlichkeit gegenwärtig das Erheben von Wahrheitsansprüchen nur noch für Handlungseffektivität sicherndes Erwartungswissen, das aus den Sciences

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