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Schüsse, doch wer geschossen hat, ließ sich nicht feststellen. Ein Wilderer! Nur diese Version scheint plausibel zu sein. Es besteht nur ein Schatten einer Chance, dass im Frühling, nach dem Tauen des Schnees, eine vergrabene Leiche gefunden werden kann.

      Livs Erforschungen, die sie auf eigene Faust führte, sprachen eine andere Sprache.

      Thomas kam von seinem Exkurs in einer versöhnlichen Stimmung zurück. Es sah so aus, als hätte er in der Einsamkeit alles durchdacht und begriffen, wie sehr er sie mit seinen Verdächtigungen verletzt hatte. Das Erste, was sie stutzig machte, war, dass sie erst von Rechtsanwalt Korbach über Gerrys Verschwinden erfuhr. Er, in seiner Eigenschaft als Präsident des Jagdklubs, rief sie an. Er wollte von Thomas erfahren, ob der ebenfalls jagen gegangen war. „In Bezug zum Fall Gerry.“

      „Zu welchem Fall Gerry?“, fragte sie und so erfuhr sie über die rätselhafte Geschichte.

      „Warst du jagen bei der Jagdhütte?“, fragte sie Thomas.

      „Nein, ich war ganz woanders“, log er, ohne zu zucken.

      „Hör zu, ich möchte morgen nach Potsdam fahren, wie ist es mit Benzin?“

      „Du musst tanken.“

      „Hast du nicht getankt?“

      „Es hat gereicht, war gar nicht so weit.“ Er sagte nicht, wohin er angeblich gefahren war. Sie sagte nichts über das Telefonat mit Korbach. Sie sah ihren Mann mit dem in ihrer Brust rasenden Herzen an. Mein Gott! Wie hatte er so etwas tun können? Ihre Furcht vermischte sich mit der Trauer um Gerry und mit dem ängstlichen Respekt vor diesem Ungeheuer. Nie, nie hätte sie gedacht, er wäre zu so einer Tat fähig.

      Ihr Gedächtnis lieferte den scheinbar harmlosen Satz, den er bei ihrem letzten Treffen bei der Überreichung des Hirschgeweihs gesagt hatte: „Wir rechnen später ab.“ Dazu die von Gerry ausgesprochenen Worte: „Wir haben Gewehre, wir beide wollen dich, wir gehen in den Wald und die Sache wird geklärt.“

      Thomas schlief nach Livs intensiven Liebeszuwendungen schnell ein. Sie schlich sich „unten ohne“ aus dem Bett und begab sich zu seinem Arbeitszimmer. Mit rasendem Herzen fand sie den Gewehrständer. Ein unerklärlicher Instinkt zwang sie dazu, die Tatwaffe berühren zu wollen, die zu einer männlichen, wilden und von der Welt verborgenen Liebeserklärung wurde.

      Die Waffe war nicht da. Hatte er sie versteckt? Begraben. Fingerabdrücke. Vor ihren Augen spielten sich Szenen aus den Krimiserien ihres Mannes ab.

      Am nächsten Morgen beschloss sie, einiges zu überprüfen. Sie nahm das Auto, betankte es, prüfte den Zählerstand und verglich diesen mit der letzten Tankfüllung. Ja. Thomas war etwa einhundert Kilometer mehr gefahren, als nötig war, um die Hütte zu erreichen und zurückzukommen. Man sprach allerdings darüber, dass der Verbrecher die Leiche viel weiter gebracht haben musste. Verbrecher! Mein Gott, Thomas, was hast du getan?!

      Eine Welle von uferloser Zärtlichkeit hielt sie an der Gurgel und sie spürte eine fließende Träne an ihrer Wange. Sie fuhr einige Meter von der Tanksäule weiter, blieb stehen und öffnete den Kofferraum. Sie sah geronnenes Blut. Mein Gott, wie unvorsichtig! Wahnsinnig. Eine Liebeswelle überflog sie. Ekstatische Erregung überraschte sie. Sie kehrte in die Garage zurück und trotz der klirrenden Kälte schrubbte sie, wie Lady Macbeth, mit einem Handbesen und einem Waschlappen den befleckten Kofferraum. Mit den rotverfärbten Händen musste sie immer wieder den Lappen auswringen. Sie stellte sich ihren ausblutenden Liebhaber unter dem Kofferraumdeckel vor und ihr wurde schlecht. Selbst auf dem Deckel fand sie noch gefrorene Blutstropfen.

      „Ich werde wahnsinnig“, flüsterte sie zu sich selbst, als sie merkte, dass sie das Blech wie die Stirn des betrogenen Liebhabers streichelte.

      Thomas ist zu einer makaber nüchternen Größe geworden.

