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kann. Mir ist selbstverständlich klar, dass das Surfen nicht meine erste Priorität sein darf. Vielmehr stehen Sicherheit und Überleben an oberster Stelle. Wenn dann noch Timingfragen hinzukommen, ungünstige Wetterbedingungen, Seegang, komplizierte Ein- und Ausreiseformalitäten in unterschiedlichen Ländern, das Proviantieren, notwendige Wartungen, die Reisepläne meiner Crewmitglieder, Öffnungszeiten von Internetcafés – da steht das Surfen im Handumdrehen zurück.

      Wenn aber sämtliche Vorzeichen stimmen, ist es die reinste Magie. Daher stehe ich selbst nach diversen furchterregenden Beinahe-Blitzeinschlägen wieder an Bord und halte erneut Ausschau nach der nächsten Surfgelegenheit. Stur war ich immer schon. Meine Tante Julie Ann behauptet: weil ich im Sternzeichen Stier bin. Bei mir sticht das Verlangen oftmals die Vernunft aus, insbesondere wenn es ums Surfen geht.

      Bis wir in panamaische Gewässer einfahren, fallen mir schier die Augen zu. Ich laufe nach unten, um meinen aktuellen Segelgefährten zu wecken.

      »Jake … Jake … Ich bin hundemüde, könntest du übernehmen?«

      Er schlägt die smaragdgrünen Augen auf. »Hey, Lizzylein. Klar, wird gemacht.«

      Er lächelt sein schelmisches Lächeln, das mich daheim in Santa Barbara sofort in seinen Bann geschlagen hat, kurz nachdem Barry mir sein Angebot unterbreitet hatte. Wir waren eine Zeit lang ein Paar, sind zusammen segeln und surfen gewesen. Jake ist wahnsinnig charismatisch und war mir jederzeit eine Stütze. Mit ihm wurde es einfach nie langweilig. Sein Draufgängertum brachte ihn hier und da in Schwierigkeiten, aber seinem Löwenherz, dem selbstironischen Humor und seiner Couragiertheit konnte – und kann – ich einfach nicht widerstehen. Er hat nie auch nur versucht, mich von etwas abzuhalten, und mich im Vorfeld meiner Reise bei meinem Vorhaben stets unterstützt, während er selbst seinem eigenen lang gehegten Traum nachging, Profiangler zu werden.

      Nachdem ich eine Stunde geschlafen habe, wache ich vom Platschen fetter Regentropfen auf. Dann wird das Platschen plötzlich zu einem ohrenbetäubenden Rauschen, ich springe auf und laufe nach oben. Unterwegs entdecke ich auf dem Radar einen massiven Sturm, der auf dem Display einen kompletten Acht-Meilen-Umkreis schwarz färbt.

      »Ist das normal?«, fragt Jake.

      »Weia, das sieht nicht gut aus«, murmele ich und spähe hoch zu den Blitzen, die um uns herum aufflackern. Ich habe kürzlich erst von einem Pärchen gehört, dessen Boot binnen Minuten gesunken ist, nachdem ein Blitz ein Loch in die Bootshülle geschlagen hat. Ich hoffe inständig, dass unsere Erdungsplatte funktioniert.

      Der Sturm scheint von allen Seiten näher zu rücken. Ich versuche, Kurs in die Richtung zu nehmen, in der unser Radar eine winzige Lücke anzeigt – vergebens. Die Segel hängen schlaff in der thermischen Konvektion.

      »Fass nichts an, was aus Metall ist!«, warne ich Jake, weil die Blitze immer näher kommen.

      Wie weiße Klauen schnellen sie rundherum nieder und erhellen die furchterregende Szenerie, während gleichzeitig Donnerschläge krachen. Ich beuge mich panisch hinunter, um das Funkgerät auszustöpseln, und meine Finger zittern, als ich die Kabel herausreiße.

      »Das ist also deine Vorstellung von Spaß«, stellt Jake ernüchtert fest. Wir kauern uns dicht zusammen, versuchen verzweifelt, nichts Metallisches zu berühren, sind den Elementen vollkommen ausgeliefert. Bei jedem Blitz bin ich von Kopf bis Fuß angespannt und wappne mich gegen den ohrenbetäubenden Donnerschlag, der folgt. Ich beiße die Zähne zusammen und kralle bei jedem unbegreiflich übermächtigen Schlag die Fingernägel in meine Waden.

      »Das wird schlimm«, flüstere ich.

      »Na ja, und falls das ein Zeichen sein sollte: Dein Bootsgecko ist gerade desertiert«, teilt Jack mir mit weit aufgerissenen Augen mit. Er hält mich fest umklammert. Der stur auf Unabhängigkeit bedachte Teil von mir will seine Unterstützung nicht, aber das hier könnte das Ende sein; die Minuten verstreichen quälend langsam, bis direkt über uns plötzlich drei Blitze auf einmal den Himmel zerreißen.

      KRACH! Und wieder. Und wieder.

