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heute wirst du gehenbleiben. Gertraud Löffler
Читать онлайн.Название heute wirst du gehenbleiben
Год выпуска 0
isbn 9783749794089
Автор произведения Gertraud Löffler
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
„Wäre auch zu perfekt gewesen…“, gestand sich Lizzy ein.
Entmutigen lassen wollte sie sich auch nicht gleich. Tastend schlich sie um das kompakte Viereck aus morschem Holz. Dabei prüfte sie mit den Händen jede einzelne Latte und Kerbe auf Bewegung. Die Neugierde prickelte und ihr Rücken straffte sich. Sie wusste, sie würde hier schlafen. Sie wusste, sie würde hier wohnen. Sie war so kurz davor. Dieser Kiosk hatte ihr auf Anhieb gefallen, er passte perfekt zu ihr. Überall blätterte die Farbe ab, aber man konnte mit viel Fantasie ein postkartenreifes Bild erstrahlen lassen, das diese Bruchbude in den besten Verkaufsjahren zeigte, als sie noch in einem hübschen Strandhellblau gestrahlt haben musste, wie eine Ferienhütte an der Ostsee… Glückliche Kinder mit knallbunten Eiskugeln davor. Na also! Etwa auf Schulterhöhe befand sich eine kleine Luke mit Fenster.
„Drei, zwei, eins, meins“, murmelte Lizzy halblaut zu sich selbst und schlug, ohne zu zögern, mit einem Stein die Scheibe ein.
Freitag, 20. April. Martin
Der Autoschlüssel lag in der kleinen Holzschale. Immer lag er in der kleinen Holzschale. Genau wie die feinen Lederschuhe stets oben links im Schuhschrank standen und jeden Morgen auf ihre Pflichtübung warteten, ihren Besitzer ins Büro zu begleiten. Eine Hand griff nach dem Mantel, der ordentlich auf einem Bügel hing, zog ihn herunter. Der gut gebaute Körper, zu dem die Hand gehörte, verschwand darunter. Wortlos kommentierte der Spiegel das Aussehen der Person, indem er das Bild eines Mannes mittleren Alters zurückwarf. Mit den glatt gekämmten Haaren einer Standardfrisur, die ein kantiges, aber gründlich rasiertes Gesicht einrahmte.
Einem inneren Schutzmechanismus folgend versuchte Martin auf seinem Weg durch das Treppenhaus, keinen Gedanken zu fassen. Leere war das Beste. Er verließ das Haus wie jeden Morgen über die schwere Feuertüre zur Tiefgarage. Diese befand sich gegenüber und ein halbes Stockwerk tiefer als der Haupteingang, wo sieben mit Namen beschriftete Briefkästen Schulter an Schulter auf ihre postalische Befüllung warteten. Sie würden sich noch ein wenig gedulden müssen. In diesem Teil der Stadt kam der Postbote nicht vor elf.
Das Metall der Türe fiel mit einem dumpfen Knall ins Schloss. Eilig durchquerte Martin das schummrige Betongrau und steuerte direkt auf die Ecke zu, in der sein Auto parkte. Nichts denken. Nichts denken. Schritte zählen. In der unterirdischen Stille vermengte sich das Klackern seiner Lederschuhe mit dem dumpfen Hämmern hinter seinem Brustbein. Sein Herz schlug viel schneller als seine Beine liefen. Es pumpte holprig, hüpfte und stolperte und dieser falsche Rhythmus brachte ihn fast aus dem Takt. Herrgott nochmal. Warum hatte er nicht einen Stellplatz näher am Ausgang? Diese paar Minuten waren jeden Morgen ein Drahtseilakt für seine Nerven. Dieser blöde Gang durch die Tiefgarage bedeutete für ihn jedes Mal die größte Herausforderung des gesamten Arbeitstags! Im weiteren Verlauf würde er bis zum Feierabend eher vom monotonen Gleichklang umgeblätterter Aktenseiten geprägt sein.
Er stieg ein. Die Kühle des Lederbezugs presste sich angenehm durch seine dünne Anzugshose. Türe schließen, tief durchatmen. Noch während er die Luft langsam ausströmen ließ, drehte er den Schlüssel im Zündschloss um. Es geht los, dachte er mit einem flauen Gefühl im Magen und ein vibrierendes Brummen erfüllte die dunkle Garage. Jetzt kam der Moment, in dem sich Martin zwingen musste, die Reihenfolge ganz strikt einzuhalten. Langsam drückte er den Öffner. Wenn man ihn zu hektisch oder zu festdrückte oder nicht exakt in der Mitte erwischte, streikte er und das durfte er auf keinen Fall. Auf keinen Fall durfte er das! Gottlob, er ging. Mit einem Ruck setzte sich vor ihm das schwere Tor in Bewegung. Rückwärtsgang einlegen, wenden, hinaus ins Freie. Erleichtert rollte er die Ausfahrt hinauf. Die Luft draußen wirkte frisch und Martin öffnete das Fenster. Unerwartet tippte der frühlingshafte Luftzug an eine Erinnerung aus Jugendtagen. Nur einen Tag später, nachdem er vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal seinen Führerschein in den Händen gehalten hatte, war er achtzehnjährig und vollgesogen mit dem Glücksgefühl der grenzenlos erscheinenden Freiheit ins Auto gestiegen und auf die nächstgelegene Autobahn gefahren.
