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kamen zum Erliegen, und die Ermittler, die jedes Jahr routinemäßig neue Erkenntnisse zu gewinnen versuchten, legten dabei immer weniger Eifer an den Tag. Es war eindeutig ein Fall, in dem der Tod des Opfers nicht als Verlust für die Gesellschaft betrachtet wurde. Die Welt kam auch ohne Uncle Murda gut zurecht.

      Als sich jedoch Bosch im Zuge seiner Cold-Case-Ermittlungen die Akte vornahm, ging er anders an die Sache heran. Für ihn hatte seit jeher die Devise gegolten: Entweder zählt jeder, oder es zählt keiner. Aufgrund dieser Einstellung versuchte er, in jedem Ermittlungsverfahren und bei jedem Opfer sein Bestes zu geben. Der Umstand, dass Uncle Murda seinen Spitznamen seiner Bereitschaft zu verdanken gehabt hatte, die Drecksarbeit für die VSF zu erledigen, hielt Bosch nicht davon ab, seinen Mörder finden zu wollen. Nach Boschs Ansicht sollte niemand in der Lage sein, sich im Morgengrauen von hinten an jemanden heranzuschleichen, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen und ungestraft damit davonzukommen. Vielleicht hatte der Täter danach weiter gemordet und tat das sogar immer noch. Das wollte Bosch nicht zulassen.

      Der Todeszeitpunkt hatte nicht enger eingegrenzt werden können als bis auf die hundert Minuten zwischen 6:20 Uhr morgens, als Vega den Aussagen seiner Frau zufolge mit dem Hund das Haus verlassen hatte, und acht Uhr, als der Tote von einem Anwohner entdeckt wurde. Trotz zweimaliger intensiver Befragungen im Viertel fanden die Ermittler keinen Anwohner, der einen Schuss gehört hatte, was für sie nur zwei Schlüsse zuließ: Entweder hatte der Täter einen Schalldämpfer verwendet, oder niemand in der Gegend wollte mit der Polizei kooperieren.

      Obwohl es bei der Bearbeitung jahrealter Fälle zahlreiche Handicaps gab – Verlust von Beweismitteln, Zeugen und Tatorten –, konnte der zeitliche Abstand auch von Vorteil sein. Bosch suchte immer nach Möglichkeiten, sich die Zeit zunutze zu machen.

      Bei den Cristobal-Vega-Ermittlungen hatte sich in den vierzehn Jahren seit dem Mord viel getan. Viele Mitglieder der VSF und rivalisierender Gangs waren wegen der unterschiedlichsten Straftaten, darunter auch Mord, im Gefängnis gelandet. Einige waren auf den Pfad der Tugend zurückgekehrt und hatten ihrer Gang-Vergangenheit abgeschworen. Auf letztere Gruppe konzentrierte sich Bosch. Mittels Datenbankrecherchen und Gesprächen mit Kollegen, die beim SFPD und angrenzenden LAPD-Stationen für Bandenkriminalität zuständig waren, erstellte er Listen mit inhaftierten Gangstern und ehemaligen Gangmitgliedern, die inzwischen allem Anschein nach eine bürgerliche Existenz führten.

      Im vergangenen Jahr hatte Bosch zahlreiche Gespräche mit Gefängnisinsassen geführt und die Wohnungen und Arbeitsstätten Dutzender Männer aufgesucht, die sich von ihren Gangs losgesagt hatten. Dabei schnitt er jedes Gespräch auf die jeweiligen Lebensumstände seines Gegenübers zu, kam aber früher oder später immer auf den unaufgeklärten Mord an Cristobal Vega zu sprechen.

      Die meisten dieser Gespräche führten zu nichts. Entweder hielten sich die Befragten an den Schweigekodex, oder sie wussten nichts über den Mord an Vega. Trotzdem begannen sich die einzelnen Informationsteilchen nach und nach zu einem Mosaik zusammenzufügen. Stritten mehr als drei Mitglieder derselben Gang eine Beteiligung an dem Mord ab, strich er die betreffende Gang von der Liste der Verdächtigen. So konnte er schließlich alle rivalisierenden Gangs abhaken. Das war zwar nicht zwingend schlüssig, aber es genügte, um das Augenmerk auf die SanFers selbst zu richten.

      Schließlich wurde Bosch in Alhambra im Osten von Los Angeles auf dem Parkplatz eines Schuh-Discounters fündig, in dem ein geläutertes SanFer-Mitglied namens Martin Perez weit weg von seinem alten Gang-Territorium als Bestandsmanager arbeitete. Perez war 41 Jahre alt und hatte zwölf Jahre zuvor alle Verbindungen zu seiner Gang gekappt. Obwohl er nach Aktenlage seit er sechzehn gewesen war dem harten Kern der SanFers angehört hatte, war er nach mehreren Festnahmen, von denen jedoch keine zu einer Verurteilung geführt hatte, ausgestiegen. Er war nie im Gefängnis gewesen, sondern nur hin und wieder ein paar Tage in Untersuchungshaft.

      Die Akten, die sich Bosch angesehen hatte, enthielten Fotos der Tattoos, die in Perez’ aktiver Zeit fast seinen ganzen Körper bedeckt hatten, darunter auch ein RIP UNCLE MURDA an seinem Hals. Aufgrund dessen rangierte er auf der Liste der Personen, mit denen Bosch sprechen wollte, sehr weit oben.

