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Reset. Petra Ivanov
Читать онлайн.Название Reset
Год выпуска 0
isbn 9783858827777
Автор произведения Petra Ivanov
Жанр Учебная литература
Издательство Readbox publishing GmbH
«Früher hat man die Kabel einfach auf den Feldern verbrannt. Dadurch geht aber Kupfer verloren», erklärte Kaspar Staub, «und der Boden wird kontaminiert. Verseucht», erläuterte er, als er sah, dass wir das Wort nicht kannten. «An diesen Stellen wächst nie wieder etwas.» Besorgt runzelte er die Stirn. «Leider ist das in vielen Ländern heute noch üblich.»
Der Kabelberg erinnerte mich an einen Teller Spaghetti.
«Die kleineren Kabel werden geschreddert», fuhr Kaspar Staub fort, «dann trennt der Granulator Kupfer und Kunststoff. So macht man aus Abfall Gold!»
Ich nahm etwas Kupfer in die Hand und liess die Stücke durch meine Finger rieseln. Der Rundgang war interessanter, als ich erwartet hatte. Draussen zeigte uns Kaspar Staub einen Schredder, den er Terminator nannte. Dieser schluckte ganze Möbelstücke und spuckte sie als Holzschnitzel aus. Ich stellte mir schaudernd vor, was passieren würde, wenn ein Arbeiter das Gleichgewicht verlöre.
Bis zum Mittag hatten wir die PET-Sammelstelle, das Scherenhäuschen, von wo die Schrottschere bedient wurde, und das Giftlager besichtigt. Letzteres befand sich in einem verschlossenen Raum mit speziellem Boden, der verhinderte, dass bei einem Unfall Gift ins Grundwasser sickerte. Kaspar Staub erklärte, dass jeder Tropfen Gift, der entsorgt wurde, den Behörden gemeldet werden müsse. Zum Schluss führte er uns zum Loch, das die Diebe in der vergangenen Nacht in den Zaun geschnitten hatten. Zurück im Büro nahm er seinen Helm ab und holte eine Flasche Wasser.
«Und? Wie hat es euch gefallen?» Er rieb sich erwartungsvoll die Hände.
Julie legte sofort los. Sie wollte alles über die Firma, Kupferdiebstähle und Umweltschäden wissen. Irgendwann schweiften meine Gedanken ab. Die Ruhe im Raum war nach dem lauten Morgen wohltuend. Mein Blick glitt zum Fenster, und ich beobachtete ein Tankfahrzeug, das rückwärts aufs Gelände fuhr.
Kaspar Staub folgte meinem Blick. «Die Tankreinigungen haben nichts mit dem Recyclinggeschäft zu tun», erklärte er. «Mein Bruder ist dafür zuständig. Er besass früher eine Firma, die nun als eigenständiger Bereich in ‹Staub Recycling› integriert ist.»
«Warum?», fragte Julie.
Kaspar Staub zögerte. «Es ‚ lief nicht gut. So können wir Synergien nutzen.»
Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte, doch es interessierte mich auch nicht. Dass Tanks gereinigt wurden, wusste ich, da vor einem Jahr die Heizung bei uns zu Hause erneuert worden war. War das wirklich erst ein Jahr her? Mir kam es vor wie in einem anderen Leben. Damals hätte ich mir nie träumen lassen, dass bald jemand anderes in meinem Zimmer schlafen würde. Ich dachte an den weichen Angorateppich und an das kühle Leder meines Sofas. Mein Schreibtisch hatte am Fenster gestanden. Von dort aus sah ich auf den Zürichsee und, viel wichtiger, auf den Pool im Garten der Nachbarn. An heissen Tagen sonnten sich Jerôme und seine Studienkollegen auf Luftmatratzen. Ihre durchtrainierten Körper waren braungebrannt. Carol hatte erzählt, dass sie sich die Brust enthaarten. Das wusste sie von ihrem älteren Bruder.
«… deshalb lernt ihr am meisten, wenn ihr mitanpackt», hörte ich Kaspar Staub von ferne. «Ich hoffe, das ist euch recht.»
«Klar», erwiderte Julie.
Ich nickte abwesend. Nachdem wir unsere mitgebrachten Sandwiches gegessen hatten, führte uns Kaspar Staub zum Metalllager. Er wechselte einige Worte mit einem Arbeiter, der mich skeptisch beäugte. Kaspar Staub reichte mir Handschuhe und humpelte mit Julie davon. Erst jetzt wurde mir bewusst, was von mir erwartet wurde. Ich musste mitarbeiten! Der Arbeiter verzog das Gesicht. Ich wusste genau, was er dachte: dass ich eine verwöhnte Tussi sei, zu schwach, um zuzupacken. Nur weil ich blonde Haare hatte und mir die Augenbrauen zupfte, war ich aber noch lange kein Weichei. Elf Jahre lang hatte ich Ballett trainiert, sechs Stunden die Woche. Das geht nicht spurlos an einem vorüber. Mit sechzehn hatte ich mehr Muskeln als die meisten Jungs in meinem Alter. Ich streifte mir die Handschuhe über und griff nach einem Metallstück.
