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rieb sich ratlos über das Gesicht, während Kesha das ihre in den Händen verbarg, wohl damit niemand ihre Tränen sah. Selbst Gilles schluckte und hatte sichtlich Mühe, Haltung zu bewahren. Er entschuldigte sich mit einer gemurmelten Ausrede und verschwand in der Küche. Proud wusste, er mochte den kleinen Halbengel sehr und sorgte sich nicht weniger als der Rest von ihnen.

      Enttäuscht wandte er sich selbst zum Fenster und starrte hinaus. Er gab es nicht gern zu, aber im Grunde hatte er alle Hoffnung auf Lillith gesetzt, seitdem sie die Schwelle zu ihrem Zuhause übertreten hatte. Misstrauen hin oder her, wenn sie Beth hätte helfen können, wäre ihm eine große Last von den Schultern genommen worden. Jetzt musste er weiterhin um sie fürchten. Angst und Schuld nagten tiefe Löcher in sein Herz und in sein Gewissen.

      »Es tut mir sehr leid«, sagte Lillith und wollte Proud tröstend die Hand auf den Arm legen. Keine Frage, es sagte viel aus, dass sie zu ihm kam und nicht zu Kyle ging, um Trost zu spenden. Proud wich ihr dennoch aus und funkelte sie zornig an. Dass diese Wut nicht ihr, sondern ihm selbst galt, spielte dabei keine Rolle.

      »Fein! Hätten wir das also auch geklärt. Wenn man eine Strigoi mal braucht, bekommt sie es nicht hin. Super!«

      Schuldbewusst und resigniert blickte Lillith zu Logan, der kaum merklich den Kopf schüttelte.

      »Was?«, knurrte Proud sofort. »Es ist doch wahr. Sie kann Beth nicht helfen, also nutzt sie uns nichts. Und trotz ihrer Quacksalberei ist Kyle noch genauso labil wie zuvor. Du hättest sie überhaupt nicht herbringen sollen.«

      Ungehalten schlug er mit der Faust gegen die Scheibe, sodass sie in tausend Scherben zerbrach. Die Splitter zerschnitten ihm die Fingerknöchel, was er ignorierte. Stattdessen verließ er voller Zorn den Raum und überließ die Übrigen ihren trostlosen und verzweifelten Gedanken. Heute gehörte Logans Bike ihm. Sein Cousin hatte es lange genug unrechtmäßig beansprucht um damit seinen Dämonen zu entfliehen. Wobei er gescheitert war. Sollte Kyle also doch zur Hölle fahren, von Prouds Warte aus, auch gern mit dem Fahrrad.

      Zeyda erwachte, als die Sonne am Horizont versank. Ihr war kalt – und sie fühlte eine wahnsinnige Angst. Die Nacht kam – und mit ihr die Grigori.

      »Scht! Veer sagt, wir sind hier sicher.«

      Rahul hielt ihre Hand und strich ihr beruhigend über den Kopf. Trotzdem spürte Zeyda seine Unruhe.

      Sie waren nicht allein. Als sie hier angekommen waren, war sie zu müde und zu schwach gewesen, um den Freund ihres Azrae-Gefährten genauer zu betrachten. Jetzt holte sie es nach. Was sie sah, war ein alter Mann mit überraschend wachen, klugen Augen. Solche Augen, die alle Wunder der Welt erblickt haben könnten. In diesem Moment sah Zeyda darin hingegen Furcht. Eine grenzenlose, abgrundtiefe Furcht, deren Ursprung selbst diesem Mann nicht bewusst war.

      Sie griff nach Rahuls Hand, ohne den Alten aus den Augen zu lassen. Ihr Misstrauen blieb nicht unbemerkt, löste bei Veer aber keinerlei Reaktion aus.

      »Wir sollten gehen«, bat sie leise.

      »Nein!«, sagte Rahul. Die Entschlossenheit, in seiner Stimme verwandelte ihren Magen in einen eisigen Klumpen. Panisch wandte sie sich ihm zu. »Vertrau mir.« Er klang ruhig und besonnen. Leider übertrug sich diese Ruhe nicht auf sie. Da war Gefahr. In der nächsten Sekunde wurde auch bereits deutlich, woher sie kam.

      Ein lauter Schlag ließ das Gebäude regelrecht erzittern und Zeyda aufschreien. Allmählich wurde das alles zu viel. Sie hatte diese Träume. Viele Jahre schon. Sie sah dieses andere Mädchen mit engelsblondem Haar und wusste, sie musste zu ihr. Irgendwann. Irgendwie. Weil sie etwas verband. Diese Fremde hatte ihr schon viel gezeigt, aber auf all die Dinge, die seit ihrer Begegnung mit Rahul geschehen waren, hatte es sie nicht vorbereitet.

