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vom Grübeln abgehalten hatte. Auch wenn er ihr versprochen hatte, den Mord an ihrer Tochter aufzuklären, musste er feststellen, dass er nicht mit ihr darüber sprechen konnte, ohne sie genau in die seelischen Qualen zu stürzen, die sie mit den Pillen zu lindern versucht hatte. Deshalb musste er sich die Frage stellen, ob er sie wirklich gerettet hatte.

      Weil es ein paar Tage dauern konnte, bis er wieder Gelegenheit dazu fände, rasierte er sich nach dem Duschen. Gerade als er damit fertig wurde, rief ihn Elizabeth zum Essen.

      In den Monaten seit Elizabeths Einzug hatte er das Esszimmer wieder seinem eigentlichen Zweck zugeführt. Er hatte seinen Laptop und die Akten der Fälle, an denen er arbeitete, in sein Schlafzimmer gebracht und dort einen Klapptisch aufgestellt. Er fand, Elizabeth sollte nicht ständig an Morde erinnert werden, vor allem nicht, wenn sie allein zu Hause war.

      Sie hatte für sie beide gedeckt und das Essen in einer Schüssel zwischen ihnen auf den Tisch gestellt. Zu trinken gab es zwei Gläser mit Wasser. Keinen Alkohol.

      »Sieht super aus«, sagte Bosch, als sie ihm etwas auf seinen Teller lud.

      »Dann hoffen wir mal, dass es auch super schmeckt«, sagte sie.

      Nachdem sie ein paar Minuten schweigend gegessen hatten, lobte Bosch ihre Kochkünste. Das Hühnchen hatte eine köstliche Knoblauchnote. Er wusste zwar, dass sich das später noch bemerkbar machen würde, behielt es aber für sich.

      »Wie war’s mit deiner Gruppe?«, fragte er.

      »Mark Twain ist ausgestiegen«, sagte sie.

      Sie nannte die anderen Mitglieder ihrer täglichen Gruppensitzungen nach bekannten Persönlichkeiten, an die sie sie erinnerten. Mark Twain hatte schlohweißes Haar und einen buschigen Schnurrbart. Außerdem gab es eine Cher, einen Albert (nach Einstein), einen O.J., eine Lady Gaga und einen Gandhi, den sie manchmal auch Ben nannte (nach Ben Kingsley, dem Schauspieler, der den Oscar für diese Rolle bekommen hatte).

      »Endgültig?«, fragte Bosch.

      »Sieht ganz so aus«, sagte sie. »Er hatte einen Rückfall und ist wieder auf die geschlossene Station gekommen.«

      »Das ist aber schade.«

      »Ja. Ich fand seine Geschichten immer richtig witzig.«

      Darauf verfielen sie wieder in längeres Schweigen. Bosch überlegte, was er sagen oder fragen könnte. Die Peinlichkeit ihrer Beziehung war immer mehr zu ihrem bestimmenden Element geworden. Bosch war schon vor einiger Zeit klar geworden, dass es ein Fehler gewesen war, ihr anzubieten, bei ihm einzuziehen. Er wusste selbst nicht recht, was er sich dabei gedacht hatte. Elizabeth erinnerte ihn an seine frühere Frau Eleanor, aber die Ähnlichkeit war rein äußerlich. Elizabeth Clayton war eine schwer traumatisierte Frau, die sich mit finsteren Erinnerungen herumschlagen musste und einen steinigen Weg vor sich hatte.

      Es war kein Angebot auf Dauer gewesen, eher eine Bis-du-wieder-auf-die-Beine-kommst-Sache. Bosch hatte einen großen Abstellraum in ein kleines Schlafzimmer umfunktioniert und mit Ikea-Möbeln eingerichtet. Das war allerdings schon fast ein halbes Jahr her, und Bosch war nicht sicher, ob Elizabeth jemals wieder auf eigenen Beinen stehen könnte oder würde. Der Lockruf der Sucht verstummte nie. Die Erinnerung an ihre Tochter war wie ein böser Geist, der ihr überallhin folgte. Und sie konnte nirgendwohin, außer vielleicht zurück nach Modesto, wo sie gelebt hatte, bis ein mitternächtlicher Anruf des LAPD ihr Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hatte.

      Gleichzeitig hatte Bosch seine Tochter verprellt, da er sein Angebot an Elizabeth nicht mit ihr abgesprochen hatte. Sie ging aufs College und war ohnehin immer seltener nach Hause gekommen, aber seit Elizabeth Clayton Teil des Haushalts geworden war, hatte sie ihre Besuche ganz eingestellt. Jetzt bekam Bosch Maddie nur noch zu sehen, wenn er es auf ein kurzes Frühstück oder spätes Abendessen mit ihr nach Orange County hinunter schaffte. Bei seinem letzten Besuch hatte ihm Maddie eröffnet, dass sie den Sommer über in dem Haus bleiben wollte, das sie mit drei anderen Studentinnen in der Nähe des Campus gemietet hatte. Bosch fasste diese Ankündigung als eine direkte Reaktion auf Elizabeths Anwesenheit in seinem Haus auf.

