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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн.Название Guy de Maupassant – Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962817695
Автор произведения Guy de Maupassant
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
Von Zeit zu Zeit brachte sie ein oder zwei Monate in der Familie zu.
Sie war klein von Statur, sprach sehr wenig, zog sich sehr zurück und erschien eigentlich nur bei den Mahlzeiten, nach denen sie sofort wieder verschwand, um sich die übrige Zeit auf ihrem Zimmer einzuschliessen.
Ihr Gesichtsausdruck deutete auf Herzensgüte. Trotz ihrer zweiundvierzig Jahre machte sie aber einen viel älteren Eindruck. Ihr Blick war sanft und traurig; sie war von jeher in der Familie als eine Null betrachtet worden.
Als Kind war sie weder hübsch noch anziehend; niemand gab ihr einen Kuss. Ruhig und bescheiden hockte sie in ihrem Winkel. Seitdem war sie unbeachtet geblieben, selbst als junges Mädchen.
Sie war so eine Art Familien-Anhängsel, ein lebendes Möbel, welches man jedes Jahr zu sehen gewohnt war, um das sich aber im Übrigen niemand groß kümmerte.
Ihre Schwester betrachtete sie gleich allen im Elternhause, wie ein etwas schwachsinniges, durchaus unbedeutendes Wesen. Man behandelte sie mit ungezwungener Vertraulichkeit, in der aber manchesmal etwas herablassende Güte lag. Sie hiess Liese, aber dieser schmucke jugendliche Name schien ihr selbst mitunter unbequem zu sein. Als man sah, dass sie keinen Mann fand und auch wohl sicher war, dass sie niemals einen finden würde, taufte man sie in Lison um. Seit Johannas Geburt war sie zur »Tante Lison« avanciert. Aber sie blieb die unbedeutende überall zurückgesetzte Verwandte, die sich vor Allen fürchtete, selbst vor ihrer Schwester und ihrem Schwager, obgleich diese ihr zugetan waren. Es fehlte dieser Zuneigung indessen der warme herzliche Ausdruck; sie hatte vielmehr etwas von Mitleid und natürlichem Wohlwollen an sich.
Wenn die Baronin zuweilen von fernliegenderen Ereignissen aus ihrer Jugendzeit sprach, bemerkte sie zur Bezeichnung eines Datums: »Das war, als Lison ihren Einfall hatte.« Man sprach nie mehr darüber; und so blieb dieser »Einfall« stets in ein gewisses Dunkel gehüllt.
Eines Abends nämlich hatte Lise, als sie ungefähr zwanzig Jahr alt war, sich ins Wasser gestürzt, ohne dass man den Grund dafür erraten konnte. Nichts in ihrer Lebensweise, in ihrem ganzen Gebaren ließ dieses Ereignis vorhersehen. Halbtot hatte man sie aus dem Wasser gezogen, und die Eltern hoben erstaunt und entrüstet die Arme in die Höhe. Aber statt nach der geheimnisvollen Ursache dieses Schrittes zu forschen, beschränkten sie sich darauf, von Lises »Einfall« zu sprechen, wie sie von dem Unfall des Pferdes »Coco« sprachen, das kurz vorher in einem Wagegeleise das Bein gebrochen hatte und infolgedessen getötet werden musste.
Seitdem galt Lise und später Lison als schwachsinnig. Die milde Herablassung, mit der ihre Verwandten sie behandelten, übertrug sich langsam auch auf ihre sonstige Umgebung. Selbst die kleine Johanna hatte in ihrer Jugend mit dem natürlichen Instinkt der Kinder bald heraus, dass es sich nicht lohne, ihr viel Aufmerksamkeit zu schenken. Niemals kam sie auf ihr Zimmer, niemals schmiegte sie sich zärtlich an sie, oder stieg sie auf ihr Bett, um sie zu küssen. Nur die Kammerzofe Rosalie, welche ihr Zimmer besorgte, schien zu wissen, wo ihr Bett stand.
