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an. Das knappe Haushaltsgeld reichte kaum für Einkäufe beim Discounter. Doch als ich in Carols Augen etwas sah, das an Schadenfreude grenzte, brachte ich es nicht über mich, die Wahrheit zu sagen. Mit Carol war ich seit der zweiten Klasse befreundet, Jahre waren wir unzertrennlich gewesen.

      Zu dritt schlenderten wir die Bahnhofstrasse hinunter. Ladina plapperte unaufhörlich über ihren neuen Tennislehrer, Carol erzählte von der Herbstmode. Fieberhaft suchte ich nach einer Ausrede, um mich abzusetzen. Es fiel mir keine ein. Ich schob meine Hände in die Hosentaschen, da berührte ich die Fünfzigernote, die mir meine Mutter für die Klassenkasse mitgegeben hatte. Mein schlechtes Gewissen meldete sich, doch ich verdrängte es.

      Der Anblick der Spezialitäten liess mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Eine Verkäuferin kam mit einem Tablett auf uns zu und bot uns eine neue Käsesorte an. Ich steckte mir zwei Käsewürfel in den Mund. Als ich Carols amüsierten Blick sah, hatte ich Mühe zu schlucken.

      «Wie geht es eigentlich deinem …»

      Ich wusste, was kommen würde. Rasch packte ich einen Einkaufskorb und steuerte aufs Brotregal zu. Brot war günstig.

      Carol folgte mir. «Ist dein Vater …»

      «Das sieht lecker aus!», presste ich hervor und nahm einen Laib aus dem Regal, ohne die Aufschrift zu lesen. Laut überlegte ich, was ich sonst noch brauchte. Wahllos füllte ich meinen Einkaufskorb. Ein Glas mit Artischocken fiel beinahe zu Boden. Als Carol den Mund erneut öffnete, eilte ich zur Kasse und warf die Lebensmittel aufs Band.

      «69 Franken 40», sagte die Kassiererin.

      Mir verschlug es die Sprache. Ich starrte auf meine Fünfzigernote. Hinter mir scharrten die Kunden in der Warteschlange ungeduldig mit den Füssen. Die Kassiererin wartete. Mein Kopf war leer. Da nahm Carol zwanzig Franken hervor und beglich die Schuld.

      «Du kannst es mir bei Gelegenheit zurückzahlen», sagte sie grosszügig.

      2

      der diebstahl

      Ich wartete an der Tramhaltestelle auf Julie. Nach dem Streit mit Ali war ich froh, dass wir heute die Recyclingfirma besuchten. So konnte ich ihm einen Tag aus dem Weg gehen. Als ein Taxi vor mir hielt und Julie vom Rücksitz winkte, erschrak ich. Julie hatte gesagt, dass ihr Vater uns hinfahren würde. Für ein Taxi reichte mein Geld nicht. Mams Reaktion auf die Globus-Einkäufe steckte mir immer noch in den Knochen. Statt wütend zu werden, war sie jammernd zusammengebrochen. Den ganzen Samstag hatte sie im Bett verbracht. Am Sonntagnachmittag verschwand sie, ohne zu sagen, wohin. Sie kehrte mit verquollenen Augen zurück und tat, als sei nichts geschehen.

      «Steig ein!», rief Julie.

      Zögernd streckte ich den Kopf ins Wageninnere. Der Taxichauffeur sah nach hinten und reichte mir die Hand.

      «Das ist mein Vater», sagte Julie.

      Erleichtert rutschte ich auf den Rücksitz. Julie begann sofort, über die bevorstehende Besichtigung zu reden. Es klang, als würden wir einen Freizeitausflug machen. Zusammen gingen wir unsere Fragen durch.

      An einem Rotlicht drehte sich Julies Vater um. «Ich habe gelesen, dass Kupferkabeldiebstähle zunehmen. Habt ihr vor, danach zu fragen?»

      Ich war überrascht. Nicht über die Frage, sondern weil Julies Vater mit starkem Akzent sprach. Waren sie doch Franzosen? Dafür war der Akzent aber zu hart.

      «Gute Idee», sagte Julie. «Das zeigt, dass Abfall wertvoll sein kann.»

      «Warum stiehlt jemand Kabel?», fragte ich.

      «Um sie einzuschmelzen», erklärte Julies Vater. «Dann wird das Kupfer verkauft.»

      Er erzählte, dass neulich Kupferkabel im Wert von 150 000 Franken gestohlen worden seien.

      Julie holte einen Notizblock aus ihrer überfüllten Tasche und kritzelte etwas darauf.

      Ich musterte das Chaos. Wie fand sich Julie in ihren Unterlagen zurecht? Plötzlich merkte ich, dass ich selber beobachtet wurde. Im Rückspiegel sah ich die Augen von Julies Vater.

