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ich ein Gesicht zuordnen konnte. Es blieb nur einer übrig: Gjyle Ramadani. Ich gab die Adresse im Internet ein und sah, dass sie ganz in der Nähe lag. Es war einen Versuch wert. Ich schlüpfte in meine Turnschuhe und machte mich auf den Weg.

      Der laue Sommerabend lockte die Menschen hinaus. Ich hörte den Aufprall eines Fussballs, der Duft von gebratenen Würsten stieg mir in die Nase.

      Bläuliches Licht flackerte im Fenster der Ramadanis. Plötzlich hatte ich Hemmungen zu klingeln. Was, wenn Gjyle gar nicht Julie war? Oder schlimmer: wenn Julie tatsächlich hier wohnte, mir aber die Tür vor der Nase zuknallte? Vielleicht sollte ich die Blätter einfach in den Briefkasten legen.

      «Suchst du Gjyle?», fragte jemand hinter mir.

      Ich drehte mich um und sah, wie Julies Vater aus seinem Taxi stieg. Er schloss die Haustür auf und bat mich herein.

      «Eigentlich wollte ich Julie nur etwas geben», sagte ich und kramte die Blätter aus meiner Tasche.

      Herr Ramadani bedeutete mir, ihm zu folgen. Als er eine Tür im zweiten Stock öffnete, drückte ich mich gegen die Wand. Eine Frau, die Julies Mutter sein musste, begrüsste ihn. Anhand der Gesten verstand ich, dass sie über mich sprachen.

      Frau Ramadani lächelte zurückhaltend. Ich hatte plötzlich das Gefühl zu stören. Ein würziger Duft kam aus der Küche, bestimmt wollten Ramadanis gerade essen. Ein zweites Mal erklärte ich, dass ich nur etwas abgeben wollte.

      «Kommen Sie, kommen Sie», sagte Frau Ramadani.

      Gleichzeitig kam Julie aus der Küche. «Nicole?»

      Ich streckte ihr die Blätter entgegen. «Ich muss gleich wieder gehen.»

      «Was ist das?», fragte Julie.

      Ich erzählte es ihr.

      Julie weitete die Augen. «Du hast alles noch einmal aufgeschrieben?»

      «Es war nicht viel.»

      «Kommen Sie», unterbrach Frau Ramadani. Sie zeigte aufs Wohnzimmer.

      Ich protestierte, aber es nützte nichts. Julie verschwand in der Küche, während Frau Ramadani mich ins Wohnzimmer führte. Ich blieb neben einer Wohnwand aus dunklem Holz stehen, mein Blick auf den abgewetzten Spannteppich gerichtet. Er sah noch schlimmer aus als der fleckige Linoleumboden bei uns in der Wohnung. Zu Hause hatten wir Parkettböden gehabt, die unsere Putzfrau jeden Monat geölt hatte.

      Auf einem durchgesessenen Sofa sass Leo und schaute fern. Als er mich sah, drehte er die Lautstärke zurück.

      Julie stellte mir ein Glas hin. «Was möchtest du trinken?»

      «Ich gehe gleich wied‚»

      Julie verschwand und kam mit Cola, Fanta und Mineralwasser zurück. Ich spürte Leos Blick auf mir und starrte interessiert auf den Fernseher. Es lief eine fremdsprachige Sendung. Meine Neugier war stärker als mein Unbehagen.

      «Was schaust du?»

      «Wahlen.»

      «Wo?»

      Leo zog die Augenbrauen hoch, als könnte er sich keine dümmere Frage vorstellen. Erwartete er etwa, dass ich Gedanken las?

      «In Kosova», sagte er endlich.

      «Seid ihr … Shipis?», entfuhr es mir. Julie, eine Albanerin? Darauf wäre ich nie im Leben gekommen. Zu Hause in Erlenbach gab es keine Albaner. Im Ausgang waren wir aber immer wieder welchen begegnet. Carol erkannte sie auf den ersten Blick. Meistens machten sie dumme Sprüche und spielten sich auf. Wenn man Pech hatte, zückten sie ein Messer. Carol kannte jemanden, der wegen eines Hunderters niedergestochen worden war.

