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damit er hier auf Dvorek warten könnte. Er ist überall rumgegangen, und ich habe gesehen, wie er in deinen Aktenschrank geschaut hat. Ich habe hinten in der Ecke gearbeitet, und deshalb hat er mich nicht bemerkt.«

      »Hat er den Daisy-Fall erwähnt?«

      »Daisy Clayton. Nein. Aber Dvorek hat gesagt, dass das der Fall war, über den Bosch mit ihm reden wollte. Dvorek war damals der Erste, der am Tatort eingetroffen ist.«

      »War das damals Boschs Fall?«

      »Nein. Ursprünglich hatten ihn King und Carswell. Inzwischen ist Offen-Ungelöst Downtown dafür zuständig.«

      Rivera ging zu seinem Schreibtisch zurück, blieb aber stehen, als er nach seiner Kaffeetasse griff und einen kräftigen Schluck daraus nahm. Dann nahm er die Tasse abrupt von seinem Mund.

      »Oh, jetzt weiß ich, was er wollte«, sagte er.

      »Was?«

      Die Dringlichkeit in Ballards Stimme war nicht zu überhören.

      »Ich bin hierhergekommen, als sie im Zuge der Umstrukturierung des Department die Mordkommission ins West Bureau verlegt haben«, sagte Rivera. »Gleichzeitig wurde der Sexualdelikte-Tisch erweitert, deshalb haben sie mich und Sandoval geholt. Zur Verstärkung, nicht als Ersatz für jemand, der aufgehört hat. Wir sind beide von Hollenbeck gekommen.«

      »Mhm«, sagte Ballard.

      »Deshalb hat mir der Lieutenant diesen Schrank zugeteilt und den Schlüssel dafür gegeben. Aber als ich den obersten Schub rausgezogen habe, um was reinzulegen, war er voll. Alle vier Schübe gerammelt voll. Bei Sandoval war es das Gleiche – alle vier Schübe voll.«

      »Und was war in den Schüben? Akten?«

      »Nein, lauter Filzkarten. Sie waren bis oben hin voll damit. Als das Department auf digitale Archivierung umgestellt hat, haben die Mordermittler und die anderen Detectives die alten Karten aufgehoben. In den Aktenschränken.«

      Mit Filzkarten, die offiziell Field-Interview-Karten hießen, meinte Rivera die vorgedruckten Karten, auf denen sich Streifenpolizisten Notizen machten, wenn sie auf der Straße jemanden vernahmen. Auf der Vorderseite befand sich ein Formular, um die Personalien der vernommenen Person wie Name, Adresse, Geburtsdatum, Gangzugehörigkeit, Tattoos und Bekanntenkreis einzutragen. Die Rückseite war leer und diente für zusätzliche Angaben zur vernommenen Person.

      Streifenpolizisten hatten immer einen Vorrat an Filzkarten dabei, wenn sie zu Fuß oder in einem Streifenwagen unterwegs waren – Ballard hatte ihre immer hinter der Sonnenblende ihres Wagens aufbewahrt, als sie bei der Pacific Division Streife fuhr. Bei Schichtende wurden die Karten beim Schichtleiter abgegeben, der sie zur Übertragung in eine Datenbank an die Verwaltung weiterleitete. Wenn dann ein Officer oder Detective einen Namen in die Datenbank eingab und einen Treffer erzielte, lagen ihm bereits alle verfügbaren Informationen wie Adresse und persönliches Umfeld über die betreffende Person vor.

      Die American Civil Liberties Union hatte lange dagegen protestiert, dass die Polizei diese Karten verwendete und darauf Informationen über Bürger sammelte, die keine Straftat begangen hatten. Sie bezeichnete diese Praxis als widerrechtliche Durchsuchung und Festnahme und prangerte die damit einhergehenden Vernehmungen als Razzien an. Die Polizei hatte alle juristischen Maßnahmen, diese Praxis zu unterbinden, erfolgreich abgewehrt, und viele Polizisten nannten die acht mal dreizehn Zentimeter großen Karten in einer nicht gerade subtilen Spitze gegen die ACLU Filzkarten.

      »Warum haben sie die Karten aufgehoben?«, fragte Ballard. »Alle Angaben wurden doch in die Datenbank eingespeist, wo sie wesentlich leichter zu finden sind.«

      »Keine Ahnung«, sagte Rivera. »In Hollenbeck haben sie es jedenfalls nicht gemacht.«

      »Und was hast du gemacht? Ausgemistet?«

      »Ja, Sandy und ich, wir haben die Schübe leergeräumt.«

      »Ihr habt sie einfach weggeworfen?«

      »Natürlich nicht. Wenn wir bei der Polizei was gelernt haben, dann ist es, dass man besser keine Scheiße baut. Wir haben sie in Kisten gepackt und ins Lager gebracht. Damit sich dort jemand anders damit rumärgern kann.«

