ТОП просматриваемых книг сайта:
Christentum und Europa. Группа авторов
Читать онлайн.Название Christentum und Europa
Год выпуска 0
isbn 9783374058549
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)
Издательство Bookwire
– Zweitens: Diese faktische Zielstrebigkeit von Welt wird erst zu expliziter praktischer Gewissheit durch unverfügbare Erschließungsereignisse, die aber – unbeschadet ihrer Unverfügbarkeit – dennoch praktische Gewissheit schaffen.61
Nota bene: Auf dem variantenreichen Weg zu diesem Ergebnis hat es keinen Konflikt mit den in diese Zeit fallenden epochemachenden Anfängen der modernen Naturwissenschaft und des technologieorientierten Forschens gegeben. Die Kopernikus, Kepler, Galilei, Francis Bacon, Newton haben ihre wissenschaftlichen Einsichten nicht als Infragestellung des Vorgegebenseins der Weltdes-Menschen verstanden und betrieben, sondern als Ergreifung von Möglichkeiten des Erwerbs von Wissen über das menschliche Umweltverhältnis im Werden, seine Bedingungen und Wirkregeln, und als völlig legitime, ja gerade von der biblischen Sicht dieser Welt-des-Menschen freigegebene Steigerungen von Handlungsmacht, die als solche Möglichkeiten des Wissenserwerbs eben mit und in diesem Möglichkeitsraum des menschlichen Zusammenlebens vorgegeben sind.62
Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat eine andere Sicht des Menschseins zunehmend Maßgeblichkeit beansprucht und erlangt: die (schon angedeutete) aus den Sciences stammende Sicht.63 Für diese ist das Menschsein nicht ein solches, mit und in dem die Bedingungen allen möglichen menschlichen Wissens diesem immer schon zu-verstehen vorgegeben sind, sondern ein Sein, das dem Menschen erst durch Wissen gegeben wird, und zwar genau durch das Wissen der Sciences:64 eben sein Wesen als das einer biologischen Spezies, die durch die Entwicklung in nichtmenschlicher Umweltbezogenheit hervorgebracht ist und von anderen Spezies unterschieden durch überlegene Datenverarbeitungsfähigkeit und entsprechend überlegene Fähigkeit zu planvollem Wirken, das nun konsequent auch auf ihn (den Menschen) selber zielt als Optimierung seiner Lebensbedingungen, seiner biotischen mittels Gentechnik und seiner sozialen mittels elektronischer Datenverarbeitung. Dass dieser Weg dem so verstandenen Sein des Menschen widersprechen könnte, ist für diese Sicht ausgeschlossen, weil für sie dieser Weg selbst Ausdruck des Wesens des Menschen als des intelligentestes Tieres ist; und für diese Sicht ebenfalls ausgeschlossen ist, dass dieser Weg das Ziel des Menschseins verfehlen könnte, weil er selbst das Ziel ist.
Der israelische Historiker Yuval Noah Harari konstatiert in seinen beiden Bestsellern »Sapiens. A Brief History of mankind« (2011) und »Homo Deus. A short history of tomorrow« (2016) als die Signatur der Gegenwart die Verabschiedung der neuzeitlichen »Religion des Humanismus«.65 Das ist nicht revolutionär, sondern nur konsequent für eine Sicht des Menschen, die diesen als Produkt der Evolution von nichtmenschlichem Sein im Blick hat.66 Denn – wie von Darwin betont wird – »Der Mensch macht in der Evolution der nichtmenschlichen Natur keine Ausnahme.«67
Demgegenüber hält die christliche Gemeinschaft fest an der christlich präzisierten Version der alteuropäischen Sicht (soweit diese keine andere ist als die systematisch entfaltete Gestalt der biblischen Sicht)68 und behauptet: Die Naturwissenschaft macht keine Ausnahme; sie ist eine Hervorbringung menschlicher Kultur wie alle anderen und steht unter denselben Möglichkeitsbedingungenwie diese alle.69
Das kann die christliche Gemeinde nur mit Hilfe von Theologie, die den nicht sinnlich manifesten (als Datum oder Datenmenge aufzeichenbaren), wohl aber erlebbaren Gegenstand des fixen Textes der gottesdienstlichen Leseschriften und der regula fidei kommunikativ aufzeigt, ihm »zu sehen« gibt und beschreibt.70 Dieser Gegenstand der Texte, ihre res, ist nun aber nichts anderes als eine hinsichtlich ihres Zustandegekommenseins und ihres Inhalts unverwechselbare Gestalt menschlicher Gewissheit über die Verfassung unserer Welt, ihren Ursprung und ihre ursprüngliche Bestimmung. Diese bezeugte Gewissheit wird von der Theologie nicht argumentativ hervorgebracht, sondern expliziert: beschrieben und entfaltet. Insofern arbeitet Theologie gewissheitsexplikativ.