      Der Donner vibriert im Brustkorb. Der dritte Blitz schlägt bloß eine Bootslänge entfernt ins Wasser ein, und die Oberfläche explodiert zu einer Fontäne regenbogenschillernder Gischt. Das Radar fällt komplett aus, der Kartenplotter zeigt noch kurz ein Fragezeichen an und verabschiedet sich ebenfalls.

      Völlig verängstigt wimmere ich und klammere mich an Jake fest. Tränen strömen mir übers Gesicht. Ich habe mich noch nie im Leben angesichts der Natur, der Naturgewalt, dieser ungezügelten, unvorhersehbaren Kraft, so winzig gefühlt. Ich rechne jeden Moment mit dem entscheidenden Einschlag, doch der nächste Blitz fährt ein Stück weiter nördlich nieder. Wir bleiben noch eine Weile stumm sitzen, bis der Sturm sich allmählich verzieht.

      »Alles okay, Skipperin?«

      »Ich habs mir anders überlegt«, sage ich. »Ich will einfach nur noch einen weißen Gartenzaun und einen Golden Retriever.«

       Wichtige Entscheidung

      Seit Monaten kämpfe ich mit einer Ohrenentzündung. Die Probleme fingen wohl an, als ich in der Nähe der Werft in verschmutztem Wasser surfen war. Ich habe inzwischen alles probiert – ein Potpourri aus Antibiotika, sogar als Spritze, und sämtliche Hausmittelchen, die mir einfallen wollten: Ohrenkerzen, Knoblauch, Traubenkernöl. Ich hab mir sogar einen Föhn geliehen. Die Antibiotika helfen vorübergehend, aber sobald ich sie absetze, ist die Infektion wieder da.

      Die hiesigen Ärzte wissen nicht weiter. Jake fährt morgen ab, und er macht sich Sorgen um mich. Meine Ohren sind angeschwollen und tun höllisch weh. Ich kann nicht surfen gehen, ich bin erschöpft und höre kaum noch etwas.

      Ich beschließe, Jake in die Hauptstadt Costa Ricas zu begleiten, von wo aus er wieder heimfliegen will. Nachdem wir uns voneinander verabschiedet haben, suche ich eine HNO-Spezialistin auf, die sich mithilfe einer Kamerasonde meine Ohren ansieht und das Bild auf einen Monitor überträgt. Was für ein Durcheinander da drinnen! Sie kommt zu dem Schluss, dass ich mir eine seltene Pilzerkrankung zugezogen habe, reinigt meine Ohren mit einem Vakuumgerät und verschreibt mir ein Antimykotikum. Ich soll für mindestens drei Wochen nicht mehr ins Wasser und mich ordentlich auskurieren. Weil ohnehin Feiertage anstehen, beschließe ich, nach Hause zu fliegen und mich bei meiner Familie zu erholen.

      Die Swell liegt sicher vor Anker, und Freunde passen auf sie auf, sodass ich unbesorgt die neue Wohnung meiner Eltern in Point Loma beziehen kann. Nach und nach kehren Gehör- und Gleichgewichtssinn zurück, allerdings fühle ich mich am ganzen Körper komisch. Meine Periode ist überfällig, und meine Brüste sind überempfindlich. Ich muss erneut an jenen Morgen denken, an dem Jake mal wieder ein Missgeschick passiert und ihm das Kondom gerissen ist. Ich muss schleunigst einen Schwangerschaftstest machen.

      Zwei pinkfarbene Linien stellen mich vor eine Entscheidung, die ich nie hätte treffen wollen. Ich erzähle es meiner Mutter – und Jake natürlich auch. Sie sind beide sofort bereit, mich zu unterstützen, ganz gleich, welchen Entschluss ich fassen sollte. Die Vorstellung, den Törn abblasen zu müssen, ist einfach entsetzlich. Ich war doch nicht mal ein Jahr unterwegs! Ich nehme gerade erst Fahrt auf, und meinen Traum jetzt aufzugeben kommt mir komplett undenkbar vor.

      Ein paar Tage später sitze ich in einer Privatpraxis in Los Angeles, wo meine Mutter und ein einfühlsamer Arzt mir versichern, dass eine Abtreibung mich nicht zu einem schlechten Menschen macht. Trotzdem bin ich angesichts der Kontroversen und Stigmata, die damit verbunden sind, zutiefst verzweifelt. Dann rufe ich mir in Erinnerung, was mir tief im Herzen eigentlich längst klar ist: dass es der falsche Zeitpunkt wäre. Dass ich noch nicht bereit für ein Kind bin. Dass ich noch so viel an mir verändern und mich weiterentwickeln muss.

      Auf dem Heimweg kauere ich mich auf dem Beifahrersitz zusammen, und stumme Tränen laufen mir übers Gesicht. Das hier wird mein düsterstes, finsterstes Geheimnis sein. Meine Mutter streichelt mir über den Arm. Ich bin unaussprechlich dankbar für ihre Unterstützung. Trotzdem ziehe ich mich in die Dunkelheit meines Schneckenhauses zurück. Tagelang

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