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Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens
Читать онлайн.Название Gesammelte Erzählungen
Год выпуска 0
isbn 9783958555167
Автор произведения Charles Dickens
Жанр Сказки
Издательство Readbox publishing GmbH
„Aber ihr könnt eure Freunde im Stich lassen“, erwiderte Oliver mit mattem Lächeln, „und sie einer Strafe preisgeben, die ihr verdient habt?“
„Das geschah nur mit Rücksicht auf Fagin. Die Greifer wissen, daß wir gemeinschaftlich arbeiten, und er hätte genug Gelegenheiten gehabt. Das war der Grund, weshalb wir ausgerissen sind, nicht wahr, Karl? Guck mal hier“, fuhr der Gannef fort und zog aus der Tasche eine Handvoll Schillinge, „so leben wir! Wer schert sich drum, wo es herkommt. Greif zu! Wo ich diese erwischt habe, gibt’s noch eine ganze Masse. Du willst nicht, du willst nicht? O du Dummkopf.“
„Nicht wahr, Oliver, es ist nicht recht?“ fragte Karl Bates. „Er wird dafür noch mal Bammelmann machen, nicht?“
„Ich weiß nicht, was das ist“, versetzte Oliver.
„Das will es heißen“, sagte Karl und machte mit seinem Taschentuch die Pantomime des Gehängtwerdens.
„Du bist schlecht erzogen“, meinte der Gannef, „aber Fagin wird schon noch etwas aus dir machen. Fang nur gleich an, sonst verlierst du nur Zeit.“
Karl Bates unterstützte diesen Rat mit einigen moralischen Nutzanwendungen und schilderte in glühenden Farben das Leben, was sie jetzt führten.
„Und dann bedenke, Nolly (*Oliver*)“, sagte der Gannef, „wenn du die Taschentücher und Uhren nicht nimmst, so stiehlt sie ein anderer. Wer sich daher eine solche Gelegenheit nicht zunutze macht, ist ein Dummkopf.“
„Er hat vollkommen recht, vollkommen“, sagte Fagin, der inzwischen leise eingetreten war. „Er gibt dir das Ganze in der Nußschale, ja in einer Nußschale, Freundchen. Dem Gannef kannst du glauben. Ha! Ha! Ha! Er kennt genau den Katechismus seines Geschäfts!“
Das Gespräch wurde nicht weiter fortgesetzt, denn der Jude war mit Fräulein Betsy und einem Herrn nach Hause gekommen, den Oliver noch nie gesehen hatte. Dieser, als Tom Chitling angeredet, war etwas älter als der Gannef und mochte wohl achtzehn, Lenze zählen. Er benahm sich gegen diesen mit einer Ehrerbietung, die bewies, daß er sich bewußt war, dem Gannef an Geist und Geschäftsgewandtheit nicht ebenbürtig zu sein. Tom hatte kleine blinzelnde Augen und ein pockennarbiges Gesicht. Er trug eine Pelzmütze, eine dunkle Jacke, schmierige Barchenthosen und eine Schürze. Er sah ziemlich heruntergekommen aus und entschuldigte es damit, daß seine „Zeit“ erst seit einer Stunde um sei und er noch nicht dazu gekommen war, seinen Anzug zu wechseln. Er schloß daran die Bemerkung, daß er in zweiundvierzig langen, harten Arbeitstagen keinen Tropfen Schnaps angerührt hätte. Er wolle sich hängen lassen, wenn er nicht so sei wie ein Pulverfaß.
„Was glaubst du wohl, woher dieser Herr kommt, Oliver?“ fragte der Jude grinsend, als die anderen Jungen eine Schnapsflasche auf den Tisch stellten.
„Ich – weiß nicht“, stotterte Oliver.
„Wer ist denn das?“ fragte Tom Chitling, Oliver verächtlich ansehend.
„Ein junger Freund von mir“, antwortete Fagin.
„Dann ist er gut aufgehoben“, sagte Tom und sah Fagin bedeutungsvoll an. „Kümmere dich nicht darum, woher ich komme, Junge. Ich wette einen Taler, daß du den Weg dahin schnell genug finden wirst.“
Man lachte, und dann flüsterte Tom dem Juden einige Worte zu. Sie setzten sich an den Kamin, und Fagin ließ Oliver an seiner Seite Platz nehmen. Man sprach von den großen Gewinnen des Geschäfts, der Geschicklichkeit des Gannefs und der Freigebigkeit Fagins. Als dieses Thema und zu gleicher Zeit auch Herr Tom Chitling erschöpft war – denn der Aufenthalt im Gefängnis wird nach einigen Wochen etwas angreifend – , entfernte sich Betsy, und die ganze Bande begab sich zur Ruhe.