Diese Explikationsaufgabe kann sie freilich nur lösen, indem sie die in den festen Texten des Kanons der Überlieferung71 bezeugte Gewissheit, ihr Zustandekommen und ihren Inhalt, in permanent neuen Situationen und unter wechselnden kommunikativen Umständen beschreibt und damit als eine solche, deren Grund und Gegenstand so beschaffen ist, dass er immer neuen Situationsbedingungen gerecht wird. Die von Theologie verlangte gewissheitsexplikative Leistung kann also nie abschließend erbracht werden, sondern nur in dauernder situationsbezogener Wiederholung und Variation. Was nichts anderes heißt, als dass die gewissheitsexplikative Leistung der Theologie selbst in den Fortgang der Wirkungsgeschichte des zu explizierenden Gewissheitszeugnisses als eine unverzichtbare Bedingung ihres Fortgangs mit hineingehört. Dadurch kommt ihr unvermeidlich auch eine die Gewissheitsexplikation zunehmend konkretisierende Funktion zu – die jedoch nie selbst gewissheitskonstituierend wird: Die Wirkung der theologischen Gewissheitsexplikation bei ihren Adressaten bleibt, auch wenn sie zunehmend konkret wird, immer unverfügbar und an Evidenzereignisse gebunden, die den einzelnen Adressaten des Evangeliums durch ihr alltägliches Sich-selbst-Erleben-im-Zusammensein mit anderen zugespielt (oder eben vorenthalten) werden.
Aber nicht nur der spezifische, unverwechselbare Charakter der in Kanon und Glaubensbekenntnis bezeugten christlichen Welt-, Weltursprungs- und Weltzielgewissheit ist von Theologie zu explizieren, sondern zugleich auch deren exemplarischer Charakter: als spezifische Ausprägung eines gewissen Erwartens – gerichtet auf die Welt und ihr Eschaton –, ohne das das menschliche Zusammenleben überhaupt nicht möglich ist, weil diesem mit seiner dauernden Gegenwart sein eigenes Sein zu-verstehen vor- und aufgegeben ist als Zusammenleben in der Gleichursprünglichkeit von personalem Selbst-, Umwelt-, Welt- und Ursprungsverhältnis, so dass dieses Zusammenleben daher stets ein bewährtes gemeinsames Erwartungswissen (praktische Gewissheit) in der beschriebenen dreifachen Gestalt verlangt, das
– als gemeinsame praktische Weltgewissheit gemeinsame Identifikationen ermöglicht, sowie
– als gemeinsame Letztzielgewissheit Zielwahlen und
– als aus den sciences stammende Regelgewissheit über das Umweltverhältnisim-Werden Wegewahlen leitet.72
So insistiert Theologie, indem sie den exemplarischen Charakter der christlichen Welt- und Weltzielgewissheit deutlich macht, darauf, dass es überhaupt keine Interaktion von menschlichen, leibhaft-innerweltlicher Personen gibt ohne eine solche zielwahlleitende praktische Gewissheit und darum auch nicht außerhalb eines jeweils durch eine solche fundierten Ethos: keine politische Interaktion, keine wirtschaftliche Interaktion und keine Interaktion, die dem Erwerb und der der Kommunikation von gemeinsamen handlungsleitenden praktischen Gewissheiten – seien sie wegewahlleitend oder zielwahlleitend – dient. Alles dies vollzieht sich zwischen Menschen – immer und überall – innerhalb des jeweiligen »Ethos«, das für sie aufgrund ihrer Bildungsgeschichte herrschend geworden ist.73
Und indem Theologie zugleich die unverwechselbare Spezifität der christlichen Welt- und Gottesgewissheit (also Weltzielgewissheit) expliziert, expliziert sie das Fundament des christlichen Ethos, das die Interaktion von Christen mit Christen und Nichtchristen in allen Grundfunktionsbereichen leitet, also
– christliches Zielwählen in Politik, Gesetzgebung und Rechtswaltung,
– christliches Zielwählen im Bereich des Wirtschaftens,
– christliches Zielwählen im Betrieb von sciences (»Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang«)
– christliches Zielwählen im Diskurs der christlichen mit anderen Weltanschauungs- und Ethosgemeinschaften.74
Als eine solche Ethosgemeinschaft setzt sich die Glaubensgemeinschaft nicht mit dem Gemeinwesen gleich, macht aber darauf exemplarisch aufmerksam, dass es überhaupt keine Interaktion außerhalb eines bestimmten Ethos gibt, und fragt damit alle Nichtchristen nach ihrem Ethos und dessen Fundamenten und tritt heute ein für ein Gemeinwesen