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heute wirst du gehenbleiben. Gertraud Löffler
Читать онлайн.Название heute wirst du gehenbleiben
Год выпуска 0
isbn 9783749794089
Автор произведения Gertraud Löffler
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Plötzlich merkte Martin, dass er nicht alleine war. Nicht dass er das erwartet hatte, aber die Ruhe, hatte den Eindruck verliehen, niemand sonst wäre hier. In einiger Entfernung sah er ein junges Mädchen und hatte den Eindruck, dass es genauso zielstrebig auf diese Anlage zu ging, wie er. Sie hielt ein weißes Baumwollshirt in den Händen und schien eine bestimmte Stelle im Stoff genauer zu inspizieren, indem sie das Gewebe zwischen ihren beiden Daumen aufspannte, um es zu glätten. Irgendwie magisch blieb sein Blick an ihr haften und er bemerkte gar nicht, dass er begonnen hatte, sie heimlich zu studieren. Jung war sie, vielleicht siebzehn, schlank und sportlich. Ihre festen Schritte und ihre aufrechte, aber nicht überhebliche Körperhaltung verrieten ein hohes Maß an innerer Sprungkraft, genauso wie ihre Augen, als sie für einen Moment aufsah und nachdenklich in die Ferne blickte. Ein faszinierendes junges Mädchen. Selbst auf die Entfernung spürte er, dass sie etwas Besonderes ausstrahlte. Er versuchte zu überlegen, was es war. Energie! Gebündelte Energie, die sich zwischen der Mädchenwelt und gesetzten Frauenjahren ihren Weg ins Freie bahnen würde, sobald die richtigen Konstellationen ihren Platz einnahmen.
Nicht ungewöhnlich, dass sich Martin wieder einmal der Physik bediente. Für ihn war sie ein verlässlicher Partner beim Beleuchten von unerklärlichen Phänomenen, denn sie vermochte es, selbst die abwegigsten Erscheinungen im Kopf zurechtzurücken. Physisch glich sie einem fragilen Gebilde aus schwingenden Atomen, die um den Kern einer starken Persönlichkeit kreisten. Dieses zarte jugendliche Wesen stand erst an der Schwelle zum Erwachsenenleben und strahlte dennoch eine fast greifbare Entschlossenheit aus. Entschlossenheit? Oder war es charismatischer Trotz? Gab es so etwas überhaupt? Ganz im Gegensatz zu ihrer starken Präsenz entsprach ihr rein äußerliches Erscheinungsbild dem eines klassischen Durchschnittsteenagers. Turnschuhe, enge schwarze Jeans, mittellange dunkelbraune Haare, schlanke Statur. Martin staunte über diese junge Frau und schlagartig wurde ihm bewusst, dass er sich in genau diesem Moment selbst dabei ertappte, eine fremde Frau gedanklich zu stalken. Wie unangebracht von ihm, die persönliche Intimsphäre einer Unbekannten ausgespäht zu haben.
Betont gleichgültig lenkte er seine Schritte in Richtung Brunnen und Mädchen. Um das Quäntchen Schuld von sich zu weisen, das sich ihm aufdrängte, schob er seine Analysen von gerade eben wie einen Aktenstapel beiseite und beschloss, ein wenig kühles Wasser am Brunnen zu schöpfen. Ganz beiläufig. So, als käme er gerade zufällig des Wegs. Gleich im Anschluss wollte er seinen Rückweg antreten. Schließlich lag im Büro eine Krankmeldung vor, eine Tatsache, die vorsah, dass man besser zu Hause bleiben sollte. Die Vorstellung, an einem Fehltag hier so entspannt öffentlich durch den Park zu schlendern und dabei womöglich auch noch von einem bekannten Kunden, oder schlimmer noch, von einem Bankmitarbeiter zufällig gesehen zu werden, löste in seinem Pflichtbewusstsein Unbehagen aus.
Martin beschleunigte. Den Hügel hinabzugehen, fiel ihm leicht.
Als hätte es der Zufall so vorgesehen, kamen beide gleichzeitig am Brunnen an. Das Mädchen tauchte das Kleidungsstück in ihren Händen in das Becken und begann den zuvor skeptisch betrachteten Fleck im Stoff kräftig zu reiben, während er seine Hände ein Bassin höher in das kühlende Nass gleiten ließ. Ihn fesselte diese junge Frau immer noch. Es gelang ihm kaum, seinen Blick von ihr abzuwenden. Beide standen eine Weile schweigend nebeneinander am Wasser. Ein paar Tauben, die gebadet hatten, gurrten und schickten einen geräuschvollen Schauer durch ihr Gefieder, um Staub und Parasiten abzuschütteln. Dann hörte man wieder nur das sanfte Plätschern der urinierenden Engel über den Becken und der vier Hände, die darin schöpften. Der Szenerie hatte etwas Zeremonielles, sie erinnerte an eine rituelle Waschung wie sie in entfernten Kulturkreisen praktiziert wird.
