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hätte ich mich ausgeschlossen gefühlt, heute war ich jedoch froh. Ich konnte an nichts anderes denken als an den Brief meines Vaters. Dass meine Mutter ihn absichtlich versteckt hatte, trieb mich fast in den Wahnsinn. Ich wollte aber Gewissheit, bevor ich sie ansprach. Wenn sie das wirklich getan hatte, würde sie eh nur Lügen auftischen. Besser, sie wusste nicht, dass ich im Bild war. So konnte ich Nachforschungen anstellen, ohne ihr Misstrauen zu wecken.

      Vielleicht durfte mir Dad nicht schreiben, und Mam versteckte den Brief, um ihm Ärger zu ersparen. Ich musste ihn fragen. Wie sollte ich seine Adresse herausfinden, ohne mich an die Behörden oder die Bullen zu wenden? Ich grübelte während des ganzen Nachhausewegs, kam aber nicht weiter.

      Zu Hause stellte ich meine Schulsachen ins Zimmer und spähte in den Kühlschrank. Gähnende Leere. Mam schlief. Offenbar hatte sie nichts vom Einbruch bemerkt.

      Auf einmal kam mir eine Idee. Ich könnte die Nachbarn fragen, ob sie etwas gehört hatten. Ganz unauffällig natürlich. Ich würde unter dem Vorwand klingeln, dass ich mich vorstellen wollte.

      Ich begann im obersten Stock. Der einzige, der zur Tür kam, war ein alter Mann, der mich verständnislos anstarrte. Aus seinen Ohren sprossen Haarbüschel. Ich rannte die Treppe hinunter, zurück in den ersten Stock. Auf dem Türschild neben unserer Wohnung stand D. Drakovic, doch auch dort öffnete niemand. Es blieb nur noch die Wohnung mit der schrecklichen Akkordeon-Musik.

      Eine alte Frau kam zur Tür. Ihr schneeweisses Haar war zu einem Knoten zusammengebunden. Aus dem faltigen Gesicht blickten mich zwei wache Augen an. Sie bat mich mit einer eleganten Handbewegung herein und stellte sich mit Marta Kryslowa vor.

      «Darf ich dir eine Tasse Tee anbieten?», fragte sie.

      Ich hasste Tee, ausser wenn er kalt und stark gesüsst war, sagte aber ja. Marta Kryslowa führte mich in ein schäbiges Zimmer mit Biedermeier-Möbeln. Ich erkannte den Stil sofort, bei Carol zu Hause sah es genau gleich aus. Ihre Mutter hatte uns immer eingeschärft, keine Kratzer zu machen oder Flecken zu hinterlassen. Manchmal dachte ich, dass sie sich mehr um die antiken Möbel sorgte als um Carol.

      Doch jetzt waren es weder der gediegene Sekretär noch das unpassende Bettsofa in der Ecke, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Mein Blick blieb an den Fotos hängen, die das Zimmer schmückten. Darauf war eine junge Tänzerin in verschiedenen Positionen zu sehen. Das grösste Foto zeigte sie in den Armen des weltberühmten Tänzers Rudolf Nurejew.

      «Das war ‹Giselle› am königlichen Ballett in London. Ich war damals erst 22», flüsterte Marta Kryslowa neben mir.

      Ich sah Marta Kryslowa ungläubig an. «Das sind … Sie?»

      Die alte Frau lächelte. «Ballett war mein Leben.»

      «Sie haben mit Nurejew getanzt?» Ich war so hingerissen, dass ich vergass, weshalb ich gekommen war.

      «Willst du dich nicht setzen?»

      Wie in Trance liess ich mich aufs Sofa sinken, ohne den Blick vom Foto abzuwenden. Ich hörte, wie Marta Kryslowa Tee einschenkte. Langsam begann die alte Frau zu erzählen. Von der Ballettschule, die sie in Prag besucht hatte, bis zum Tag, als sie Rudolf Nurejew am internationalen Jugendfestival in Wien kennengelernt hatte. Ich hörte gebannt zu, zum ersten Mal seit Monaten vergass ich alles um mich herum. Mehr noch, mein eigenes Leben erschien mir plötzlich unwichtig.

      «Und jetzt zeig mir, was du kannst», sagte Marta Kryslowa.

      «Was ich … Sie meinen …»

      «Ich sehe doch, dass du tanzt. Los, komm mit.»

      Sie stand auf und verliess das Wohnzimmer. Als sie die Tür zum Nebenraum aufstiess, glaubte ich, sie wolle mir ihr Schlafzimmer zeigen. Doch das Zimmer war leer bis auf einen riesigen Spiegel und eine Stange an der Wand. Ein Tanzsaal! Der vertraute Anblick verursachte mir Gänsehaut.