Von diesem Tage an wurde Oliver nur noch selten allein gelassen. Er war fast dauernd in Gesellschaft von Jack oder Karl, die Tag für Tag mit dem Juden das alte Spiel spielten. Ob zu ihrer eigenen oder zu Olivers Ausbildung, wußte Fagin am besten. Manchmal erzählte der alte Mann auch Geschichten von Diebstählen, die er in jüngeren Jahren begangen hatte. Er mischte darin so viel Drolliges und Spaßhaftes, daß Oliver häufig nicht umhin konnte, herzlich mitzulachen und die Geschichten lustig zu finden. Trotz seiner besseren Einsicht!
Der schlaue alte Jude hatte den Jungen im Netz. Er hatte Olivers Geist durch Einsamkeit und Langeweile darauf vorbereitet, jede Gesellschaft seinen traurigen Grübeleien vorzuziehen. Langsam flößte er ihm das Gift ein, das die Unschuld seiner Seele trüben und sein Herz für immer schwarz machen sollte.
Neunzehntes Kapitel
In dem ein denkwürdiger Plan beraten und beschlossen wird
Es war eine kalte und windige Nacht, als der Jude gut vermummt aus seiner Höhle auftauchte. Er blieb auf der Schwelle stehen, während die Jungen die Tür von innen verschlossen und verriegelten. Nachdem dies geschehen, eilte er so schnell, als er konnte, die Straße hinab.
Das Haus, in das man Oliver gebracht hatte, befand sich in der Nähe von Whitechapel. – Der Jude stand an der nächsten Ecke einen Augenblick still und sah sich argwöhnisch um. Dann ging er über die Straße und schlug die Richtung nach Spitalfields ein.
Der Schmutz lag dicht auf dem Pflaster, und ein dunkler Nebel hing über den Straßen. Es regnete, und alles war kalt und feucht anzufühlen. Eine Nacht, so recht geeignet für die Unternehmungen eines Wesens, wie der Jude es war. Als der gräuliche Alte unter dem Schutz der dunkeln Mauern und Torwege dahinschlich, glich er ganz einem eklen Gewürm, welches in dem Schlamm und Dunkel, das ihn geboren, nach einem leckeren Mahle sucht.
Er kam auf seinem Gange durch viele krumme und enge Gassen nach Bethnal Green. Hier bog er plötzlich links ab und tauchte dann in ein Labyrinth von schmutzigen Straßen unter, die es in diesem bevölkerten Stadtteil zu Dutzenden gibt.
Der Jude war augenscheinlich mit der Gegend gut vertraut, denn ohne irgendwelches Zögern eilte er durch mehrere Straßen, bis er eine Gasse erreichte, an deren äußerstem Ende nur eine Laterne brannte. Er klopfte an die Tür eines Hauses und stieg die Treppe hinauf, nachdem man ihm gegen Bekanntgabe des Losungswortes geöffnet hatte.
Als er die Klinke einer Tür berührte, hörte man das Knurren eines Hundes, und eine rauhe Mannesstimme fragte, wer da sei.
„Nur ich, Bill; nur ich, Freundchen“, sagte der Jude und guckte herein.
„So bring deinen schuftigen Leichnam ’rein“, erwiderte Sikes. – „Kusch, dummes Vieh! Kennst du denn den Teufel nicht, auch wenn er vermummt ist.“
Der Hund hatte sich augenscheinlich durch Fagins Regenmantel täuschen lassen, denn sobald der Jude ihn abwarf, zog sich das Tier wieder in seine Ecke zurück und wedelte mit dem Schwanze.
„Nun?“, fragte Sikes.
„Tja, mein Lieber! - Ach Nancy.“
Der Jude war etwas verlegen, da er nicht wissen konnte, wie er von dem Mädchen empfangen werden würde. Doch Nancy tat ganz harmlos; sie winkte Fagin zu sich an den Kamin heran und meinte: es wäre eine kalte Nacht und sie wolle das Mißverständnis vergessen.
„Ja, es ist wirklich kalt“, entgegnete der Jude. „Es geht einem durch und durch.“
„Gib ihm was zu trinken, Nancy. Donnerwetter, spute dich! Es wird einem ja ganz übel, wenn man das dürre Gerippe so klappern sieht, als sei es eben erst dem Grabe entstiegen.“
Nancy holte eiligst eine Flasche und Sikes füllte ein Glas mit Brandy, das er dem Juden hinhielt.
Der Jude berührte es mit den Lippen und sagte dann:
„Danke, Bill, nicht mehr, habe genug.“
„Du hast wohl Angst, wir wollen dir was“, fragte Sikes, den Juden mit einem Blick durchbohrend. Er ergriff mit einem heiseren Grunzen das Glas und goß den Rest seines Inhalts in den Kamin. Dann füllte er es aufs neue und trank es aus.
Fagin sah sich im Zimmer um, nicht aus Neugierde, denn er war schon öfters dagewesen, sondern aus Argwohn, wie es ihm zur zweiten Natur geworden war. Es war