      Auf Leos Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. Doch bevor er antworten konnte, rief uns Julie in die Küche. Dort war der Tisch für fünf Personen gedeckt. Julie wies mir einen Platz zu, obwohl ich versicherte, dass ich keinen Hunger hatte. Zusammen mit ihrer Mutter tischte sie das Essen auf. Gemüse, Reis und Fleisch wurden mir auf den Teller geladen.

      «Wie war die Führung?», fragte Herr Ramadani auf Deutsch.

      Leo erzählte, was am Abend geschehen war. Herr Ramadani legte seine Gabel hin. Seine Augen funkelten. Ich wusste nicht, ob er Leo Vorwürfe machte, oder ob es die Sorge um Julie war, die ihn wütend machte.

      «Wir haben Anzeige erstattet», sagte Leo. In Gegenwart seines Vaters wirkte er plötzlich unsicher.

      «Bei der Polizei?», fragte Herr Ramadani.

      «Ja.»

      Die Spannung war spürbar. Erst als Herr Ramadani langsam nickte, setzte das Klappern des Bestecks wieder ein. Das Gespräch wandte sich dem Recyclingbetrieb zu. Langsam löste sich meine Anspannung, und mein Appetit wuchs. Das Essen schmeckte wunderbar. Lächelnd füllte Frau Ramadani meinen Teller zum zweiten Mal.

      Nach dem Essen nahm Julie mich mit in ihr Zimmer. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch mit einer Nähmaschine, überall lagen Stoffe und Klamotten herum. Die Wände waren mit Bildern von Models in Abendgarderobe geschmückt. Fasziniert betrachtete ich eine halbfertige Bluse. Die Ärmel waren aus knallgrünem Tricot, der Rest aus weisser Baumwolle. Spitzen verzierten den steifen Kragen. Unverkennbar Julies Stil.

      «Die nähe ich für eine Cousine», sagte Julie.

      «Du?» Begeistert untersuchte ich die aussergewöhnlichen Knöpfe. «Wo hast du die her?»

      Innert Kürze waren wir in ein Gespräch über Mode vertieft. Erst als es dämmerte, merkte ich, wie spät es war.

      Julie stöhnte. «Ich muss noch für die Französischprüfung büffeln.»

      «Brauchst du Hilfe?»

      Julie schüttelte den Kopf. «Ich kann die Wörter noch nicht. Da hilft nur auswendig lernen.» Sie seufzte theatralisch. «Ich brauche gute Vornoten für die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium im Frühjahr.»

      «Warum machst du die Prüfung in der Neunten? Bist du letztes Jahr durchgefallen?»

      «Nein. Mir war einfach nicht danach.»

      Sie öffnete die Zimmertür. Herr Ramadani sah von seiner Zeitung auf und sagte etwas zu Leo, der neben ihm sass und Matheaufgaben löste. Augenblicklich legte Leo seinen Stift hin und stand auf. Er begleitete mich zur Tür. Nachdem ich mich verabschiedet hatte, folgte er mir die Treppe hinunter nach draussen. Als er den gleichen Weg einschlug wie ich, blieb ich stehen.

      «Folgst du mir?», wollte ich wissen.

      «Ich bringe dich nach Hause.»

      «Was? Ich finde den Weg alleine.»

      Leo vergrub die Hände in seinen Hosentaschen und starrte an mir vorbei.

      «Ich brauche keine Begleitung!»

      Leo sagte nichts.

      «Leo!»

      «Leotrim», korrigierte er.

      «Leotrim», sagte ich und betonte wie Julie die letzte Silbe, «ich will nicht, dass du mich nach Hause bringst.»

      «Du solltest nicht alleine unterwegs sein.»

      «Wie bitte?» Empört hob ich mein Kinn.

      Leo tat, als höre er die Aufgebrachtheit in meiner Stimme nicht.

      «Ich brauche niemanden, der mich beschützt! Ich komme ganz gut alleine zurecht.»

      «Mann, du hast gesehen, was Gjyle heute passiert ist!»

      «Du warst ihr keine grosse Hilfe.»

      Leo kniff die Augen zusammen.

      «Du wärst fast vom Tram überfahren worden», spottete ich.

      Leo ballte die Hände zu Fäusten, sagte aber nichts. Mir wurde klar, dass ich ihn so nicht los würde. Das wollte ich aber. Wenn er mich bis nach Hause begleitete, würde er sehen, wo ich wohnte. Auf keinen Fall durfte er die Bruchbude zu Gesicht bekommen. Fieberhaft überlegte

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