«Und, wohin damit?», fragte ich kühl.
Er erklärte, dass er Eisen und Aluminium trenne und zeigte mir, wie. Mit einem Magnet konnte ich jedes Metallstück überprüfen. Zwei Stunden arbeiteten wir konzentriert, er schien darauf zu warten, dass ich aufgab. Mein Stolz liess das nicht zu. Mam sagte, ich sei stur. Das stimmte nicht. Ich hasste es einfach, wenn andere meine Schwächen sahen. Sie gingen niemanden etwas an.
Endlich schlug der Arbeiter eine Pause vor. Ich zuckte mit den Schultern, die vor Anstrengung brannten. Er holte eine Flasche Cola, mit der wir uns in den Schatten setzten, und stellte sich als Tom vor. Anschliessend führte er mich zum Scherenhäuschen, wo ich bis Feierabend unter Anleitung die Schrottschere bedienen durfte.
Julie wartete im Büro bereits auf mich. Sie war verschwitzt und schmutzig, doch ihre Augen leuchteten. Nachdem wir uns von Kaspar Staub verabschiedet hatten, spazierten wir gemeinsam zum Parkplatz. Nirgends stand ein Taxi. Stattdessen fiel mir ein Typ auf, der locker gegen einen Baum lehnte. Er war schmal, aber drahtig, seine Augen um einiges heller als sein braunes Haar. Irgendwie kam er mir bekannt vor, aber ich war sicher, dass ich ihn noch nie gesehen hatte.
«Leo!», rief Julie. «Was machst du hier? Ich dachte …»
«Vater musste nach Aarau», erklärte er.
«Nicole, das ist Leo, mein …», sagte Julie.
«Leotrim», korrigierte er, leicht verärgert.
Julie seufzte theatralisch. «Leotrim», wiederholte sie, wobei sie die letzte Silbe betonte. «Mein Bruder.»
Jetzt wurde mir klar, warum er mir bekannt vorkam. Er glich Julie. Doch zu ihm passte die kräftige Nase, sie liess ihn irgendwie männlicher erscheinen. Auf einmal war es mir peinlich, dass ich so schmutzig war. Meine Schminke war verschmiert, ich stank nach Schweiss. Leo liess sich nichts anmerken. Er sah mich nicht einmal richtig an. Die Uhrzeit interessierte ihn viel mehr.
«Der Bus fährt in fünf Minuten!» Leos Handy rappte, und er wandte sich von uns ab.
«Warum holt er uns ab?», flüsterte ich.
«Weil mein Vater einen Kunden nach Aarau fahren musste», erklärte Julie.
«Aber Leo hat gar kein Auto.»
«Logo, er ist erst siebzehn.»
«Wir hätten auch ohne ihn den Bus nehmen können.»
«Meine Eltern mögen es nicht, wenn ich alleine unterwegs bin.»
Und ich hatte mich über meine Eltern geärgert! Wenn ich früher mit Freundinnen ausgegangen war, musste ich immer ein Taxi nehmen und genau zur vereinbarten Zeit zu Hause sein. Tagsüber hatten sich Mam und Dad jedoch zum Glück nie Sorgen gemacht. Und jetzt kümmerte sich meine Mutter sowieso nicht mehr darum, wo ich mich herumtrieb.
Im Bus erzählte Julie ihrem Bruder alles über «Staub Recycling». Leo liess den Redeschwall über sich ergehen. Offenbar war er es gewohnt, seiner Schwester zuzuhören.
«Ich sass sogar am Steuer des Baggers», sagte Julie.
Mit einem Ruck setzte sich Leo auf. «Das ist viel zu gefährlich!»
Julie rollte die Augen.
«Das würde ich an deiner Stelle zu Hause nicht so hinausposaunen», riet Leo.
Ich musterte ihn unauffällig. Er trommelte mit den Fingern auf die Rücklehne des Vordersitzes. Es ging eine Energie von ihm aus, die mich nervös machte. Die Jungs, die ich kannte, waren zurückhaltender. Jerôme sah immer leicht gelangweilt aus, so, als gehe ihn alles nichts an. Leo war wie ein gespannter Bogen. Ich fragte mich, was für ein Name Leotrim war, erinnerte mich, dass Julies Vater sie am Morgen nicht Julie genannt hatte. Endlich stiegen wir in die S-Bahn um. Kurz darauf kamen wir in Zürich an.
«Ich treffe Chris noch, er hat eine CD, die ich fürs Midnight Basketball brauche», sagte Leo, während wir durch die Einkaufspassage im Bahnhof gingen.
Sein Kollege wartete bereits. Was die Ausstrahlung