      Es waren mehrere betörende Tage und besonders die Nächte. Sie bediente ihn mit allen, beim Liebhaber erlernten, ausschweifenden Praktiken. Ja, Gerry war beim Kampf um sie gefallen, und der Gewinner war jeglicher Belohnung würdig. Wie im Mittelalter ein siegreicher Ritter die Rüstung und das Pferd des Besiegten bekam, so vererbte Gerry alles, was er ihr beigebracht hatte. Ja, Thomas war Gerrys moralischer und materieller Erbe. Erschöpft und wortkarg herrschte er. Er nahm seinen Status als etwas, das ihm völlig selbstverständlich zustand. Über das Verbrechen sprachen sie nicht. Es fiel nicht ein einziges Wort darüber und seine ruhige Beherrschung imponierte ihr grenzenlos.

      In allen Bereichen gab es keinen Vergleich damit, wie es früher war. Es hatte sich herausgestellt, dass eine dominierende Frau nach einem dominanten Mann sucht. Daher ihre frühere Untreue für die ehemals unmännliche Nachgiebigkeit von Thomas. Jetzt war das anders geworden und sollte so bleiben.

      Am Ende dieser „Flitterwoche“ passierte etwas Schreckliches. Es war spätabends. Ihre Vorbereitung für die nahenden Glücksstunden unterbrach die schellende Türklingel. Um diese Zeit? Ungerne öffnete sie die Tür.

      Dieser erschreckende, vielleicht im Unterbewusstsein erwartete Augenblick. Ein Polizist steht vor der Tür. Zum Glück nur einer, denkt sie. Sie sieht in ihrer Einbildung Thomas, wie er seinen Verfolger mit den Händen auf den Boden legt. Noch steht der Polizist mit einem Futteral in der Hand da. Sie erkennt die Waffe ihres Mannes. Es ist also geschehen, denkt sie. Die anderen stehen auf der Treppe in der Zwischenetage. Sie steht wie eingemauert. Thomas nähert sich. Der hat Nerven, er rennt nicht weg! Thomas begrüßt ihn mit Genugtuung wie einen lange erwarteten Gast.

      „Endlich wurde sie gefunden“, sagt er mit einer wunderbar gespielten Erleichterung. Das raubt ihr den Atem.

      Liv ist verwirrt. Wie soll sie das alles verstehen? Der Polizist sucht eine Ausrede, will gehen, schließlich bleibt er für eine Weile. Hier wächst Thomas über sich hinaus. Er ist einfach so. Er könnte keiner Fliege etwas zu Leide tun, bloß für sie ist er bereit zu töten. Jetzt, wo sie weiß, dass er durch Leidenschaft bereit ist zu Morden, bewundert sie seine eiserne Disziplin. Während sie in Panik überlegt, was hier gespielt wird, plaudert er freundschaftlich mit dem Polizisten bei einem Glas Cherry.

      Plötzlich die Erleuchtung. Thomas erzählt die Einzelheiten. Er hat sein Gewehr an der Wand stehen lassen.

      „Erinnerst du dich? Nachdem du getankt hattest, bist du wieder vor das Haus gefahren. Ich bin in Eile gewesen und die Waffe blieb.“

      Genial, wie schnell er das Alibi erfindet. Er ist ohne Waffe verreist. Egal, wie er sich eine andere besorgt hat, vielleicht bei einem der Kollegen geliehen. Glühende Leidenschaft, die einen zum Verbrechen zwingt und gleichzeitig eine eiserne Disziplin. Nicht umsonst wurde er zum Krimi-Guru. Der Polizist verabschiedet sich und Liv gibt sich ihrem Mann hin.

      „Hier, jetzt, am Tisch!“, befiehlt sie, gestreckt in seine Richtung. Während sie sich auf die Ellenbogen stützt, sieht sie ein Cognacglas und denkt an den ekelhaften, zu Recht Getöteten, der mit ihr zu spielen wagte, indem er auf ihre Lenden, wie auf eine Bar, ein gefülltes Glas stellte. Die Sachen am Tisch vibrieren rhythmisch. Sie legt ihr Gesicht auf die Tischdecke. Ein zitterndes Glas vor den Augen. Das Glück!

      Während des nächsten halben Jahres verlor Thomas über acht Kilo an Gewicht. Großartig, schlank, vielleicht etwas müde, als die Auflösung kam.

      Sie fuhren noch einmal zur Jagdhütte. Schließlich gab es dort Wald, frische Luft, eine tolle Herberge und die ausgezeichnet kochende Frau des Försters. Doch es ging auch um etwas anderes. Der großartige, sich seiner moralischen Prinzipien bewusste Thomas hatte keine Angst. Er kehrte zurück. Liv erinnerte sich an seine Krimis. Der Verbrecher kehrte immer an den Tatort zurück. Doch er fürchtete sich nicht.

      Der Ferienanfang war perfekt. Sie waren alleine. Nur Taxi war dabei. Gerade durch sie ergaben sich einige Komplikationen. Die Hündin war läufig. Sie passten höllisch auf sie auf, denn die Hunde aus dem benachbarten Dorf hatten es schon bemerkt. Sie schickte eine SMS an Korbach: „Warte auf Ajax, Liv.“

      Thomas übernahm die Funktion des Wärters der Antikonzeption. Er ging mit ihr und mit einem Stock, um einen eindringlichen „Prätender“ abzuwehren. Die „Wache“ funktionierte bis zum Mittag des

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