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er die darin befindlichen Goldstücke gezählt hatte, fragte der Dieb: „Ist das alles?“

      „Jawohl“, antwortete der Jude.

      „Hast du auch unterwegs das Päckchen nicht aufgemacht und ein paar Stücke verdrückt?“ fuhr Sikes argwöhnisch fort. „Stell dich nur nicht beleidigt, es wäre nicht das erstemal. Klingle mal.“

      Fagin setzte den Klingelzug in Bewegung, und kurz darauf trat ein anderer Jude ein. Jünger zwar als Fagin, aber ebenso spitzbübisch und abstoßend in seinem Äußern.

      Bill zeigte nur auf die leere Kanne, worauf der Jude, der den Wink verstand, sich entfernte, um sie wieder zu füllen. Beim Herausgehen hatte er jedoch Fagin einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen, den dieser mit einem leichten Kopfschütteln beantwortete. Diese Zeichensprache ging Sikes verloren, da er sich gerade zufällig bückte. Hätte er sie bemerkt, würde er wohl wenig Gutes für sich selber daraus gefolgert haben.

      „Ist jemand hier, Barney?“ fragte Fagin den wieder eintretenden Juden.

      „Nur Fräulein Nancy“, erwiderte dieser.

      „Nancy?“ rief Sikes. „Ein patentes Mädel.“

      „Ja, sie ist drinnen am Büfett und hat sich einen Teller Rindfleisch geben lassen“, bemerkte Barney.

      „Schick sie her! Schnell!“ rief Sikes.

      Barney warf einen fragenden Blick auf Fagin, da ihm dieser aber kein Zeichen gab, so entfernte er sich und kehrte bald mit Nancy zurück.

      „Du bist ihm auf der Spur, Nancy, nicht wahr?“ fragte Sikes und bot ihr ein Glas Schnaps an.

      „Ja, Bill“, entgegnete die junge Dame und leerte das Glas mit einem Zuge. „Mühe genug hat es gekostet. Der Junge ist krank gewesen und mußte das Bett hüten, dann – “

      „Sie sind ein Prachtmädel, Nancy!“ sagte Fagin. Ein Augenblinzeln des Juden warnte das Mädchen vor allzu großer Offenheit. Sie lenkte deshalb das Gespräch mit Herrn Sikes auf andere Gegenstände und erklärte nach ungefähr zehn Minuten, gehen zu müssen. Herr Sikes bemerkte, daß er denselben Weg habe, und sie gingen zusammen fort. Der Hund folgte in einiger Entfernung seinem Herrn. Nachdem Sikes das Zimmer verlassen hatte, schüttelte Fagin die geballte Faust hinter ihm her und murmelte einen schweren Fluch. Dann setzte er sich wieder an den Tisch und vertiefte sich in die Lektüre des Londoner Kriminalanzeigers.

      Inzwischen eilte Oliver Twist dem Bücherladen zu und dachte darüber nach, wie glücklich und zufrieden er jetzt sei. Aus diesen Träumereien wurde er durch den Ruf geschreckt: „Oh, mein lieber Bruder“ und fühlte gleichzeitig seinen Hals von einem Paar weiblichen Armen umschlungen.

      „Lassen Sie mich los“, rief Oliver sich wehrend. „Was wollen Sie denn von mir? Warum halten Sie mich auf?“

      Die einzige Antwort hierauf war seitens des Mädchens: „Gott sei Dank, ich habe ihn gefunden! O Oliver, böser Junge, wieviel Kummer hast du mir bereitet. Komm nach Hause, Liebling, komm! Ich bin ja so froh, ihn gefunden zu haben.“

      Das junge Mädchen brach in Tränen aus und bekam so schreckliche Krämpfe, daß ein paar dabeistehende Weiber einen vorübergehenden Schlächterlehrling fragten, ob er es nicht für richtiger hielte, zum Arzt zu laufen. Der Lehrling, wenn auch nicht gerade gefühllos, schien aber ein ziemlich träger Bursche zu sein, denn er erwiderte, seiner Ansicht nach wäre das nicht nötig.

      „Mir ist schon wieder besser“, sagte das Mädchen und nahm Oliver bei der Hand. „Aber nun komm schnell mit mir nach Hause, du böser, böser Junge, du!“

      „Was ist denn los?“ fragte eine der Frauen.

      „Ach, er ist vor ungefähr vier Wochen seinen Eltern, arbeitsamen und achtbaren Leuten, entlaufen und hat sich einer Diebesbande angeschlossen. Der armen Mutter ist darüber fast das Herz gebrochen.“

      „Geh nach Hause, Bösewicht“, schrien die Weiber.