      »Ich muss heute Nacht arbeiten«, sagte er schließlich.

      »Ich dachte, diese Durchsuchung steht erst morgen früh an«, sagte Elizabeth.

      »Schon, aber bis dahin habe ich noch was anderes. Es hängt mit Daisy zusammen.«

      Darauf schwieg er erst einmal und wartete, bis er einschätzen konnte, wie sie diese Ankündigung aufnahm. Es vergingen mehrere Sekunden, und sie versuchte nicht, das Thema zu wechseln.

      »In der Hollywood Station gibt es eine Ermittlerin, die sich für den Fall interessiert«, fuhr er schließlich fort. »Sie war heute bei mir und hat mir alle möglichen Fragen gestellt. Sie ist bei der Late Show und will sich mit der Sache befassen, wenn sie Zeit hat.«

      »Bei der Late Show?«, fragte Elizabeth.

      »So nennen sie in der Hollywood Station die Nachtschicht – wegen der ganzen verrückten Geschichten, die dort spät nachts passieren. Sie hat alte Unterlagen gefunden, die ich gesucht habe: Karten, auf denen Streifenpolizisten die Namen von Leuten vermerkt haben, die sie kontrolliert haben, weil sie ihnen verdächtig vorgekommen sind.«

      »War auch Daisy unter ihnen?«

      »Wahrscheinlich, aber das ist nicht der Grund, warum ich sie durchsehen möchte. Mich interessiert vor allem, wer sich damals sonst noch alles in Hollywood herumgetrieben hat. Es könnte uns weiterbringen.«

      »Ach so.«

      »Jedenfalls sind es zwölf Kisten mit Karten. Wir sehen, wie weit wir heute Nacht kommen, und am Morgen ist dann der Durchsuchungsbeschluss an der Reihe. Für die Karten könnten wir durchaus mehrere Nächte brauchen.«

      »Okay. Hoffentlich findest du was.«

      »Die Ermittlerin – sie heißt Ballard – hat sich nach dir erkundigt. Sie hat gesagt, sie würde gern mit dir reden. Wäre das okay für dich?«

      »Klar. Ich weiß zwar nicht, wie sie das weiterbringen könnte, aber wenn es um Daisy geht, rede ich mit jedem.«

      Bosch nickte. So viel hatten sie über den Fall seit Wochen nicht mehr gesprochen, und er fürchtete, Elizabeth könnte in einen Strudel von Depressionen geraten, wenn er nicht das Thema wechselte.

      Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor acht.

      »Ich lege mich noch ein Stündchen hin, bevor ich losfahre«, sagte er. »Ist das okay für dich?«

      »Klar, mach nur«, sagte sie. »Ich spüle inzwischen ab und versuche, möglichst wenig Lärm zu machen.«

      »Deswegen brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich glaube nicht, dass ich schlafen kann. Ich will mich nur ein wenig ausruhen.«

      Fünfzehn Minuten später lag Bosch auf dem Rücken und starrte an die Decke des Schlafzimmers. In der Küche waren das Laufen des Wassers und das Klappern des Geschirrs zu hören, das Elizabeth in das Abtropfgestell neben der Spüle stellte.

      Er hatte den Wecker gestellt, aber er wusste, dass er nicht schlafen könnte.

      BALLARD

      8

      Ballard kam drei Stunden vor ihrer um 23 Uhr beginnenden Schicht in die Hollywood Station, um sich an die Durchsicht der Filzkarten zu machen. Zuerst holte sie sich im Hauptgebäude ein Funkgerät aus der Ladestation und ging dann über den Parkplatz zum Nebengebäude, in dessen Flur sie die Kisten mit den Karten abgestellt hatte. Das Fitnessstudio und der Kampfkunstraum waren leer. Sie suchte sich in einer der Abstellkammern, in der immer noch die Holzschreibtische aus der Zeit vor der letzten Renovierung lagerten, einen Platz zum Arbeiten. Trotz Boschs diesbezüglicher Skepsis war Ballard versucht, sich zunächst die Filzkarten aus der unmittelbaren zeitlichen Umgebung des Daisy-Clayton-Mords vorzunehmen. Vielleicht hatte sie Glück und stieß auf einer der Karten auf eine verdächtige Person. Ihr war jedoch klar, dass Boschs recht hatte. Der Gründlichkeit halber war es besser, ganz am Anfang zu beginnen und sich chronologisch vorzuarbeiten.

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