Stolz, endlich erwachsen zu sein, hatte er das Gaspedal durchgedrückt und der Fahrtwind hatte ihm durch den Spalt des Autofensters in einer Intensität gegen das Trommelfell gehämmert, wie sie nur jugendliche Sinnesorgane mit dem Gefühl von Unbesiegbarkeit wahrnehmen können. Hart, aber genussvoll betäubend, genau richtig, um die gefühlte Unendlichkeit von Raum und Zeit einzusaugen. Damals hatte er gedacht, man müsste diesen Moment so intensiver Freiheit luftdicht und auf ewig in einer Erinnerungskonserve eindosen können, für später. Wie auf einem Zeitstrahl war er, berauscht vom Hier und Jetzt, das grenzenlose graue Band entlang gerast in eine noch ungeschriebene Zukunft. Auf einem asphaltierten Teppich, den das Leben bereitwillig vor ihm ausrollte. Schneller, weiter, morgen, egal.
Wohl ein klein wenig wie damals spürte er jetzt die Belebung der kühlen Luft von draußen. Nicht als der Schlagabtausch mit der Geschwindigkeit und als Trommelwirbel in den Ohren seiner Erinnerung. Eher wohlwollend strich sie ihm jetzt mit erfrischender Hand über die Stirn. Heiß war diese. Als hätte er Fieber. Als wäre er krank. Vielleicht war auch etwas in ihm krank? Er hätte jetzt beschleunigen müssen, auf die Hauptstraße einbiegen…
Mit einem Mal hielt er inne.
Er wusste nicht, was ihn dazu brachte.
Mit einem Mal entschied er sich gegen die Reihenfolge.
Er wendete und fuhr zurück nach unten in den dunklen Bauch der Tiefgarage. Kurz später empfing ihn die Stille der Wohnung. Viel zu laut klackerte der Autoschlüssel in der Holzschale, während er dabei in eine bequeme Position rutschte. In Martins Brustkorb rumpelte es noch immer. Leicht nach vorne gebeugt ließ das Unwohlsein ein wenig nach. Die Stirn fühlte sich immer noch temperiert an. Unschlüssig lief er im Flur auf und ab und vergaß, dass er seine Lederschuhe noch trug. Sollte er zur Arbeit gehen? Trotz seines Zustands? Er brauchte eine Weile, bis er entschieden hatte, was er tun würde.
Kurz darauf flatterte in der Bank eine Krankmeldung per Email herein: Heute sei Freitag. Eine zügige Genesung übers Wochenende sei zu erwarten und sein Chef solle sich keine Sorgen machen.
Der halbe Vormittag verging und Martin nutzte die Zeit, um sich ausführlich dem Politikteil der lokalen Presse zu widmen, der vor ihm am Küchentisch lag. Ab und zu horchte er in seinen Körper auf der Suche nach weiteren Krankheitszeichen, Beweismittel, die begründen könnten, dass seine plötzliche Arbeitsunfähigkeit auch rechtens war. Rumoren im Verdauungstrakt? Das Unwohlsein und die Hitze waren längst verschwunden. Ein Zwicken im Magen? Kraftlos? Ja, vielleicht ein klein wenig schlapp. Aber vor allem unruhig. Aufgewühlt.
Dies konnte aber auch dem Koffeingehalt in seinem Blut nach der dritten Tasse Kaffee geschuldet sein, welches sich in einem leichten Flattern der Tageszeitung in seinen Händen zeigte. Nur schlechte Nachrichten. Jede einzelne Schlagzeile eine Ohrfeige für die Menschheit. Was für ein treffendes Wortspiel, dachte Martin. Schlagzeile, Ohrfeige. So macht sie ihrem Namen alle Ehre. Sämtliche Artikel handelten von Krieg, Elend und Tod. Er rieb mit den flachen Händen seine Wangen, als müsste er den ölschwarzen Ruß zerbombter Straßen in Syrien entfernen.
Die dunklen Krisen der Welt schwappten über den Küchentisch und schlichen sich in Martins Gemüt. Wie schlecht gelaunte Mitbewohner belegte jede abgedruckte Krise einen der noch freien Plätze neben Martins Stuhl. Aus der unguten Stimmung entwuchs eine innere Unruhe, die sich über ihn stülpte, wie eine zweite Haut. Martin faltete die Zeitung zusammen und lehnte sich zurück. Das Ticken der Küchenuhr hockte in den Ecken des Raumes und verstärkte eher seine Anspannung. Quälend schob sich der Zeiger um die Kurven und Martin, der in der Bank eine hohe Dichte an Arbeitspensum gewohnt war, konnte gar nicht glauben, dass es erst zehn Uhr war. Seit mindestens einer ganzen Stunde saß er bereits hier an seinem Platz, wo er sonst schnell zwischen zwei Zeilen der Tagespresse ein paar hastige Schlücke nahm, bevor er das Haus verließ.
Aktuell empfand er keine Langeweile, aber auch der gefühlte Mehrwert gewonnener Zeit ohne Büro blieb aus. Dafür überschattete zu sehr die Rastlosigkeit den Genuss. Es fühlte sich eher