      Sie bemerkte mein Erstaunen. «Wozu brauche ich ein separates Zimmer, um zu schlafen?»

      Das erklärte das Bettsofa im Wohnzimmer.

      Marta Kryslowa klatschte in die Hände, um den Takt vorzugeben.

      Ich schüttelte den Kopf. «Ich tanze nicht me…»

      «Keine Ausreden!» Die nette alte Frau war verschwunden. «Erste Position!»

      Folgsam stellte ich mich Ferse an Ferse mitten in den Raum. Ich fühlte mich ungelenk und schwer. So ausser Form war ich seit meiner Bänderzerrung vor vier Jahren nicht mehr gewesen.

      «Und Plié!», befahl Marta Kryslowa. «Atmen, öffnen, Plié. Eins, zwei, drei, vier, Achse behalten. Atmen, fünf, sechs.» Sie schnippte mit den Fingern. «Gewicht vorne behalten, und drei, vier, Attitude, hoch! Steh! Penché, sechs, sieben, schliessen! Nochmals, Tendu und hoch! Wenn du im Tendu bist, gehst du schön ins Attitude sur pied. Allonger und Plié in die vierte Position. Pirouette, Pirouette! Steh! Beim neuen eins bist du schon dort! Kopf! Kopf!»

      Mir lief der Schweiss schon nach zehn Minuten hinunter. Wie hatte ich es bloss so weit kommen lassen können? Früher hatte ich mühelos zwei Stunden trainiert. Irgendwann verstummte Marta Kryslowa und schaute nur noch schweigend zu, wie ich mich durch die Positionen quälte.

      Nach einer halben Stunde klatschte sie in die Hände. «Genug!»

      Ich senkte den Kopf.

      Wortlos ging sie ins Wohnzimmer. «Du kannst dich setzen.» Sie wartete, bis ich meinen Tee ausgetrunken hatte. «Lass es nie wieder so weit kommen.»

      «Ich musste aufhö‚»

      «Es gibt nicht einen einzigen Grund, deine Begabung so mit Füssen zu treten! Sie ist ein Geschenk, und dafür hast du dankbar zu sein.»

      Ich kaute auf meiner Unterlippe herum.

      «Um zu üben, brauchst du keine Ballettschule. Wenn du dafür nicht die nötige Disziplin aufbringst, ist es alleine deine Schuld.»

      Ich nickte.

      «Ich kann dich zweimal die Woche unterrichten. Mehr liegt nicht drin. Ich bin nicht mehr die Jüngste.»

      «Ich habe … kein Geld», flüsterte ich.

      «Ich brauche jemanden, der bei mir putzt und mir mit den Einkäufen hilft. Meine Gelenke», sagte sie und deutete auf ihre Ellenbogen und Knie.

      Ich zögerte keine Sekunde. Zwar wusste ich kaum, wie ein Staubsauger funktionierte, aber ich schwor mir, dass ich es lernen würde. Ich hätte den Boden mit der Zahnbürste gefegt, um bei Marta Kryslowa Unterricht zu nehmen. Ich hatte geglaubt, das Tanzen gehöre der Vergangenheit an, wie alles andere auch. Und jetzt bot sich mir diese unglaubliche Möglichkeit.

      Sie reichte mir einen Einkaufszettel und Bargeld. Dann befahl sie mir, ihr am nächsten Tag die Lebensmittel mitzubringen, wenn ich zum Unterricht erschien.

      «Um 17 Uhr. Am Nachmittag lege ich mich hin.»

      Wieder nickte ich. Erst als ich in der Tür stand, fand ich meine Stimme wieder. Ich fragte Marta Kryslowa, ob sie am vergangenen Abend etwas gehört habe.

      «Ausnahmsweise nicht», sagte sie mit zusammengekniffenen Lippen.

      Das war eine Anspielung auf meine laute Musik. «Ich meine … als ob jemand etwas fallengelassen hätte.»

      Marta Kryslowa dachte nach. «Kurz nach der Tagesschau fiel mir auf, dass es bei dir wild zu und her ging. Ich nahm an, dass du Besuch hattest.»

      Das musste gegen zwanzig Uhr gewesen sein. Gleich nachdem ich gegangen war. Ich bedankte mich und kehrte in unsere Wohnung zurück. Mam war zum Glück bereits weg. Ich konnte ihr nicht in die Augen schauen. Das Gefühl, verraten worden zu sein, quälte mich zu sehr. Gleichzeitig durchströmte mich aber nach dem Tanzen eine unerklärliche Zuversicht.

      In meinem Zimmer öffnete ich das Fenster und lehnte mich hinaus. Die Prostituierte war wieder da. Ich schlug mir an die Stirn. Wenn jemand etwas gesehen hatte, dann sie! Ich überwand mein Unbehagen und trabte nach unten.

      «Heute scheint es besser zu laufen»,

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