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      Also beginne ich zu erzählen, wie ich mich nach dem Weltuntergang vom Juni 1969 in den österreichischen Schuldienst versetzen ließ. Und wohin? Nun, mein frommer Zimmerkollege aus dem Studentenheim hatte ein Ordensgymnasium in Feldkirch, der westlichsten Stadt Österreichs, besucht und stand anscheinend noch in engem Kontakt zu den dortigen Patres. In deren Auftrag hatte er mich schon mehr als einmal aufgefordert, ja gedrängt, mich dort um eine Stelle als Lehrer zu bewerben; die Schule leide unter akutem Lehrermangel. Natürlich hatte ich bisher stets abgelehnt, ablehnen müssen. Aber auch jetzt noch wurde ich vom Direktor der Schule mit offenen Armen aufgenommen. Also übersiedelte ich im September 1969 nach Feldkirch und trat meinen Dienst als Lehrer an.

      Da einer der Patres Leiter des Feldkircher Kirchenchores war, ließ ich mich sehr leicht überreden, diesem beizutreten. Schon während meiner ganzen Schulzeit in Melk hatte ich als Sängerknabe die verschiedenen kirchlichen Zeremonien verschönern geholfen (und meinen Eltern dadurch das Schulgeld erspart). Jetzt erneut in einem Kirchenchor mitzuwirken war mir sogar ein besonderes Anliegen. Ich scheute mich ja noch immer, das strenge Sonntagsgebot der katholischen Kirche zu missachten. Aber ich hatte damit bereits beträchtliche Schwierigkeiten, nicht weil ich es nicht für gerechtfertigt hielt, sondern weil ich regelmäßig mit entsetzlicher Langeweile zu kämpfen hatte, seit ich in der Kirche nichts mehr zu tun hatte. Die Zeremonien des Priesters am Altar empfand ich mehr und mehr als sinnentleert, wie übrigens auch manche meiner Schüler.

      Einmal besuchten mich nämlich mehrere von ihnen bei mir zu Hause, beklagten sich bitter über den Zwang, täglich die heilige Messe mitzufeiern, und fragten mich, ob ich nicht auch meine, der Sinn der Religion bestehe in wesentlicheren Dingen als in diesem „liturgischen Brimborium“, wie sie es ehrfuchtslos nannten. Ich suchte sie zu trösten, indem ich ihnen vollinhaltlich beipflichtete, und wurde bald darauf vor das hohe Gericht der heiligen Inquisition, nein, der Schul- und Internatsleitung zitiert und regelrecht verhört und, stell dir vor, mit dem Hinauswurf bedroht, sollte ich noch einmal derart ketzerische Ansichten verbreiten.

      Aber jetzt bin ich vom Thema abgekommen. Also zurück zu meiner Langeweile während des Gottesdienstes. Nun, dagegen war Chorgesang für mich in der Tat ein probates Mittel der Abhilfe. Außerdem war man da Teil einer Gemeinschaft, konnte sich auch leise unterhalten und fühlte sich nicht inmitten der Menge der Gläubigen im Kirchenschiff gar so einsam, isoliert, verloren. Und noch etwas: Man konnte in aller Ruhe die Sopranistinnen und Altistinnen studieren und mit der einen oder anderen vielleicht sogar ein wenig flirten, falls sie jung und hübsch genug waren. Denn obwohl ich dir, liebste Irmi, gar heftig nachtrauerte, verzehrte mich unstillbare Sehnsucht nach einer weiblichen Ergänzung meines männlichen Ich. Du weißt ja, jeder Mensch ist genau genommen nur die Hälfte eines ursprünglich vollständigen Doppelwesens. Siehe Platon.

      Auf diese Weise gelang es mir, mit zwei Chormädchen gleichzeitig anzubandeln. Zu dritt gingen wir nach den Chorproben und Gottesdiensten spazieren, und ich nahm beide zugleich in mein Untermietzimmer mit, wo wir nichts anderes taten als gemütlich plaudern. Daraufhin wurde ich, offenbar als Gefahr für die öffentliche Sittlichkeit oder vielleicht auch nur für den guten Ruf meiner Gastfamilie, in hohem Bogen hinausgeschmissen und musste mir eine andere Bleibe suchen.

