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öffnete.

      „Ich weiß nicht – was wünschen Sie?“

      Herr Bumble hatte kaum den Namen Oliver Twist genannt, als Frau Bedwin, die an der Tür gehorcht hatte, hastig in den Hausflur eilte.

      „Kommen Sie herein“, sagte die alte Frau; „ich wußte ja, daß wir von ihm hören würden. Der arme Junge. Gott segne ihn.“

      Das Mädchen war inzwischen die Treppe hinaufgegangen und kehrte jetzt mit der Bitte zurück, daß Herr Bumble ihr folgen möchte.

      Er wurde in das kleine Studierzimmer geführt, wo Herr Brownlow und sein Freund Grimwig sich bei einer Flasche Wein gütlich taten.

      „Sie kommen auf meine Anzeige?“ fragte BrownIow.

      „Jawohl.“

      „Sie sind Gemeindediener?“

      „Jawohl.“

      „Wissen Sie, wo der arme Junge sich befindet?“

      „So wenig, wie irgendein anderer“, versetzte Bumble.

      „Nun, was wissen sie von ihm?“ fragte der alte Herr. „Sprechen Sie, lieber Freund, wenn Sie etwas zu sagen haben. Was wissen Sie von ihm?“

      „Wahrscheinlich nichts Gutes“, bemerkte Herr Grimwig beißend, nachdem er Herrn Bumbles Gesichtszüge aufmerksam betrachtet hatte.

      Dieser schüttelte feierlich den Kopf.

      „Sehen Sie?“ sagte Grimwig triumphierend.

      Herr Brownlow ersuchte Bumble nun, ihm in kurzen Worten mitzuteilen, was er von Oliver wüßte.

      Es würde ermüdend sein, die Erzählung mit den Worten des Gemeindedieners wiederzugeben, da sie volle zwanzig Minuten dauerte. Ihr Inhalt war kurz der: Oliver sei ein Findling, das Kind gemeiner und lasterhafter Eltern, tückisch, undankbar und boshaft. Er habe auf einen harmlosen Jungen einen blutdürstigen und hinterlistigen Angriff gemacht und sei dann bei Nacht und Nebel aus dem Hause seines Lehrherrn entlaufen. Zum Beweise, daß er wirklich der Mann sei, als den er sich vorstellte, legte Herr Bumble seine Papiere vor.

      „Ich fürchte, es ist alles nur zu wahr“, sagte der alte Herr, nachdem er die Papiere flüchtig durchgesehen hatte. „Nehmen Sie das Geld, es ist nicht viel für die Wichtigkeit Ihrer Mitteilungen. Ich hätte gern das Dreifache gegeben, wenn sie für den Jungen günstiger gelautet hätten.“

      Hätte Herr Bumble das früher gewußt, so würde er wahrscheinlich seiner Erzählung eine ganz andere Färbung gegeben haben. Kopfschüttelnd steckte er die fünf Guineen ein und entfernte sich.

      Herr Brownlow war so niedergeschlagen, daß selbst Herr Grimwig es für richtig hielt, seine bissigen Bemerkungen einzustellen. Der alte Herr zog heftig an der Klingel.

      „Frau Bedwin“, sagte Herr Brownlow, nachdem die Haushälterin eingetreten war, „der Junge ist ein Betrüger.“

      „Unmöglich“, versetzte die alte Frau mit Nachdruck, „rein unmöglich.“

      „Ich sage Ihnen aber, es ist so“, entgegnete der alte Herr scharf. „Es war sein ganzes Leben lang ein kleiner Bösewicht.“

      „Das werde ich nie glauben“, erwiderte Frau Bedwin fest. „Er war ein liebes, sanftes und dankbares Kind!“

      „Ruhig!“ sagte Brownlow. „Ich will den Namen des Jungen nie wieder hören. Um Ihnen das zu sagen, hatte ich geklingelt. Sie können jetzt gehen, aber denken Sie daran, ich habe im Ernst gesprochen.“

      In Herrn Brownlows Hause gab es in dieser Nacht betrübte Herzen, aber auch Olivers Herz war todtraurig, wenn er seiner gütigen Freunde gedachte. Hätte er geahnt, was sie über ihn gehört hatten, es wäre gebrochen.