      «Gjyle hat erzählt, dass du das Gymnasium abgebrochen hast», sagte er.

      «Wer?»

      «Ich», sagte Julie, ohne aufzusehen.

      Warum nannte er sie so komisch?

      «Das ist schade», fuhr ihr Vater fort, bevor ich etwas sagen konnte. «Eine gute Ausbildung ist wichtig.»

      Mir war das Gespräch unangenehm, doch Julies Vater widersprach man nicht, das war mir sofort klar. Um seine Augen entdeckte ich keine Lachfalten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mit Julie herumalberte. Wie anders war da Dad gewesen.

      «Staub Recycling» war im Tösstal. In der sechsten Klasse hatten wir einen Schulausflug dorthin gemacht. Mir gefallen Flüsse, und die Töss mag ich ganz besonders.

      Julies Vater fuhr zum Besucherparkplatz und stellte den Motor ab. Als er aussteigen wollte, sagte Julie etwas in einer fremden Sprache. Er zögerte, sie redete weiter auf ihn ein, und schliesslich stieg er wieder ins Taxi. Wir vereinbarten, dass er uns um 17 Uhr abhole.

      «Er wollte mit uns hineingehen», erklärte Julie, als wir auf das Firmenareal zugingen.

      Der Lärm lenkte mich von den Fragen ab, die ich ihr über ihre Familie stellen wollte. Wir standen vor einer grossen Halle, die mit Altmetall gefüllt war. Ich sah ganze Autokarrosserien auf dem Schrotthaufen. Ein Bagger griff mit einer Zange nach dem Metall und liess die Ladung in einen Container fallen, der alles zermalmte und dann schluckte.

      Julie zeigte auf ein niedriges Gebäude, das mit «Büro» beschriftet war. Dort wurden wir schon erwartet. Ein Mann um die fünfzig mit schütterem Haar und fliehendem Kinn stellte sich als Felix Staub vor. Er erklärte, dass sein Bruder Kaspar, der Geschäftsführer von «Staub Recycling», in wenigen Minuten bei uns sei. Er führte uns zu einem Tisch, der mit Papieren übersät war, und drückte uns Firmenbroschüren in die Hand. In diesem Moment ging die Tür auf. Der Mann, der eintrat, sah Felix Staub so ähnlich, dass es nur sein Bruder Kaspar sein konnte. Sein Kinn war allerdings markanter, und statt Anzug und Krawatte trug er Arbeitshosen. Als er hereinkam, merkte ich, dass er hinkte. Unauffällig suchte ich nach dem Grund. Mein Blick glitt seinem Bein entlang, und ich sah, dass es kürzer war als das andere.

      «Entschuldigt meine Verspätung», sagte er. «Wir hatten … einen Zwischenfall.»

      «Wie sind sie rein gekommen?», fragte Felix Staub.

      Kaspar Staub seufzte. «Sie haben den Maschendrahtzaun hinter der Pneudeponie aufgeschnitten.» Er sah uns an. «Gestern Nacht wurde eingebrochen. Zum dritten Mal innerhalb von neun Monaten.»

      «Und die Überwachungskameras?», fragte Felix Staub.

      «Verdeckt von den Pneus.»

      «Wurde etwas gestohlen?», fragte Julie mit grossen Augen.

      «Eine halbe Tonne Kabel», antwortete Kaspar Staub.

      «Kupferkabel?», wollte Julie wissen.

      Kaspar Staub hob die Augenbrauen. «Ich sehe, ihr habt recherchiert.» Er erzählte, dass die Diebe mit einem Kleintransporter bis zum Zaun gefahren waren und dort die Kabel aufgeladen hatten. «Ich zeige euch die Stelle auf dem Rundgang. Seid ihr bereit?»

      Wir bejahten und packten die Unterlagen ein. Dann folgten wir Kaspar Staub in die Halle, vor der wir soeben noch gestanden waren. Er reichte uns zwei Helme.

      «Das ist das Metalllager», schrie er, damit wir ihn über den Lärm des Baggers hinweg hörten. «Hier wird das Metall getrennt. Das Eisen kommt in die Schrottschere.» Er zeigte auf den Container, der das Metall zerkleinerte und presste.

      In der Halle roch es wie in einer Parfümerie. Kaspar Staub sah mein erstauntes Gesicht und lächelte. Er erklärte, dass gerade Parfümfässer entsorgt würden. Dann zeigte er auf eine steile Metalltreppe. Julie zögerte. Unsicher sah sie zum Zwischenboden fünf Meter über uns. Als ich hochstieg, spürte ich ihre

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