      »In welches Lager?«

      »Das auf der anderen Seite vom Parkplatz.«

      Ballard nickte. Damit meinte er das Gebäude auf der Südseite des Stationsparkplatzes. Der eingeschossige Bau hatte ursprünglich als Büro der städtischen Versorgungsbetriebe gedient, war aber irgendwann der Polizeistation zugeschlagen worden, als diese mehr Platz benötigte. Inzwischen wurde er jedoch kaum mehr genutzt. In zwei der größeren Räume waren ein Fitnessstudio und ein gepolsterter Kampfkunstübungsraum eingerichtet worden, während die kleineren Büros entweder leer standen oder für die Lagerung von Gegenständen verwendet wurden, die keinen Beweismittelstatus hatten.

      »Und das war vor sieben Jahren?«, fragte Ballard.

      »Grob«, sagte Rivera. »Wir haben nicht alles auf einmal weggebracht. Zuerst habe ich nur einen Schub ausgeräumt, und als der dann voll war und ich einen neuen gebraucht habe, war der nächste dran. Und immer so weiter. Das Ganze hat schätzungsweise ein Jahr gedauert.«

      »Und wie kommst du darauf, dass Bosch nach Filzkarten gesucht hat?«

      Rivera zuckte mit den Achseln.

      »Es müssten jedenfalls Filzkarten aus der Zeit drinnen gewesen sein, in der dieser Mord passiert ist, oder nicht?«

      »Aber die Angaben auf den Filzkarten sind doch alle in der Datenbank.«

      »Schon. Aber was gibst du als Suchbegriff an? Weißt du, was ich meine? Die Sache hat durchaus einen Haken. Wenn er zum Beispiel wissen wollte, wer sich zum Zeitpunkt des Mordes in Hollywood rumgetrieben hat, wie willst du so was in der Datenbank nachsehen?«

      Ballard nickte, obwohl sie wusste, dass es, zum Beispiel mithilfe geographischer oder zeitlicher Frames, viele Möglichkeiten gab, Informationen von Außendienstvernehmungen in der Datenbank zu finden. Sie fand, dass sich Rivera in diesem Punkt täuschte, aber in Hinblick auf Bosch vermutlich recht hatte. Er war ein Ermittler der alten Schule. Er wollte die Filzkarten durchsehen, um sich einen Eindruck zu verschaffen, mit wem die Hollywood-Streifenpolizisten zum Zeitpunkt des Clayton-Mords gesprochen hatten.

      »Tja«, sagte sie, »dann werde ich jetzt mal, Cesar. Einen guten Tag noch, und halt die Ohren steif.«

      »Du auch, Renée.«

      Ballard verließ den Bereitschaftsraum und ging in die Frauenumkleide im ersten Stock. Sie tauschte ihren Hosenanzug gegen Jogginghose und T-Shirt. Sie wollte nach Venice fahren, ihre Sachen in die Reinigung bringen, ihren Hund bei der Hundesitterin abholen und dann mit ihrem Zelt und einem Stand-up-Paddle-Board an den Strand gehen. Mit Bosch würde sie sich am Nachmittag befassen, wenn sie geschlafen und über ihr weiteres Vorgehen nachgedacht hatte.

      Die Morgensonne stach ihr in die Augen, als sie den Parkplatz hinter der Station überquerte. Sie schloss ihren Kleintransporter auf und warf ihren zerknüllten Anzug auf den Beifahrersitz. Dann fiel ihr Blick auf das alte Gebäude der Stadtwerke auf der Südseite des Parkplatzes, und sie entschied, nicht sofort loszufahren.

      Sie öffnete die Tür zum Gebäude mit ihrem Kartenschlüssel. Im Fitnessstudio nutzten ein paar Kollegen von der Nachtschicht die Zeit bis zum Abklingen des morgendlichen Berufsverkehrs, um noch ein bisschen zu trainieren, bevor sie die Heimfahrt antraten. Sie tippte grinsend an ihren imaginären Mützenschirm und ging den Gang zu den ehemaligen Büros hinunter, die jetzt als Lagerräume dienten. Im ersten Raum waren Gegenstände von einem ihrer eigenen Fälle gelagert. Ein Jahr zuvor hatte sie einen Mann gefasst, der ein ganzes Motelzimmer voller Dinge gehortet hatte, die er entweder bei Einbrüchen erbeutet oder mit gestohlenen Kreditkarten gekauft hatte. Inzwischen war der Fall zwar gerichtlich geklärt, aber ein Großteil des Diebesguts war noch nicht zurückgefordert worden. Es bliebe in der Hollywood Station, bis die rechtmäßigen Eigentümer beim nächsten Tag der offenen Tür die letzte Gelegenheit erhielten, ihre Ansprüche auf die gestohlenen Gegenstände geltend zu machen.

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