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andern dabei scharf ansehend, „kommen auch noch andere in den Schlamassel. Jedenfalls würde es Euch schlimmer ergehen als mir.“

      Sikes sprang auf und wollte gegen Fagin heftig werden. Dieser zuckte jedoch nur mit den Achseln und starrte die gegenüberliegende Wand an. Es trat eine lange Pause ein. Schließlich begann Sikes im gedämpften Tone: „Wir müssen rauskriegen, was sich vor dem Richter mit Oliver zugetragen hat.“

      Der Jude nickte zustimmend. „Wenn er nicht gepfiffen hat und ist verurteilt, brauchen wir nichts zu befürchten, bis er wieder rauskommt. Dann aber müssen wir ein wachsames Auge auf ihn haben und versuchen, ihn in unsere Hände zu bekommen.“

      Der Jude nickte wieder. Der Plan war gut, aber seiner Ausführung stellte sich ein großes Hindernis entgegen. Die vier Herren hatten einen nicht zu besiegenden Widerwillen dagegen, mit irgend etwas, das Polizei hieß, in Berührung zu kommen. Sie saßen stumm da und sahen sich unsicher an, als die zwei jungen Damen auftauchten, die Oliver bei einer früheren Gelegenheit kennengelernt hatte.

      „Wie gerufen“, sagte der Jude. „Bet wird hingehen, nicht wahr, meine Liebe?“

      „Wohin?“ fragte die junge Dame.

      „Nur ein wenig auf die Polizei, Liebling“, sagte der Jude schmeichelnd.

      Wir müssen der Dame Gerechtigkeit widerfahren lassen und sagen, daß sie dieses Ansinnen nicht geradezu ablehnte. Sie erklärte bloß mit Nachdruck, der Henker solle sie holen, wenn sie auf die Polizei ginge. Eine ungemein zarte Ablehnung der Bitte, die beweist, daß das junge Mädchen zuviel Gutmütigkeit besaß, um ihre Mitmenschen durch eine runde und entschiedene Weigerung zu kränken. Der Jude wandte sich nun an Nancy:

      „Was sagen Sie dazu, meine Liebe?“

      „Geben Sie sich keine Mühe, Fagin, ich tue es auch nicht“, versetzte diese.

      „Wie soll ich das verstehen?“ brauste Sikes auf.

      „So, wie ich es gesagt habe, Bill“, sagte Nancy ruhig.

      „Du bist gerade die rechte Person dazu“, entgegnete Sikes, „niemand kennt dich in dieser Gegend.“

      „Ist mir auch sehr lieb, wünsche gar nichts anderes!“

      „Also sie wird gehen, Fagin“, sagte Sikes.

      „Sie wird sich hüten“, entgegnete Nancy.

      „Doch, sie wird’s machen, Fagin“, bekräftigte Sikes. Und er hatte recht. Das Mädchen ließ sich durch Drohungen und Versprechungen endlich bewegen, den Auftrag auszuführen.

      Aus den Vorräten des Juden wählte sie eine weiße Schürze, die sie umband, und einen Strohhut. In die Hand nahm sie ein Deckelkörbchen. „Ach, mein Bruder! Mein armer, lieber, kleiner Bruder!“ rief Nancy, in Tränen ausbrechend. „Was ist aus ihm geworden? Wo hat man ihn hingebracht? Ach, habt Erbarmen, liebe Leute, und sagt mir, was mit dem Kinde geschehen ist. Bitte, bitte, sagt es mir doch.“

      Als Nancy diese Worte im kläglichsten Tone hervorgebracht hatte, verbeugte sie sich lächelnd gegen die Zuhörer und verschwand.

      „Das ist ein Mädel, Jungens“, sagte der Jude. „Da könnt ihr euch ein Beispiel dran nehmen.“

      „Sie ist eine Zierde ihres Geschlechts“, rief Herr Sikes und hob sein Glas. „Sie lebe hoch!“

      Nancy schlug indessen den nächsten Weg zur Polizei ein. Dort angekommen, trat sie durch die Hintertür in das Gebäude ein und klopfte leise mit dem Schlüssel an eine der Zellentüren. Dann horchte sie. Da sich nichts in der Zelle rührte, so hustete sie und horchte wieder. Abermals keine Antwort. Nancy wandte sich daher unmittelbar an den Gerichtsdiener und fragte mit den kläglichsten Jammertönen nach ihrem lieben Bruder.

      „Er ist nicht hier“, sagte der alte Gerichts­diener.

      „Mein Gott, wo ist er denn?“ meinte Nancy trostlos.

      „Nun, der Herr hat ihn mitgenommen.“

      „Was für ein Herr, um Himmelswillen?“ rief Nancy.

