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Frau gebieten musste. Sie war sehr stark... Und vermutlich hatten wir von ihrer wahren Macht bislang noch gar keinen wirklichen Begriff.

      Wieder herrschte Totenstille am Tisch.

      Auch Dostan Radvanyi, der zuvor unaufhörlich auf mich eingeredet hatte, schwieg jetzt. Er saß mit starrem Gesicht da, genau wie die anderen Gäste. Wie Wachsfiguren wirkten sie. Der Blick war tot, die Haut wie Pergament. Kein Augenlid bewegte sich. Kein Atemzug war zu hören.

      Es war gespenstisch.

      Wie Marionetten! ging es mir schaudernd durch den Kopf. Diese Gäste - sie mussten alle unter Lady Marys Kontrolle stehen. Auf welch geheimnisvolle Weise auch immer sie ihren Einfluss auf sie ausüben mochte...

      Tom blickte zu mir.

      Ich sah das Entsetzen auch in seinen Augen aufblitzen. Wir saßen an einer Tafel, an der außer uns nur pergamenthäutige, wie wächsern wirkende Leichname platzgenommen hatten.

      Innerhalb eines einzigen Augenblick legte sich ein grauer Flaum über ihre Gesichter, Schultern und Hände. Spinnweben.

      So als ob diese Gestalten seit vielen Jahren nichts anderes getan hatten, als hier zu sitzen und langsam zu mumifizieren.

      "An diesem Ort", so durchschnitt dann Lady Marys Stimme scharf die unheimliche Stille, "geschieht all das, was ich will! Meine Kräfte sind gewaltig und es gibt nichts, was ihnen widerstehen könnte! Selbst die Zeit nicht... Begreifst du nun, Tom? Nichts ist hier unmöglich, wenn ich es will!"

      *

      EIN TEUFLISCHES LÄCHELN glitt über Lady Marys Lippen. Ihr anschließendes Gelächter war schrill und schauderhaft.

      "Auf Delancie Castle bin ich die absolute Herrin über Leben und Tod, Raum und Zeit..." Die deutete mit der Hand über die erstarrten Toten an der Tafel. "Sie alle sind nichts weiter, als meine Marionetten."

      "Und Willard?", fragte ich. "Was ist mit Ihrem Bruder, Lady Mary?"

      In ihren Augen flackerte es unruhig.

      Es schien ihr nicht zu gefallen, auf ihren Bruder angesprochen zu werden. Sie schluckte. Ihre Augen wurden schmal, als sie Tom ansah. "Du hast Miss Vanhelsing alles erzählt, nicht wahr? Die ganze Geschichte..."

      "Das ist wahr."

      "Ich verstehe nicht, wie du so kühl und abweisend sein kannst."

      "Das bin ich nicht", erwiderte Tom. "Aber ich bin auch nicht mehr der, dessen Vorstellung du dir in deiner Erinnerung bewahrt hast. So leid es mir tut. Lord Millroy existiert nicht mehr..."

      "Geschwätz!", zischte sie.

      "Was ist mit Willard?", hakte Tom dann nach. Lady Mary schien bei der erneuten Nennung dieses Namens geradezu zusammenzuzucken. "Wir haben ihn gesehen. Er kam bis zum Portal geritten und schleuderte eine Galgenschlinge auf die Stufen. Und er rief nach dir, Mary...."

      "Nein", flüsterte sie.

      "Ihn hast du nicht unter Kontrolle, nicht wahr?" Es war eine Feststellung, keine Frage, was in diesem Moment über Toms Lippen kam.

      Lady Mary sprang auf. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ihr Gesicht wirkte angespannt und verzog sich zu einer Grimasse. "Ich bin die Herrin von Delancie Castle!", schrie sie. "Ich! Ich! Und jeder, der es wagt, das anzuzweifeln, dem wird es schlecht ergehen!" Wir erhoben uns ebenfalls. Tom umrundete den Tisch und trat neben mich.

      Ich versuchte, die Toten, die in ihrer gespenstischen Starre an der Tafel saßen, nicht anzusehen. Es war ein schauderhafter Anblick. Ich glaubte zu bemerken, dass die feine Schicht von Spinnweben, die sie überzog, noch zunahm. Langsam wurde sie zu einem dicken, grauweißen Film, der die Gäste jetzt wie monströse, nicht menschliche Wesen aussehen ließ.

      Von irgendwoher blies ein eisiger Wind.

      Er schien aus dem Nichts zu kommen, denn Fenster und Türen waren geschlossen.

      Ich zitterte.