      „Solch ein verdammter Bengel.“

      „Das ist nicht wahr“, rief Oliver in großer Angst, „Ich kenne sie gar nicht. Ich habe weder Schwester noch Vater, noch Mutter. Ich bin eine Waise und wohne zu Pentonville.“

      „Lieber Gott, wie frech er schon geworden ist“, schluchzte das junge Mädchen.

      „Ach, Nancy!“ schrie Oliver, entsetzt zurückfahrend, als er ihr ins Gesicht sah.

      „Ihr seht, er kennt mich“, sagte Nancy zu den Umstehenden. „Er kann es nicht leugnen. Helft mir, gute Leute, ihn nach Hause bringen, sonst sterben seine armen Eltern noch vor Kummer und Sorge, und mir bricht er das Herz.“

      „Donnerwetter, was ist los?“ rief ein Mann, der aus einer Kneipe stürzte. „Ach, der junge Oliver, komm nach Hause zu deiner armen Mutter, du Galgenstrick. Sofort gehst du mit!“

      „Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich kenne sie nicht. Hilfe! Hilfe!“ brüllte Oliver und wehrte sich verzweifelt gegen den festen Griff des Mannes.

      „Hilfe!“ wiederholte der Mann. „Ich will dir gleich helfen, Lümmel! Was sind das für Bücher? Wahrscheinlich gestohlen! Gib mal her.“

      Mit diesen Warten entriß er ihm die Bände und gab ihm einen heftigen Schlag auf den Kopf.

      „So ist’s recht, der einzige Weg, ihn wieder zur Vernunft zu bringen“, riefen die Zuschauer.

      „Er kann noch mehr haben“, sagte Sikes, indem er Oliver einen zweiten Schlag versetzte und dann beim Kragen packte. „Marsch, du Taugenichts, und nimm dich vor meinem Hund dort in acht.“

      Noch schwach von der eben erst überstandenen Krankheit, betäubt durch die Schläge und das Plötzliche des Angriffs, was konnte da wohl ein armes Kind machen? Es war dunkel geworden, nirgends Hilfe, so war jeder Widerstand fruchtlos. Oliver wurde in aller Eile durch ein Labyrinth enger, finsterer Höfe geschleppt und zu so schnellen Schritten gezwungen, daß die wenigen Hilferufe ungehört verhallten.

      Die Gaslampen wurden angezündet. Frau Bedwin wartete besorgt an der offenen Haustür, und das Dienstmädchen war wohl zwanzigmal die Straße hinabgelaufen, ohne eine Spur von Oliver zu entdecken. Die beiden alten Herren saßen beharrlich im dunklen Zimmer, zwischen sich die Uhr auf dem Tische – und warteten.

      Sechzehntes Kapitel

      Erzählt von Olivers Schicksalen nach seiner Begegnung mit Nancy

      Die engen Straßen und Gassen endeten an einem großen Platz, der als Viehmarkt benutzt wurde. Sikes ging jetzt langsamer, da das Mädchen ganz außer Luft und Atem war. Er herrschte Oliver mit rauher Stimme an, Nancys Hand zu fassen. „Hast du gehört?“ brüllte Sikes, als Oliver zögerte und sich umblickte.

      Sie befanden sich in einem dunkeln, abgelegenen Teil der Stadt und Oliver erkannte, daß jeder Widerstand vergeblich sein würde. Er streckte daher seine Hand aus, die Nancy sofort mit der ihrigen erfaßte.

      „Gib mir die andere“, sagte Sikes und packte ihn bei der noch freien Hand. Sie kamen jetzt zum Smithfieldmarkt. Die Nacht war finster und neblig. Es schlug acht.

      „Acht Uhr, Bill!“ sagte Nancy, als die Uhr ausgeschlagen hatte.

      „Das brauchst du mir nicht zu erzählen, ich hab’ ja Ohren“, erwiderte Sikes.

      „Ob sie die Uhr auch schlagen hören?“ meinte Nancy.

      „Natürlich“, versetzte Sikes. „Es war so um Bartholomae, als ich im Kittchen saß, und da war keine Pfennigtrompete auf dem ganzen Markt, die ich nicht quäken hörte.

      „Die armen Jungens!“ seufzte Nancy. „Ach, Bill, was es für schneidige junge Kerle sind!“

      „Ja, ja, so sind die Weiber, an etwas anderes denken sie nicht“, entgegnete Sikes. „Schneidige Kerle, meinetwegen; sie sind so gut wie tot, also kann’s mir gleichgültig sein.“

      Mit diesem Trost schien Sikes eine Anwandlung von Eifersucht niederzukämpfen. Er

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