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dann drehte sie sich um und biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten.

      „Du bist mir gerade die Rechte, die Menschenfreundin ’rauszubeißen“, fuhr Sikes im verächtlichen Tone fort. „Eine nette Freundin für das Kind, wie du den Jungen nennst.“

      „Der Allmächtige ist mein Zeuge, daß ich es bin“, rief Nancy leidenschaftlich. „Lieber läge ich tot auf der Straße oder säße im Gefängnis, als daß ich mich dazu hergegeben hätte, ihn in eure Hände zu bringen. Er ist von diesem Augenblick an ein Dieb, ein Lügner, ein Teufel, kurz alles, was man sich nur Schlimmes denkt. Ist das nicht für den alten Halunken genug, muß er ihn auch noch prügeln?“

      „Sehen Sie, Sikes“, sagte der Jude in einem belehrenden Tone, „wir müssen höflich sein und freundliche Worte gebrauchen. Immer höflich, Bill!“

      „Höfliche Worte!“ schrie das Mädchen, das in seiner Wut schrecklich anzusehen war. „Freundliche Worte! Du Schurke! Du verdienst sie auch von mir. Ich stahl für dich, als ich noch ein Kind war, nicht halb so alt wie dieses (sie zeigte auf Oliver) und treibe nun seit zwölf Jahren dasselbe Gewerbe. Weißt du das nicht? Sprich!“

      „Nun“, sagte der Jude begütigend, „wenn du es tatest, so hattest du doch dein Brot davon.“

      „Das stimmt“, sprudelte das Mädchen mit steigender Heftigkeit heraus. Ihre Worte überstürzten sich förmlich.

      „Es ist mein Brot, und die kalten, nassen, schmutzigen Straßen sind mein Heim. Und du bist der Lump, der mich heraustrieb und der mich Tag und Nacht hinaustreiben wird, bis ich verrecke!“

      „Nun hör auf“, fiel der Jude gereizt ein, „sonst passiert dir was, das dir recht unangenehm sein könnte.“

      Das Mädchen sagte nichts mehr, aber zerraufte sich wie eine Verrückte das Haar und zerriß sich das Kleid, dann stürzte sie wütend auf den Juden los. Im rechten Augenblick packte Sikes sie jedoch am Handgelenk, sonst hätte sie ohne Zweifel sehr deutliche Zeichen ihrer Rache in des Juden Gesicht zurückgelassen. Nachdem sie vergeblich versuchte, sich von Sikes Griff zu befreien, fiel sie plötzlich in Ohnmacht.

      „Nun ist alles wieder in Ordnung“, meinte Sikes und trug sie in eine Ecke des Zimmers. Sie hat eine Riesenkraft, wenn sie in Wut ist!“

      Der Jude wischte sich die Stirn und lächelte: „mit Weibern zu tun zu haben, ist schlimm, aber sie sind schlau, und ohne sie geht’s in unserm Geschäft nicht. – Karl, bring Oliver zu Bett!“

      „Nicht wahr, Fagin, er soll morgen seinen Sonntagsstaat nicht tragen?“ Der Jude verneinte. Oliver wurde nun in das anstoßende Gemach geführt, wo ein Bett aus alten Säcken in der Ecke stand. Karl brachte lachend denselben alten Anzug zum Vorschein, den Oliver in Brownlows Hause dem Dienstmädchen geschenkt hatte. Fagin hatte die Lumpen von einem Juden gekauft und dadurch die erste Spur von unseres Helden Aufenthalt erhalten.

      „Zieh deinen Sonntagsanzug aus“, sagte Karl; „ich will ihn Fagin zum Aufheben geben. Das wird ein Hauptspaß.“

      Widerwillig gehorchte Oliver und wurde dann von Karl im Finstern gelassen, der hinausging und die Tür hinter sich abschloß. Karls Lachen und die Stimme Betsys, die gekommen war, um ihrer Freundin beizustehen, hätten ihn unter glücklicheren Umständen wach erhalten. Er war jedoch krank und müde und verfiel deshalb in einen tiefen Schlaf.

      Siebzehntes Kapitel

      Olivers Schicksal bleibt dauernd ungünstig. Ein großer Mann kommt nach London, um seinem Rufe zu schaden

      Wir bitten den Leser jetzt, uns nach der Stadt zu begleiten, wo unser kleiner Held zur Welt kam.

      Herr Bumble trat eines Morgens früh aus dem Armehause und ging würdevoll die Straße hinunter. Er trug zwar seinen Kopf immer gebührend hoch, heute jedoch noch höher als gewöhnlich. Herr Bumble hielt sich nicht mit den kleinen Krämern auf, die ihn ansprechen wollten, sondern grüßte sie nur mit einer leichten Handbewegung. An dem Landhaus machte er schließlich halt, wo Frau Mann die armen Kinder nach den Grundsätzen der Armenbehörde betreute.