      Meine Hand griff nach Toms Arm.

      "Wo sind wir?", fragte ich. "Im Reich der Toten?"

      "Nein, nicht ganz...", erwiderte Lady Mary mit einer Stimme, die an klirrende Eiswürfel erinnerte. "Meine Seele fand keine Ruhe, nachdem man mich dem Henker überantwortet und hingerichtet hatte. Ich habe immer daran geglaubt, dich wiederzufinden, Tom. Man hat dir damals ein furchtbares Unrecht angetan und ich habe es gerecht..."

      "Und deswegen glaubst du, ein Recht dazu zu haben, mich hier gewissermaßen gefangenzunehmen?", erwiderte Tom.

      "Habe ich denn nicht das Recht dazu?", fauchte Lady Mary auf eine Art und Weise, die an eine wütende Katze erinnerte. "Habe ich dich denn nicht lange und vergeblich genug geliebt, um jetzt endlich die Erfüllung meiner Sehnsucht einzufordern? Lange habe ich hier, in diesem Zwischenreich ausgeharrt und gewartet... So unendlich lange! Niemand kann von mir erwarten, dass ich meinen Traum jetzt so einfach aufgebe... Niemand!"

      Tom legte den Arm um meine Schulter.

      "Dann lass Patricia wenigstens zurückkehren..."

      "Nein!", rief ich.

      Eine Rückkehr in unsere gewohnte Welt kam ohne Tom für mich nicht in Frage. Ich wollte ihn hier auf keinen Fall zurücklassen.

      Lady Mary lächelte teuflisch.

      "Es steht Miss Vanhelsing jederzeit frei, zu gehen, wohin sie will... Und im Grunde ihres Herzens weiß sie das auch. Aber sie klammert sich mit aller Gewalt an dich, Tom."

      "Sie haben versucht mich umzubringen", sagte ich.

      "Das ist nicht das richtige Wort", erwiderte Lady Mary. "Der Tod ist nur eine Illusion. Tom weiß das. Aber ich glaube nicht, dass er noch Gelegenheit dazu bekommen wird, es Ihnen wirklich zu erklären, Miss Vanhelsing!" Ich deutete auf die von Spinnweben überwucherten Gestalten am Tisch. "Wenn Sie hier wirklich allmächtig wären, hätten Sie mich schon längst in so etwas verwandelt!"

      "Wer sagt, dass ich das nicht noch tun werde?"

      "Ich glaube Ihnen kein Wort mehr!"

      "Sie besitzen starke Kräfte, Patricia. Energien, die stärker sind, als ich befürchtet hatte. Aber nicht stark genug, um mir auf Dauer zu widerstehen. Ich weiß, dass ich Sie nicht endgültig vernichten kann. Vielleicht werden Sie irgendwo, jenseits von Raum und Zeit existieren, vielleicht in jene Sphäre eingehen, in der sich die toten Seelen befinden. Aber es steht fest, dass ich Sie früher oder später von diesem Ort vertreiben werde! Sie haben keinen Platz in meiner Welt, Patricia!"

      Wie wild begann es genau in dieser Sekunde hinter meinen Schläfen zu Pochen. Ich hatte das Gefühl, als hätte mir soeben jemand einen heftig Schlag vor den Kopf versetzt. Schwindel erfasste mich und Lady Marys unheimliche Energien drohten mich geradezu zu erdrücken.

      Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Kein klarer Gedanke wollte sich noch bilden.

      Vor meinen Augen drehte sich alles, während mir der Puls bis zum Hals schlug.

      Lady Mary suchte jetzt die endgültige Konfrontation. Ich versuchte verzweifelt, mich gegen ihren Einfluss zu wehren.

      Noch immer war ich nur unzureichend in der Lage, meine übersinnlichen Kräfte zu bündeln und gezielt einzusetzen. In dieser Hinsicht lag noch ein weiter Weg vor mir, das wusste ich nur zu gut. Und obwohl mich manchmal im Angesicht dieser Tatsache ein frostiges Schaudern überkam, wünschte ich mir in diesem Moment, ihn schon zurückgelegt zu haben. Verzweifelt versuchte ich mich mental abzuschirmen.

      "Tom!", schrie ich.

      Meine eigene Stimme klang wie ein fernes Echo. Verloren und schwach. Ich hatte das Gefühl zu fallen. Ein Strudel aus wirren Bildern bildete sich vor meinen Augen. Ein unwiderstehlicher Sog schien mich in diesen Strudel hineinzuziehen, ohne dass ich dieser Kraft auch nur das Geringste hätte entgegensetzen

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