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welch großen Haufen Probleme diese junge Frau haben musste, dass sie weggelaufen war. Heute Morgen hatte es noch den Anschein gehabt, der Weg zur Bank stünde ihm als unüberwindliches Hindernis im Weg. Wie einfach es doch gewesen wäre, im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die sich ihm durch einen unkontrollierbaren Ablauf der Dinge stellten. Zur Krönung fiel ihm gerade an so einem Tag auch noch ein flüchtiger Problemteenager quasi direkt vor die Füße. Und die Tatsache, dass sie ihn eingeweiht hatte, katapultierte diese Person ungewollt in seinen Zuständigkeitsbereich. Und genau das bescherte ihm ein nagendes Gefühl, das sich nicht mehr abschütteln ließ: Verantwortung, für jemand anderen als ihn. Wenn man Menschen auf Distanz hielt, passierte so etwas nicht. Wieso hatte er sich nur Lizzys Geschichte angehört? Wieso fragte er auch noch so idiotisch nach? Wo zum Geier war er hier hineingeschlittert? Das bequemste wäre, sich umzudrehen und einfach zu gehen. Aber Pflichterfüllung auszublenden, passte nicht zu ihm. Er sollte sich Lizzy und ihres Problem annehmen, auch wenn sie ein merkwürdiges Wesen war und garantiert noch mehr Chaos verursachen würde, als es die Reihe von Abweichungen heute Morgen bereits getan hatte. Nein, besser nicht!

      Eigentlich waren sie Fremde und es gehörte nicht zu den Aufgaben von Martin, sich um dieses Mädchen zu kümmern. Mit der Jugend von heute hatte doch ein Herr Steiner nichts zu schaffen. Freundlich verabschieden, alles Gute wünschen und gehen. Das sollte er tun. Umdrehen und verschwinden.

      Die junge Frau stand immer noch direkt vor ihm ohne Anstalten zu machen, sich von der Stelle zu bewegen. Im Gegenteil. Eindringlich blickte sie ihm smaragdgrün in die Augen.

      Fragend, wissend?

      Er konnte es nicht deuten. Ein bisschen zu tief sah sie in ihn hinein. Und es berührte ihn. Sie berührte ihn, irgendwo, an einer Stelle, die er vergessen hatte.

      Er konnte doch nicht einfach so gehen?

      Aber bleiben konnten sie hier auch nicht.

      Er hörte sich selbst die Frage stellen und konnte es kaum fassen.

      „Was hältst du von einer Tasse heißem Kakao im Café ZEITLOS? “ Lizzy strahlte über das ganze Gesicht:

      „Eye, eye, Käpt`n! Ich hole meine Sachen! Gib mir zehn Minuten.“

      Freitag, 20. April. Café ZEITLOS

      Verschieden große pausbackige Engelchen aus Metall hingen als filigranes Windspiel über der Eingangstüre und umrahmten musikalisch die Ankunft des ungleichen Paares in dem wohl gemütlichsten Café der Welt. Eine bemerkenswerte bauliche Tiefe im Inneren legte sich wie ein schützendes Zeltdach über diebeiden neuen Besucher. An der Decke des Raumes schwebten die schweren Flügel eines Ventilators aus Havanna. Stilvolle Ungetüme in Mokkabraun. Die Farben harmonierten gut, denn im Kontrast dazu führten an den laubgrün gestrichenen Wänden in regelmäßigen Abständen lange schwarze Linien bodenwärts. Alles wirkte dadurch großzügig oval. Künstlerisch gesehen, war die Andeutung des Zeitzonennetzes der Weltkugel großartig gelungen. Große Milchglasfenster mit Holzfensterläden an der Straßenseite ließen genügend Helligkeit ins Innere, versperrten aber den direkten Sichtkontakt zur Außenwelt.

      Niemand vermisste den Blick auf das gehetzte Treiben vorbeieilender Menschen und deren geräuschvoller Fortbewegungsmittel. Orchideen und Kaffeeduft sorgten hier drinnen für eine angenehm wohlige Atmosphäre. Es war, als befände man sich in einer Art Zwischenzeitzone, in der die Hektik der Welt ein ganz klein wenig stillstand. Zumindest für die Stunde, in der man einen Cappuccino in einem der weichen Ohrensessel mit Patchworkkissen trank oder ein Stückchen des hausgemachten ökologisch und ethisch unbedenklichen Kuchens probierte, der einen aus einer mehrstöckigen Vitrine in der Mitte des Cafés wie aus einem riesigen Süßwasseraquarium anlachte. Rübenschnitten, Rhabarbertorten, Minztaler. Alles, was das Herz begehrte, lag darin. Die Namen der Köstlichkeiten standen als Entscheidungshilfe darunter. Liebevoll kalligraphisch handgeschriebene kleine Schildchen brachten alle Naschkatzen dazu, viel länger als geplant davorzustehen und mit dem Zeigefinger am Glas dieses verlockenden Schaukastens entlangzufahren.