      Sie reute nichts. Sie wollte Rahul nicht verlassen, weil sie spürte, dass sie zueinander gehörten. Nur alles, was damit einherging, zwang sie zusehends in die Knie, auch wenn sie wusste, sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Sie musste stark sein. Weil sie eine Bestimmung hatten. Um die zu erfüllen, galt es zunächst zu überleben.

      »Sie versuchen, den Bannkreis zu durchbrechen«, erklärte Veer.

      »Bannkreis?«

      »Ein Schutzzauber. Gewebt von einer Strigoi. Es ist schon erstaunlich, was diese Hexen bewirken können.«

      Zeyda sah, wie Rahul ungläubig die Augen aufriss. »Eine Strigoi? Sagtest du nicht, die Uriel …«

      Der Alte hob die Hand. »Ich sagte dir schon, dass auch unter ihnen solche sind, die das Herz am rechten Fleck haben. Heute Nacht müsst ihr nicht flüchten. Dennoch bleibt uns wenig Zeit, um eure Abreise vorzubereiten.«

      Erneut bebten die Wände der Behausung, begleitet von einem Donnergrollen. Draußen erklangen Schreie.

      »Sie werden es die ganze Nacht versuchen. Für Fragen haben wir keine Zeit. Glaubt daran, dass der Zauber hält.«

      Zeyda wurde das ungute Gefühl nicht los, dass Veer damit unliebsame Fragen schlicht vermeiden wollte. Rahul schien es ähnlich zu gehen, obwohl er nicht widersprach.

      »Ich habe Flugtickets für euch beide. Für morgen Nachmittag.«

      »Wohin?«

      Noch während sie die Frage stellte, erkannte sie an den Gesichtern der beiden Männer, dass sie bereits darüber gesprochen hatten. Zeydas Angst verwandelte sich schlagartig in Zorn.

      »Ist es zu viel verlangt, wenn ich eingeweiht werde? Immerhin wollen diese Typen da draußen mein Blut.«

      Rahul trat an sie heran und fasste sie an den Schultern. »Wir müssen hier weg, das weißt du. Es ist egal, wie und wohin. Veer sagt, die Nephilim versammeln sich in Los Angeles.«

      Sie schluckte. »Wenn er das weiß, dann die Grigori sicher auch. Hältst du es für so eine gute Idee, dann dorthin zu gehen?«

      Er nickte, und er schien dabei überzeugt. »Der Älteste wacht über die Stadt. Den Gerüchten zufolge fließt sein Blut in den Adern der Nephilim. Vielleicht ist es eine Metapher, aber er beschützt diejenigen, die in die Stadt der Engel zurückkehren. Es ist die einzige Chance, die wir im Augenblick haben – und sie ist so gut wie jede andere.«

      Sie hätte dem gern widersprochen, wenn ihr etwas Passendes eingefallen war. Die Vorstellung, dorthin zu gehen, wo andere wie sie waren, machte ihr Angst. Dann hätten die Grigori – oder wer auch immer hinter ihr und ihresgleichen her war – sie alle auf einem Haufen. Perfekte Voraussetzungen, oder nicht? Wäre da nur die Gewissheit nicht gewesen, dass sie sich damit irrte. Kein anderer Grigori würde dort Zugriff auf sie haben. Sie blickte sich um, öffnete ihre Sinne. Sie konnte den Bannkreis hören. Ein schwaches, beständiges Summen. Er würde halten. Wer immer ihn gewebt hatte, wollte, dass sie nach L.A. ging. Was also blieb ihr und Rahul für eine Wahl?

      Erneute Schreie ließen sie zusammenzucken. Hektisch huschte ihr Blick zu Rahul. Worte waren nicht nötig, um zu erklären, war dort geschah.

      »Sie töten Menschen«, flüsterte sie heiser, Tränen stiegen ihr in die Augen. Schuld schnürte ihr die Kehle zu.

      »Ja«, bestätigte Veer. Er klang dabei niedergeschlagen, gleichzeitig aber auch entschlossen, diese Tatsache zu ignorieren. Es war eine Falle, keine Frage. Denen waren die Opfer egal. »Manchmal gibt es leider Opfer.«

      »Kann dieser … dieser Schutzzauber nicht auch sie …«

      »Bedauerlicherweise nicht.«

      Zeyda wirbelte herum, und auch Rahul wandte sich der unbekannten Stimme zu. Aus dem Verkaufsraum trat eine hochgewachsene Frau in den Wohnbereich. Ihre Züge wirkten eine Spur arrogant, sie trug Kleidung wie eine europäische Zigeunerin und in ihrem dunkelroten Haar, das bis zur Taille herabfiel, prangte eine goldbraune Strähne.

      »Mein Name ist Kizmet.« Glöckchen klingelten an ihren Hand- und Fußgelenken, als sie nähertrat. »Ihr kennt mich nicht, aber das ist im Augenblick nicht wichtig. Ich werde dafür sorgen, dass

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