      Bosch legte sich auf dem Parkplatz des Schuhgeschäfts auf die Lauer, bis Perez in der Nachmittagspause durch den Hinterausgang nach draußen kam, um eine Zigarette zu rauchen. Mit seinem Fernglas konnte Bosch erkennen, dass Perez das Tattoo an seinem Hals immer noch hatte. Er notierte sich den Beginn der Nachmittagspause und fuhr weg.

      Am nächsten Tag kam er kurz vor Beginn der Pause zurück. Er trug eine Bluejeans und ein fleckiges Arbeitshemd, in dessen Brusttasche eine Packung Marlboro steckte. Als er Perez hinter dem Geschäft entdeckte, ging er beiläufig auf ihn zu, hielt eine Zigarette hoch und fragte ihn, ob er Feuer hätte. Perez holte sein Feuerzeug aus der Tasche, und Bosch beugte sich vor, um sich seine Zigarette anzuzünden.

      Als er sich wieder aufrichtete, sprach er Perez auf das Tattoo an, das er gerade gesehen hatte, und fragte ihn, wie Uncle Murda gestorben sei. Darauf erklärte ihm Perez, Uncle Murda sei ein guter Mann gewesen, der von seinen eigenen Leuten abserviert worden sei.

      »Wie das?«, fragte Bosch.

      »Weil er den Hals nicht vollgekriegt hat«, sagte Perez.

      Dabei beließ es Bosch. Er rauchte die Zigarette zu Ende – die erste seit Jahren –, bedankte sich bei Perez für das Feuer und entfernte sich.

      Am selben Abend klingelte Bosch an der Tür von Perez’ Wohnung. Er hatte Bella Lourdes dabei. Diesmal wies er sich aus und erklärte Perez, dass er in Schwierigkeiten steckte. Er holte sein Handy heraus und spielte einen Teil des Gesprächs ab, das sie während Perez’ Zigarettenpause auf dem Parkplatz geführt hatten. Er wies Perez darauf hin, dass er etwas über einen Gangmord wusste, dieses Wissen der Polizei aber vorenthalten hatte; das sei Behinderung der Justiz und somit eine Straftat, von Komplizenschaft bei einem Mord erst gar nicht zu reden, und wenn er nicht mit ihnen kooperierte, würde wegen dieser Punkte Anklage gegen ihn erhoben.

      Perez zeigte sich zwar kooperationsbereit, wollte aber aus Angst, in seinem alten Viertel von ehemaligen Mitstreitern erkannt zu werden, nicht ins San Fernando Police Department mitkommen. Daraufhin rief Bosch einen alten Bekannten bei der Mordkommission des Sheriff’s Department in Whittier an und fragte, ob er für ein paar Stunden ein Verhörzimmer zur Verfügung gestellt bekommen könne.

      Die Anklagepunkte, mit denen Bosch Perez drohte, waren größtenteils Bluff, aber sie erfüllten ihren Zweck. Perez hatte eine Heidenangst vor dem kalifornischen Strafvollzug und dem L.A. County Jail. Seinen Aussagen zufolge saßen dort jede Menge Mitglieder der eMe, der mexikanischen Mafia, die in engem Kontakt zur VSF stand und bekannt für ihr brutales Vorgehen gegen all jene war, die mit der Polizei kooperierten oder auch nur als anfällig galten, bei entsprechendem Druck einzuknicken. Perez war der festen Überzeugung, dass eine Haftstrafe sein Todesurteil wäre, ob er nun jemand verpfiff oder nicht. In der Hoffnung, Bosch und Lourdes davon überzeugen zu können, dass er nicht der Mörder war, ihn aber kannte, entschied er sich dafür, alle Karten auf den Tisch zu legen.

      Die Geschichte, die Perez erzählte, war genauso alt wie das Verbrechen selbst. Vega stieg innerhalb der Gang in eine führende Position auf, worauf sich wieder einmal bewahrheitete, dass absolute Macht absolut korrumpiert. Er strich mehr vom Ertrag der kriminellen Machenschaften der SanFers ein, als ihm zustand, und war zudem bekannt dafür, junge Frauen, die mit rangniederen Gangmitgliedern liiert waren, zu sexuellen Gefälligkeiten zu zwingen, weshalb ihn viele dieser jungen vatos hassten. Einer von ihnen, ein gewisser Tranquillo Cortez, schmiedete ein Komplott gegen ihn. Perez’ Aussagen zufolge war er ein Neffe von Vegas Frau und tief entrüstet über Vegas Gier und unverhohlene Untreue.

      Perez gehörte Cortez’ Clique innerhalb der Gang an und wusste zum Teil von dessen Plänen, behauptete aber steif und fest, nicht dabei gewesen zu sein, als Cortez Vega umbrachte. Der Mord hatte beim SFPD lange als perfektes Verbrechen gegolten, weil außer der tödlichen Kugel im Kopf des Opfers keinerlei Spuren zurückgelassen worden waren. An diesem Punkt setzten Bosch und Lourdes Perez deshalb besonders unter Druck. Sie stellten ihm zahlreiche Fragen über die Tatwaffe, wem sie gehört hatte und wo sie sich jetzt befand.

      Perez sagte, dass die Tatwaffe Cortez gehört habe, aber er wisse

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