      Achtzehntes Kapitel

      Wie Oliver in der sittenverbessernden Gesellschaft seiner ehrenwerten Freunde die Zeit verbrachte

      Am Mittag des nächsten Tages, als der Gannef und Karl Bates zu ihren gewöhnlichen Geschäften ausgegangen waren, benutzte Herr Fagin die Gelegenheit, Oliver eine lange Rede über die schreckliche Sünde der Undankbarkeit zu halten. Er setzte ihm eingehend auseinander, wie er sich derselben in ganz ungewöhnlich hohem Grade schuldig gemacht habe, indem er sich von seinen besorgten Freunden entfernte und ihnen sogar zu entfliehen versuchte. Dabei hätte man doch auf seine Wiederauffindung so viel Mühe und Kosten verwendet. Herr Fagin legte großes Gewicht auf den Umstand, daß er Oliver ins Haus genommen und verpflegt habe. Ohne die ihm rechtzeitig gewährte Hilfe wäre er doch wahrscheinlich Hungers gestorben. Aber sie würden noch die besten Freunde werden, wenn sich Oliver folgsam und anstellig zeige. Der Jude nahm jetzt seinen Hut, zog einen alten geflickten Überrock an und ging fort, nicht ohne vorher das Zimmer abzu­schließen.

      So blieb Oliver während des ganzen Tages und einer Anzahl nachfolgender Tage eingesperrt und sich selbst überlassen. Er hatte genügend Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, die sich immer mit seinen Freunden in Pentonville beschäftigten, und was diese wohl für eine Meinung von ihm gefaßt haben mochten. Nach Ablauf einer Woche ließ der Jude die Tür unverschlossen, und Oliver stand es frei, im Hause umherzugehen.

      Es war überall schmutzig im Hause, aber die Zimmer im oberen Stockwerk hatten große Türen und hölzerne Wandtäfelchen. Es mußte vor langer Zeit mal besseren Leuten gehört haben und war wohl einmal schön und heiter gewesen, so traurig und verkommen es auch jetzt aussah. In den Ecken der Wände hatten Spinnen ihre Netze ausgespannt, und wenn er leise in ein Zimmer trat, liefen die Mäuse erschreckt in ihre Löcher zurück. In allen Zimmern waren die morschen Fensterläden fest verschlossen. Das Licht konnte nur durch kleine, eingebohrte Löcher eindringen und erfüllte die Zimmer mit seltsamen Schattengestalten. Hintenhinaus befand sich eine Dachkammer, deren Fenster keine Läden hatten, sondern die nur vergittert waren. Hier sah Oliver oft stundenlang hinaus, aber er hatte nur einen Blick auf ein Gewirr von Dächern, Schornsteinen und Giebeln.

      Eines Nachmittags, als der Gannef und Karl Bates sich zu einer Abendunternehmung vorbereiteten, setzte jener es sich in den Kopf, eine größere Sorgfalt auf seine Toilette zu verwenden. Eine Schwäche, die wir, um gerecht zu sein, nur als eine ausnahmsweise vorkommende bezeichnen müssen. Er befahl Oliver gnädig, ihm bei diesem Geschäft an die Hand zu gehen.

      Oliver war froh, sich nützlich machen zu können. Er kniete auf dem Boden nieder und nahm, während der Gannef auf dem Tische saß, dessen Füße in seinen Schoß, und putzte ihm die Stiefel. Der Gannef blickte eine Weile gedankenvoll auf Oliver nieder und sprach dann halb für sich, halb zu Karl Bates: „Wie schade, daß er kein Ganove ist!“

      „Ach“, sagte Karl, „er weiß seinen Vorteil nicht auszunützen.“

      „Ich glaube, du weißt nicht einmal, was ein Ganove ist?“

      „Doch, ich glaube, ich weiß es“, versetzte Oliver hastig aufsehend. „Es ist ein Dieb. Du bist einer, nicht wahr?“ fügte er schüchtern hinzu.

      „Ja“, erwiderte der Gannef, „und ich bin stolz darauf. Ich bin ein Dieb, wir alle sind Diebe – Karl – Fagin – Sikes – Nancy – Betsy – bis auf den Hund hinunter, und der ist nicht der schlech­teste!“

      „Jedenfalls verrät er keinen“, fügte Karl Bates hinzu.

      „Warum gehst du eigentlich nicht bei Fagin in die Lehre, Oliver?“

      „Könntest dein Glück machen“, sagte der Gannef grinsend.

      „Und dich später mal als Rentier zurückziehen – ja, und wie ein Herr leben, wie ich es zu tun gedenke in dem nächsten vierten Schaltjahr, am zweiundvierzigsten Dienstage in der Trinitatiswoche“, fuhr Karl fort.

      „Es gefällt mir nicht“, sagte Oliver schüchtern, „ich wollte, man ließe mich fort. Ich – ich – möchte lieber gehen.“

      „Und Fagin möchte lieber, daß du bliebst“, entgegnete Karl.

      Oliver wußte das nur zu gut, er hielt es aber für gefährlich, noch weiter darüber

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