Wenn Tante Lison zum Frühstück im Speisezimmer erschien, so ging die Kleine gewohnheitsmässig hin, um ihr die Stirn zum Kusse zu bieten; aber das war auch so ziemlich alles.
Wenn man sie sprechen wollte, so schickte man einen Dienstboten um sie. Im Übrigen beschäftigte man sich in ihrer Abwesenheit nicht viel mit ihr. Niemals wurde an sie gedacht und niemals würde man gehört haben, dass jemand etwa mit Besorgnis gefragt hätte: Wo nur Lison diesen Morgen bleibt?
Sie füllte eben keinen Platz im Leben aus; sie war eines jener Wesen, die selbst ihren Anverwandten fremd bleiben, weil sich niemand die Mühe gibt, sie zu erforschen. Ihr Tod hätte keine Lücke im Familienkreise zurückgelassen; sie verstand es weder sich in das Leben, noch in die Gewohnheit, noch selbst in die Zuneigung jener einzuführen, welche mit ihr zusammen lebten.
Wenn von »Tante Lison« die Rede war, so berührten diese Worte sozusagen keine wärmere Stelle in Jemandes Herzen. Es war gerade so, als wenn vom »Cafétier« oder vom »Zuckerbäcker« die Rede gewesen wäre.
Sie ging stets mit kurzen leisen Schritten, ohne Geräusch zu machen, stiess nirgends an oder schien doch wenigstens die Eigenschaft zu haben, keinem Gegenstand einen Ton zu entlocken. Ihre Hände mussten wie von Watte sein; so zart und leicht behandelte sie alles, was sie anfasste.
Gegen Mitte Juli traf sie dieses Mal in Peuples ein, ganz überrascht durch den Gedanken an diese Heirat, und mit Geschenken beladen, die, weil von ihr herrührend, fast unbeachtet blieben. Seit dem Montage, wo sie angekommen war, wusste man kaum, dass sie da sei.
Aber in ihrem eigenen Innern vollzog sich eine aussergewöhnliche Bewegung, und sie wandte ihre Augen kaum von dem Brautpaare. Mit ganz eigentümlicher, fast fieberhafter Energie widmete sie sich dem Trousseau Johannas und arbeitete wie eine einfache Nähmamsell den ganzen Tag daran auf ihrem Zimmer, wohin niemand kam, sich nach ihr umzusehen.
Jeden Augenblick brachte sie der Baronin selbstgesäumte Taschentücher, Servietten, in denen sie die Monogramme eingestickt hatte und fragte: »Ist das gut so, Adelaïde?« Und indem die Baronin alles mit gleichgültiger Miene musterte, antwortete sie: »Gib Dir doch nicht so viel Mühe, Lison!«
Einstmals gegen Ende des Monats stieg nach einem sehr heissen Tage der Mond in einer jener klaren lauen Sommernächte auf, welche unwillkürlich zum Herzen gehen und zärtliche Regungen, wundersame Gefühle, mit einem Wort die ganze geheime Poesie der Seele in demselben erwecken. Von den Feldern her drang ein lauer würziger Duft in den Salon. Die Baronin und ihr Gatte spielten beim Lampenlicht eine Partie Karten; Tante Lison sass bei ihnen und häkelte, während die jungen Leute vom Fenster aus den in voller Klarheit daliegenden Garten betrachteten. Die Linde und die Platane warfen ihre Schatten auf den großen Rasenplatz, der sich mit seinem fahlen Schimmer bis zu dem ganz dunklen Bosquet dahinter ausdehnte.
Der sanfte Reiz dieser Nacht mit der duftigen Beleuchtung von Bäumen und Häusern zog Johanna mächtig an.
»Mama, wir möchten einen Gang auf dem Rasen hier vorn machen«, wandte sie sich zu ihren Eltern.
»Geht nur, liebe Kinder«, sagte der Baron, ohne von seinem Spiel aufzusehen.
Sie gingen fort und wandelten langsam auf der großen lichten Fläche bis zum kleinen Gehölz im Hintergrunde.
Die Zeit verrann, ohne dass sie an die Rückkehr