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Reset. Petra Ivanov
Читать онлайн.Название Reset
Год выпуска 0
isbn 9783858827777
Автор произведения Petra Ivanov
Жанр Учебная литература
Издательство Readbox publishing GmbH
Er blieb wie geohrfeigt stehen. Ich nutzte die Gelegenheit und rannte davon. Ich schaute nicht über die Schulter, um zu sehen, ob er mir folgte. Als ich aber kurz darauf zu Hause ankam, war er nicht hinter mir. Rasch schlüpfte ich ins Haus.
3
dads brief
Als ich den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, merkte ich, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Vorsichtig tastete ich nach dem Lichtschalter. Was ich sah, raubte mir fast den Atem. Auf dem Boden lagen Schuhe, Jacken und Taschen. In der Küche stand jede Schublade offen. Am schlimmsten sah aber mein Zimmer aus. Nichts war mehr an seinem Platz. Meine Bücher waren auf dem Boden verstreut, meine Kleider ein einziges Durcheinander. Ich sah etwas zwischen meiner Wäsche aufblitzen, und meine Beine wurden weich wie Gummi. Behutsam hob ich einen Ohrring auf. Ich starrte auf die schimmernde Perle. Dann begann ich hektisch, nach dem zweiten zu suchen. Ich schob Hosen, Strümpfe und einen Bikini beiseite. Endlich entdeckte ich unter einem Top den anderen Ohrring. Den Schmuck hatte mir Dad zum Geburtstag geschenkt.
Ich sass auf dem Boden und musterte das Chaos. Als mein Blick auf meinen Laptop fiel, hielt ich die Luft an. Erst jetzt wurde mir klar: Dem Einbrecher war es nicht darum gegangen, Wertsachen zu stehlen. Was dann?
Oder hatte ich ihn gestört, bevor er seine Beute einpacken konnte? Vielleicht versteckte er sich sogar noch in der Wohnung! Im Nu war ich auf den Beinen. Mein Blick jagte durchs Zimmer. Die Bullen zu rufen, kam nicht in Frage. Dafür war mir meine letzte Begegnung mit ihnen noch zu präsent. Wie ein Schwarm Fliegen hatten sie sich in unserem Haus ausgebreitet. Jeden Zentimeter hatten sie untersucht, sogar mein Zimmer. Ein grässlicher Typ hatte in meinem Kleiderschrank gewühlt und meine Schubladen durchstöbert. «Ich würde schon einmal mit Packen beginnen», riet er. «Dein Leben an der Goldküste ist endgültig vorbei.» Da hatte ich begriffen, dass wir von den Bullen keine Hilfe erwarten konnten.
Doch an wen sollte ich mich sonst wenden? Ich fühlte mich total hilflos. Wenn ich Unterstützung gebraucht hatte, war Dad immer für mich da gewesen. Auf die Idee, meine Mutter anzurufen, kam ich gar nicht erst.
Ich würde die Wohnung alleine durchsuchen müssen. Zum ersten Mal war ich froh, dass sie so klein war. Die zwei Zimmer boten einem Einbrecher nicht viele Verstecke. Mit pochendem Herzen schlich ich in Mams Zimmer und knipste das Licht an. Ich atmete kaum, während ich Schranktüren öffnete, unter das Messingbett spähte und hinter die Tür schaute. Nichts. Auch in der Dusche versteckte sich niemand. Zitternd vor Erleichterung schloss ich die Wohnungstür ab. Zum Glück funktionierte das Schloss noch. Vermutlich war es so billig, dass ein Draht genügt hatte, es zu knacken. So machten sie es in den Filmen immer. In Erlenbach hatten wir eine Alarmanlage gehabt.
Völlig erledigt setzte ich mich in die Küche. Auf dem Herd stand eine Pfanne Risotto. Ich starrte mein im Chromstahl verzerrtes Spiegelbild an. Warum hatte der Einbrecher alle Wertsachen zurückgelassen? Wollte er mich nur erschrecken? Wer hatte etwas gegen mich? Mein erster Gedanke war Leo, aber er konnte es unmöglich gewesen sein. Dann kam mir Ali in den Sinn. War er wütend, weil ich ihn vor seinen Kollegen umgestossen hatte? Auch Zara, das Mädchen mit dem Piercing, konnte mich nicht leiden. Eigentlich mag mich gar niemand, dachte ich. Hier nicht, und zu Hause auch nicht mehr. Ich legte den Kopf auf den Tisch. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst.
Aber für Selbstmitleid hatte ich keine Zeit. Wenn Mam das Durcheinander sah, würde sie sofort die Bullen rufen. Ich musste aufräumen. Mit einem Seufzer stand ich auf.
Die Jacken und Schuhe waren schnell eingeräumt, in der Küche war der Schaden auch gering. Im Schlafzimmer meiner Mutter hatte der Einbrecher aber alle Kleidungsstücke herausgerissen. Ich faltete Hosen, rollte Strümpfe zusammen und hängte Abendkleider in den Schrank. Ob Mam sie je wieder tragen würde? Meine Finger strichen über ein Trägerkleid aus schwarzer Seide.