      Der Gerichtsdiener erzählte ihr den ganzen Vorgang und schloß damit, daß der alte Herr unweit Pentonville wohne.

      Nancy eilte auf schnellstem Wege zum Juden zurück.

      Sie hatte sich kaum ihres Berichtes entledigt, als Herr Bill Sikes schnell seinen Hund rief, den Hut auf den Kopf stülpte und sich schleunigst ohne Gruß entfernte.

      „Wir müssen Oliver finden“, sagte der Jude in großer Aufregung. „Nancy, mein Liebling, ich muß ihn wiederhaben. Auf Sie und den Gannef kann ich mich am besten verlassen. Hier habt ihr Geld. Ich schließe heute nacht diese Wohnung, ihr wißt ja, wo ihr mich finden könnt. Eilt, zögert keinen Augenblick.“ Mit diesen Worten schob er sie aus dem Zimmer, und nachdem er hinter ihnen die Tür doppelt verschlossen und verriegelt hatte, holte er das Kästchen aus seinem Versteck hervor und verbarg in aller Eile Uhren und Juwelen unter seinen Kleidern.

      „Bis jetzt hat er noch nichts ausgeplaudert“, sprach der Jude zu sich, indem er in seiner Arbeit fortfuhr. „Wenn er uns aber bei seinen neuen Freunden zu verpfeifen gedenkt, so werden wir ihm wohl noch das Maul stopfen können.“

      Vierzehntes Kapitel

      Umfaßt weitere Einzelheiten über Olivers Aufenthalt bei Herrn Brownlow, nebst der merkwürdigen Prophezeihung, die ein gewisser Herr Grimwig über ihn aussprach, als man Oliver mit einem Auftrage ausschickte

      Oliver erholte sich bald wieder von der Ohnmacht, in die er bei Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf gefallen war. Der alte Herr und Frau Bedwin vermieden es sorgfältig, im Gespräch wieder auf das Gemälde zurückzukommen. Der Junge war noch zu schwach, um zum Frühstück zu gehen. Als er am nächsten Tage in das Zimmer der Haushälterin hinuntergebracht wurde, suchten seine Blicke sofort das Bildnis der schönen Dame. Das Gemälde war aber entfernt worden.

      „Ja“, sagte Frau Bedwin, „es ist fort, wie du siehst.“

      „Oh, warum hat man es weggenommen?“ versetzte Oliver mit einem Seufzer.

      „Weil Herr Brownlow sagte, daß es dich zu beängstigen scheine und daher deiner Wiederherstellung hinderlich sein könnte“, entgegnete die alte Dame.

      „Ach nein, es beängstigte mich gar nicht“, sprach Oliver, „ich mochte es gern ansehen.“

      „Nun, nun, liebes Kind, mache nur, daß du bald wieder gesund wirst“, sagte die gute Frau. „Man wird es dann wieder aufhängen, das verspreche ich dir. Doch jetzt wollen wir von etwas anderem sprechen.“

      Oliver hörte aufmerksam zu, als ihm Frau Bedwin von ihrem verstorbenen Manne und ihren wohlerzogenen Kindern erzählte. Sie plauderte munter drauflos, bis die Zeit zum Teetrinken herankam. Nachdem dieser eingenommen war, unterrichtete sie Oliver im Kartenspielen, was er ebenso schnell auffaßte, wie sie zu lehren imstande war. Dann vertieften sie sich angelegentlich in diese Beschäftigung, bis es für den Patienten Zeit war, ins Bett zu gehen.

      Die Tage der Genesung waren für Oliver Tage des Glückes. Jedermann war so lieb und gütig zu ihm, daß er im Himmel zu sein glaubte. Er hatte kaum wieder soviel Kräfte erlangt, um sich ankleiden zu können, als ihm Brownlow einen neuen Anzug anfertigen ließ. Da man Oliver sagte, er könne mit den alten Kleidern anfangen, was er wolle, so schenkte er sie einem Dienstmädchen, die sehr gut zu ihm gewesen war. Er riet ihr, die Lumpen an einen Juden zu verkaufen und dadurch zu etwas Geld zu kommen.

      Eines Abends, als Oliver plaudernd bei Frau Bedwin saß, ließ Herr Brownlow sagen, daß er Oliver auf seinem Studierzimmer sprechen möchte.

      Frau Bedwin putzte ihn schnell schön heraus und führte ihn bis an die Tür des Studierzimmers. Oliver klopfte an, und als Herr Brownlow „Herein“ rief, trat er in ein kleines, ganz mit Bilchern angefülltes Hintergemach, durch dessen Fenster man in einige schöne, kleine Gärten sah. Vor dem Fenster stand ein Tisch, an dem Herr Brownlow lesend saß. Bei Olivers Eintritt schob er das Buch von sich und hieß den Jungen, näherzukommen und sich

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