Das Mädchen durchbrach die Stille, indem sie leise in sich versunken vor sich hin fluchte. Plötzlich stutzte sie und ihn traf ohne Vorwarnung der wohl vorwurfsvollste Blick, der ihn je gestraft hatte. Ihm war klar, was sie ihm ankreidete. Er hatte sie schließlich mehr als eindringlich eine ganze Weile beobachtet. Auch ohne Worte dürfte klar sein, was sie meinte. Typisch frustrierter Mitvierziger gafft sich die Augen aus dem Kopf. Spanner, elender! Dass all seine Gedankengänge im Zusammenhang mit ihr rein analytisch und bezüglich des Inhalts absolut salonfähig waren, konnte sie schließlich nicht erahnen. Ihr Kommentar kam überraschend forsch.
„Laufen Sie immer als Banker verkleidet durch Parkanlagen oder haben Sie eine Sonnenallergie?“, fragte sie.
Mit so einem geschickt formulierten Frontalangriff auf seine Person hatte er nicht gerechnet. Etwas irritierend wirkte das schon, zum einen, weil dieses surreale weibliche Geschöpf eine Stimme hatte und aus Fleisch und Blut bestand, zum anderen, weil ihn sonst normalerweise nur beruflich bedingt Fremde ansprachen. Jedoch taten sie dies dann mit dem nötigen Respekt, und in höflichem Ton, nicht so bissig, wie die junge Dame vor ihm. Darüber hinaus, woher wusste sie eigentlich, dass er in einer Bank arbeitete? Er brauchte eine Weile, um sich wieder einigermaßen zu fangen. Zu seinem Erstaunen, hatte er eine passende Antwort parat:
„Und Sie, ich meine, gehen Sie immer zum Waschtag in den Park?“ Die Kleine verzog die Mundwinkel zu einem amüsierten, aber durchaus noch skeptischem Grinsen, während sie immer noch mit beiden Händen ihr T-Shirt im Wasser bearbeitete. Martin merkte, wie seltsam die Höflichkeit des Siezens wirkte, wenn man jemanden vor sich hatte, der in einem öffentlichen Brunnen Klamotten säuberte. Ihr war dies anscheinend auch aufgefallen.
„Bevor Sie sich am „Sie“ ernsthaft verletzten. By the way, ich bin Marie-Elise. Vergiss es. Ich heiße Lizzy.“
Sie schmunzelte und streckte Martin ihre Hand entgegen. Martin versuchte aus Anstand die Mischung aus Wasser und undefinierbarer gräulicher Substanz an ihrer Rechten zu ignorieren, so gut er konnte. Zögerlich griff er zu.
„Martin. Martin Steiner“.
Er zog es vor, den Nachnamen ebenfalls zu erwähnen. Wieso hatte sie eigentlich als Jüngere das „Du“ angeboten und nur den Vornamen benutzt? Lizzy nahm die kurze Pause als Einladung weiterzusprechen.
„Wegen dem da.“
Sie nickte abfällig und deutete auf die bräunliche Stelle zwischen ihren Fingern, „Wegen dem da bin ich stinksauer. Es hätte nicht passieren dürfen! Dieser Fleck hier ist so eklig und will sich einfach nicht entfernen lassen. Zu dumm aber auch! Ich brauche doch das Shirt!“ Mit jedem Satz, den sie sprach, schien sie wütender zu werden.
„So ein Mist!“, schimpfte sie weiter.
Sie rubbelte energisch am Stoff. An ihrer Stirn klebte verschwitzt eine dünne Haarsträhne. Mit dem Handrücken schob sie diese zur Seite, während sie unterstützend einen kräftigen Luftstrom über den rechten unteren Mundwinkel nach oben blies. Trotz ihrer Wut sah sie dadurch fast niedlich aus.
„Ich brauche das Teil echt dringend.“
Prüfend hielt sie das Kleidungsstück gegen das Licht. Martin stellte fest, dass seine gewagte Theorie über Energie von vorhin ihre Berechtigung hatte. Die Kleine war ein Pulverfass, zunehmend explosiv und wenn sie die Augen skeptisch zukniff, auch nicht mehr so mädchenhaft wie vorhin noch am Hügel.
„Es ist doch immer wieder dasselbe. Wenn man wenig hat, muss man noch um das Wenige fürchten. Andere suhlen sich in der Zwischenzeit im Champagnervollbad. Stößchen hier, Stößchen da…
So ist das doch bei der tollen Bussi-Bussi-Gesellschaft.“
Wie ein Wasserfall sprudelten die Sätze aus ihr heraus.
„Kapitalismus, Globalisierung, was für eine grandiose Errungenschaft unserer Zeit!“, fuhr sie fort. „Oder ein anderes Wort für Ausbeutung? Modernes Arbeitsleben! Wenn damit gemeint ist, T-Shirts irgendwo auf der Welt zu Cent-Löhnen unter unmenschlichen Bedingungen zu produzieren und dann ein Label aufzudrucken und Millionen zu scheffeln, dann werden die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher.“
Und schon wieder erstaunte sie ihn. Die Sätze waren strukturiert und inhaltlich ordentlich rebellisch. Hätte er nicht erwartet, dass ein junges Mädchen ein solches Gedankengut pflegte.
„Auf welcher Seite man steht ist einzig und allein abhängig davon, wo man auf dieser riesengroßen blauen Murmel geboren wird. Gerechtigkeit, fair trade, Fehlanzeige!“