      „Was mag dieser verwünschte Gemeindediener schon in aller Herrgottsfrühe wollen?“ sagte Frau Mann, als sie sein bekanntes, ungeduldiges Klopfen an der Gartentür vernahm. – „Ah! Sieh da, Herr Bumble freut mich, Sie zu sehen. Bitte, treten Sie näher.“

      „Frau Mann“, sagte Herr Bumble, indem er sich würdevoll setzte, „Frau Mann, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!“

      „Danke, gleichfalls, Herr Bumble“, versetzte Frau Mann liebenswürdig lächelnd. „Es geht Ihnen hoffentlich gut?“

      „So, so Frau Mann“, erwiderte Herr Bumble; „man ist nicht auf Rosen gebettet.“

      „Ach, das ist nur zu wahr!“ Hätten die Armenkinder das hören können, sie hätten alle ausnahmslos Frau Mann beigepflichtet.

      „Das Leben eines Gemeindebeamten, Frau Mann“, fuhr Bumble fort und schlug mit seinem Stock auf den Tisch, „ist ein Leben voll Mühe, Arbeit und Ärger. Dagegen ist jedoch nichts zu machen, alle Leute im öffentlichen Leben müssen sich Anfeindungen gefallen lassen.“

      Obgleich Frau Mann nicht wußte, was er damit sagen wollte, seufzte sie teilnahmsvoll.

      „Ich gehe nach London, Frau Mann“, fuhr Bumble fort.

      „Ach, wirklich?“

      „Ja, und zwar in der Postkutsche. Ich und zwei Arme. Es handelt sich um die Feststellung ihrer Heimatszuständigkeit. Die Armenhausbehörde hat mich mit ihrer Vertretung betraut. Es wird sich dann herausstellen“, fuhr Herr Bumble fort und richtete sich stolz auf, „ob die Herren vom Gericht in Clerkenwell sich nicht in mir gewaltig verrechnet haben. So leicht werden Sie mit mir nicht fertig.“

      „Sie reisen also mit der Post. Ich dachte, man transportiere die Armen immer auf Karren?“

      „Nur, wenn sie krank sind. Bei Regenwetter etzen wir die armen Kranken auf offene Karren, damit sie sich nicht erkälten.“

      „Ach so!“

      „Es ist eine Retourkutsche und daher sehr billig“, sagte Herr Bumble. „Die beiden Armen sind in einem ziemlich elenden Zustande, und die Gemeinde fährt um zwei Pfund besser, wenn sie sie fortschickt, als wenn sie sie begraben lassen muß. Das heißt, wir müssen sie einer andern Gemeinde zuweisen können, was, wie ich glaube, gehen wird. Sie dürfen uns nur nicht den Possen spielen und unterwegs sterben. Ha! Ha! Ha!“

      „Doch wir vergessen unser Geschäft“, sagte der Gemeindediener, nachdem er genügend gelacht hatte. „Hier ist das Kostgeld für den Monat.“ Er holte eine kleine Rolle Silbergeld aus seiner Tasche hervor und bat um Quittung, die Frau Mann auch sofort ausschrieb. Dann fragte Bumble nach dem Wohlergehen der Kinder.

      „Gott segne die lieben kleinen Herzblättchen. Sie sind alle so gesund, als es die Umstände erlauben – bis auf die zwei, die in der letzten Woche starben.“

      Herr Bumble verabschiedete sich nun nach einer Weile und ging heim.

      Am nächsten Morgen um sechs Uhr nahm er mit den beiden Armen seinen Sitz auf der Außenseite der Kutsche ein und langte fahrplanmäßig in London an. Nachdem Herr Bumble seine Schützlinge, die halb erfroren waren, für die Nacht untergebracht hatte, ließ er sich in dem Gasthause, wo die Kutsche hielt, ein bescheidenes Essen, bestehend aus Beefsteak, Austernsauce und Porter, bringen und studierte dann die Zeitung.

      Das erste, was Herrn Bumble ins Auge fiel, war folgende Ankündigung:

      „Fünf Guineen Belohnung.

      Letzten Donnerstagabend ist ein Knabe, namens Oliver Twist, aus seiner Wohnung in Pentonville verschwunden und hat nichts mehr von sich hören lassen. Die Möglichkeit besteht, daß er entführt wurde. Obige Belohnung soll derjenige erhalten, der über den Verbleib des besagten Oliver Twist Angaben machen kann, oder der sonst etwas von seiner Herkunft weiß, da der Inserent sich auch für diese lebhaft interessiert.“

      Der Anzeige war eine genaue Beschreibung

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