      Aber das bekümmerte mich nicht sonderlich. Viel mehr bekümmerte mich die Frage: Welche von den zwei Grazien soll ich mir zur Freundin erküren? Schöne Augen machten mir beide. Die eine hieß Augusta und war ausgesprochen hübsch, aber ein wenig dick. Die andere hieß Erika und war nicht ganz so hübsch, aber dafür schlank wie, ja, wie eben eine Grazie. Und da ich bisher weder in die eine noch in die andere schwer verliebt war, musste ein Test die Entscheidung herbeiführen. Ich ermannte mich und versuchte sie, natürlich jede extra, zuerst zu küssen und dann mit einigen Zärtlichkeiten zu bedenken, die bis zur Brust gehen sollten, für mich, wie du weißt, damals ein außergewöhnliches Wagnis. Und das Ergebnis? Augusta stieß mich entrüstet von sich und verabreichte mir eine saftige Ohrfeige. (Vergiss übrigens in diesem Zusammenhang nicht, dass wir eben erst das Jahr 1968 mit seiner sexuellen Revolution hinter uns gebracht hatten.) Erika ließ meine Übergriffe, wenn ich sie so nennen soll, geduldig über sich ergehen, ohne zu protestieren. Und damit war die Frage entschieden.

      10

      Nachdem ich nun einmal mit keuschen Küssen und harmlosen Zärtlichkeiten angefangen hatte, fuhr ich damit unverdrossen fort, und Erika ließ sie weiterhin unverdrossen über sich ergehen. Sie stellte mich sogar ihren Eltern vor. Und die zeigten sich hocherfreut und begannen unverzagt Heiratspläne zu schmieden. Ich sollte auch sehr bald erfahren, wieso sie so erfreut waren. Erika erzählte, genauer, schwärmte immer wieder von einem Burschen, der offenbar weniger strenge moralische Prinzipien hatte als ich und von ihren Eltern als Heiratskandidat strikt abgelehnt wurde. Jedenfalls stellte ich später bei unserem ersten Geschlechtsverkehr zu meiner Überraschung fest, dass Erika schon entjungfert war, hütete mich aber, diesen Umstand auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. Ich bin ja nicht so. Mein Grundsatz hat stets gelautet: Eine Frau soll man nie bedrängen.

      Erika deutete mehrmals an, ihre Eltern wünschten, ich möge vor sie, genauer, vor ihren Herrn Papa, hintreten und feierlich um die Hand seines Töchterleins anhalten. Nun ja, so blöd und antiquiert ich dieses Begehren fand, ich nahm mich halt zusammen und erfüllt ihnen diesen Herzenswunsch, frei nach dem Motto: Wenn das ihre einzige Sorge ist. Es folgte eine nicht weniger antiquierte Verlobungsfeier, und ein Jahr später wurde geheiratet; und erst von da an durften wir im Haus ihrer Eltern, in einer eigenen Wohnung, zusammenleben. Und wenn du mich jetzt fragst, wie wir es mit der von Mutter Kirche vorgeschriebenen vorehelichen Keuschheit gehalten haben, so muss ich sagen: Ja, wir waren keusch, bis zuletzt, bis zur Hochzeitsnacht. Du weißt ja, der eheliche Akt, so nennt man das im Theologenjargon, darf nur in das Sakrament eingebettet sein, weil er der mystischen Ehe zwischen Christus und seiner Kirche dienstbar sein muss. Oder so ähnlich.

      Übrigens hätte es zwei Gelegenheiten für eine Hochzeitsnacht gegeben, die nach der standesamtlichen Trauung und, aus irgendwelchen Gründen erst mehrere Wochen später, die nach der kirchlichen Zeremonie. Und wann fand sie, die Hochzeitsnacht, nun wirklich statt? Natürlich erst nach der kirchlichen Zeremonie. Gültig ist ja angeblich nur diese. Und ich Idiot tat bei diesem ganzen Unsinn mit und war sogar noch stolz auf den von mir aufgebrachten „Heroismus“, wie die Kirchenmänner ein solches idiotisches Verhalten nennen.

      Dabei litt ich nicht wenig unter diesen Entbehrungen und Zumutungen. Oh, wäre ich doch über meinen Schatten gesprungen. Hätte ich doch die Fesseln dieser repressiven katholischen Moral mit einem Schwerthieb zerhauen wie Alexander der Große den Gordischen Knoten. Vieles wäre mir erspart geblieben; das kannst du mir glauben, liebste Irmi. Ich hätte nämlich rechtzeitig entdeckt, dass Erika und ich überhaupt nicht zusammenpassen. Und warum nicht? Ich will es dir sagen: Weil sie mich, meine Liebe, meinen Körper, meine Sexualität innerlich ablehnte und darunter natürlich auch selber litt. Später warf sie mir in regelmäßigen Abständen vor, sie habe sich von mir so schrecklich gedrängt gefühlt, mich zu heiraten, und dem habe sie infolge ihrer Jugend nicht widerstehen können, zumal ihre Eltern ... und so weiter.

      Das Problem war nämlich: Bei mir wurde ihr nie der Segen des Liebesgottes zuteil, während unserer gesamten Ehe nicht. Im Klartext: Mit mir hatte sie, ausgenommen ein einziges Mal, niemals einen Orgasmus. Aber du weißt sicher, wenn eine Frau einen Mann innerlich ablehnt, so kann er sich auf den Kopf stellen; er wird sie niemals glücklich machen können.

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