      Alle fing hier das gleiche magische Gefühl ein. Wenn man dieses Café besuchte, tauchte man ab. Jeder auf seine Weise. Dieser Ort glich einer Zeitkapsel, einem eigenen kleinen Universum, in dem man für eine Weile verschwinden konnte. In der Mittagspause, vor Einsamkeit, zum Zeitunglesen oder zum Chatten mit der australischen Freundin vom letzten Backpackertrip. Ob das Café ZEITLOS ein Platz für Weltenbummler und Spinner war, für einfache Angestellte oder Leute aus Chefetagen, blieb jedem selbst überlassen. Die Stühle und Sessel teilten sich Queraussteiger in abgewetzten Mänteln, reiche verwitwete Senioren oder Studenten mit klammer Kassenlage. Hier verhockten Diskutierer, Philosophierer oder einfach Leute, die Wert auf fair gehandelten Kaffee legten. Dass dieses Café ein besonderer Ort war, begriff zweifelsohne jeder, der einmal von den zarten Klängen der Engelchen begrüßt worden war. Die Atmosphäre dieses Raumes griff auf jeden über. Ein bisschen so, wie nach Hause kommen.

      Nur für die junge Kellnerin Ina bedeutete das metallische Lied nicht Auszeit, sondern angestrengte Arbeit. Ein kurzer Blick auf die beiden Neuankömmlinge, ein kurzes Nicken Richtung Zweiertisch im Eck und schon war sie mit ihrem Tablett wieder in der Küche verschwunden. Zu tun gab es für Ina immer genug im rege besuchten Café ZEITLOS. Seit langem schon schmiss sie quasi den Laden allein. Beatrice, die Inhaberin, hatte es geschafft, sich hier einen Lebenstraum zu erfüllen. Sie selbst zog es eher vor, nur gelegentlich vorbeizukommen und ansonsten Ina alles zu überlassen. Immer, wenn sie miteinander sprachen, war sie voll des Lobes und überschlug sich fast mit Sätzen wie „du bist einfach eine fantastische Frau“. Oder platzierte gekonnt ein „irgendwann schenke ich dir das hier alles“.

      Das waren ihre Durchhalteparolen an Ina und erstaunlicherweise funktionierte diese Konstellation bereits seit Jahren gut. Beatrice war aufgrund einer Vielzahl von Auslandsaufenthalten selbst überall auf der Welt zu Hause und schwirrte auf den Kontinenten umher wie ein umtriebiger Kolibri. In Anlehnung an ihre vielen Reisen hatte sie ihr „Schmucklcafé“, wie sie es liebevoll nannte, eingerichtet. Herzstück dieses gastronomischen Schmuckkästchens und Namensgeber waren die zahlreichen Uhren, die einige Quadratmeter der Wände ausfüllten. Wenn man den Blick schweifen ließ, erkannte man Raritäten verschiedenster Epochen. Sogar antike Wertstücke befanden sich darunter, mit barocken Rundungen und einer guten Handvoll Blattgold als Verzierung. Hin und wieder hatten sich an freien Wandbereichen kleine bunte Inselchen dazwischen gemogelt. Dort wuchs stetig eine lebende Collage aus Postkarten sämtlicher Regionen der Erde, die teilweise Beatrice selbst oder Gäste an ihr Café geschrieben hatten, wie an eine gute Freundin. Wo all die Uhrwerke herkamen, konnte Beatrice vor ihrem geistigen Auge exakt zuordnen. Jedes hatte seine eigene Geschichte und war wie ein siamesischer Zwilling verwachsen mit Menschen und deren Schicksalen und ihren Herkunftsorten. Wenn Beatrice einmal länger im Lande war, saß sie manchmal tagelang im Café und erzählte ihren Gästen nach einigen Gläsern kräftigem Port die eine oder andere Anekdote. Dann wurde aus dem Café ein Märchenzelt und die Gäste hörten gebannt zu und es konnte vorkommen, dass ein wichtiger Geschäftstermin oder ein Date darüber vergessen wurde. Trotz der Fülle anwesender Uhren, auf die man hätte sehen können. Hätte können…

      Über den Köpfen der Gäste mahlten die Räderwerke unterschiedlichster Exemplare. Ein kunstvoll geschwungenes Designerstück tickte neben einer rustikalen Schwarzwälder Kuckucksvariante. Die Zeiger von unscheinbaren Küchenuhren liefen um die Wette mit leise im Kreis schnurrenden Armen von Mickey Mäusen in qiuetschbunten Plastikgehäusen. Hinten in einer Ecke lehnte wie ein großer bärenhafter Beschützer eine breitschultrige Standuhr aus Mahagoniholz. Ihr tiefes und durchdringendes Brummen hörte man zu jeder vollen Stunde. Man fühlte sich ein bisschen wie in einem Museum. Lebendiges Schwirren, das von den unterschiedlichsten Geräuschen der Uhrwerke kam, erfüllte den Raum und wurde unterschwellig zu einer eigenen Musik im Kopf der Gäste. Ein Grundrauschen, ein warmes Pulsieren.

      Dieses Café hatte seinen eigenen Herzschlag.

      Martin und Lizzy querten den Raum bis zu dem kleinen Zweiersitzplatz neben der breitschultrigen Standuhr. Die Kellnerin hatte sie mit einer derart dezenten Kopfbewegung in diese Richtung gewiesen, dass die beiden dachten, selbst entschieden zu haben, dort sitzen zu wollen. Kurz später war bestellt und zwei Behälter, ein Glas Tee und eine Tasse Kakao, standen dampfend auf dem runden

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