In Gedanken versunken hob ich ein Buch auf, das halb unter dem Bett lag. Ein Umschlag fiel heraus. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben und erstarrte. Das war die Handschrift meines Vaters. Mir wurde schwindlig. Der Brief war an mich adressiert! Verwirrt öffnete ich den Umschlag. Das oberste Blatt war mit 14. August datiert. Dad wünschte mir alles Gute zum Schulanfang. Er drückte mir die Daumen und hoffte, dass ich bald Freunde fände. Dann erzählte er von einem Buch, das er soeben gelesen hatte. Es handelte von einem Aussteiger, der alleine um die Welt gesegelt und dabei zweimal fast ums Leben gekommen war. Er schloss mit den Worten «Wir halten mehr aus, als wir glauben.»
Erst als ich meine Zähne klappern hörte, merkte ich, wie stark ich zitterte. Warum hatte meine Mutter den Brief versteckt? Gab es womöglich mehrere? Fieberhaft begann ich zu suchen. Bald sah das Zimmer wieder aus wie nach dem Einbruch. Ich fand nichts. Frustriert gab ich auf. Den Brief vom 14. August legte ich zurück ins Buch, obwohl ich ihn am liebsten an mich genommen hätte. Bevor ich meine Mutter aber darauf ansprach, musste ich wissen, was hier gespielt wurde. Warum hatte sie ihn mir nicht gegeben? Mir gegenüber hatte sie behauptet, Kontakt zu Dad sei nicht möglich. Ich musste unbedingt zurückschreiben! Doch wie? Ich hatte keine Adresse!
Als Mam um zwei Uhr früh nach Hause kam, lag ich im Bett und stellte mich schlafend. Der Wohnung sah man nichts mehr vom Einbruch an. Ich hörte, wie Mam den Risotto in den Kühlschrank stellte und sich die Zähne putzte. Dann wurde es still. Schlafen konnte ich trotzdem nicht. In Gedanken ging ich jede Zeile des Briefes nochmals durch und nahm mir vor, mir das erwähnte Buch gleich am nächsten Tag zu besorgen. Bei der Vorstellung, die gleiche Geschichte zu lesen wie Dad, wurde mir ganz warm. Es war fast so, als wäre er wieder da.
Um sechs Uhr riss mich der Wecker aus einem unruhigen Schlaf. Benommen stolperte ich in die Dusche. Nicht einmal das lauwarme Wasser vertrieb den Schleier, der mich umgab. Auf dem Weg zur Schule steckte ich mir die Stöpsel meines Smartphones in die Ohren. Nicht nur wegen der Musik, sondern auch, damit ich mir die «Miss Ritz»-Rufe nicht anhören musste. Erst als Julie mir zuwinkte, schaltete ich die Musik aus. Zwei Mädchen aus unserer Klasse berichteten, was wir am Vortag verpasst hatten. Sheila, lang und dünn wie eine Birke, beäugte mich misstrauisch, als ich mich zu ihnen gesellte. Ihre Freundin Wanda fasste die Chemielektion zusammen.
«Du schaffst sowieso eine Sechs», brummte Wanda.
«Nicht ohne zu lernen», widersprach Julie.
«Das nenne ich nicht lernen», sagte Sheila. «Du wirfst einen Blick drauf, und schon hast du alles gespeichert. Während ich büffle und büffle.»
«Dafür hast du schon eine Lehrstelle gefunden», sagte Julie.
«Als Erste und Einzige», doppelte Wanda nach. «He, habt ihr Lust, nach der Schule shoppen zu gehen? Ich brauche dringend Klamotten, ich hab nichts mehr zum Anziehen.»
Sheila hörte nicht mehr zu. Sie schob eine Hüfte vor und warf ihr Haar zurück. Als ich mich umdrehte, sah ich, warum. Ali schlenderte mit einem Kollegen aus der Parallelklasse vorbei. Ich hatte schon gehofft, dass er die Szene am Freitag vergessen hatte, als er plötzlich einen Schritt auf mich zumachte.
«Miss Ritz sieht heute etwas müde aus», sagte er. «Eine lange Nacht gehabt? Bei uns in Marokko gibt es einen Namen für Mädchen wie dich.»
Grossartig. Jetzt war er total durchgeknallt.
Sheila kniff die Augen zusammen.
Rasch sagte Julie: «Nicole war gestern Abend bei mir!»
Plötzlich verstand ich, was Ali andeutete: dass ich die Nacht bei ihm verbracht hätte! Wie eklig!
Sheila wusste offensichtlich nicht, wem sie glauben sollte, entschied sich dann aber, Ali zu ignorieren.
Ich schaute ihm nach. War das lediglich ein Versuch gewesen, meinen Ruf zu ruinieren, oder wusste er tatsächlich, dass ich wenig geschlafen hatte? Vor allem: wusste er, warum? Weil er der Einbrecher war? Ich hatte keine Gelegenheit mehr, mir darüber Gedanken zu machen. Die Schulglocke klingelte, und bis zum Mittag war ich damit beschäftigt, Friedlichs Fragen über Staatsformen zu beantworten. Meine Schonfrist war zu Ende, jetzt wollte der Lehrer wissen, was ich auf dem Gymnasium gelernt hatte.